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Gern gesehener Gast

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Bereits seit einigen Jahren ist die Stimme von Julien Baker immer wieder auf Platten von Touché Amoré zu hören. Bereits auf “Stage Four” von 2016 gab es ein Feature mit ihr auf dem Song “Skyscraper”, vier Jahre später steuerte sie Backing Vocals für “Reminder” auf deren aktueller Platte “Lament” bei, der am Freitag auch live gespielt wurde.

Der Gastauftritt von Baker fand im Rahmen eines Sets statt, dass die Post-Hardcore-Band als Vorband von Deafheaven im The Novo in Los Angeles spielten. Noch bis Mitte Dezember geht deren gemeinsame Tour durch die Staaten, nächstes Jahr spielen Touché Amoré dann gemeinsam mit Citizen, Movement, No Pressure und Softcut einige Konzerte in Australien. Bereits für Januar hatte die Band vor einigen Monaten eine Geburtstags-Reissue ihres dritten Albums “Is Survived By” angekündigt, das eine komplett neu gemischte und gemasterte Version der 2013 veröffentlichten Platte sowie zahlreiches Bonusmaterial enthalten soll.

Touché Amoré sind nicht die erste Hardcore- beziehungsweise -Rockband, die sich über Bakers Unterstützung freuen kann: Bereits im August stand sie beispielsweise mit Turnstile auf der Bühne und war zuvor auf Alben von Fucked Up und The Armed zu hören. Auf einem Konzert ihrer Band Boygenius, in der sie gemeinsam mit Phoebe Bridgers und Lucy Dacus spielt, gab es außerdem einen Gastauftritt von Viagra Boys-Sänger Sebastian Murphy. Bakers neuestes Soloalbum ist “Little Oblivions” von 2021, aktuell ist sie aber vor allem mit Boygenius aktiv, deren Debüt “The Record” im März dieses Jahres erschien.

Himmel und Hölle

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Im Mai gaben die 1996 gegründeten Sum 41 ihre Auflösung bekannt: Für 2024 kündigten die Pop-Punks aber noch ein letztes Album zum Abschluss und eine Abschiedstour an. Jetzt gibt es endlich weitere Details zu der Platte mit dem Titel “Heaven :x: Hell” – sowie eine weitere Single, die nach dem bereits veröffentlichten “Landmines” ein Eindruck bietet, was beide Seiten des Doppelalbums bereithalten könnten.

Der zuletzt mit einer schweren Lungenentzündung kämpfende Frontmann Deryck Whibley beschrieb “Heaven” nämlich als “frühen Sum 41-Pop-Punk”, während “Hell” das “neuere, schwerere Sum 41” darstellen soll: “Wir haben ein Doppelalbum aus Pop-Punk und Metal gemacht, und das ergibt Sinn. Es hat lange gedauert, bis wir diesen Weg für uns geebnet haben, aber wir haben es geschafft, und er ist einzigartig für uns.”

“Rise Up” heißt der Song, und genau das tun Sum 41 samt Flugzeug-Besatzung in dem Video auch: sich erheben – lautstark mit Metal-Querverweisen. Der Song stammt von der härteren Seite “Hell”, das bereits veröffentlichte “Landmines” hingegen von “Heaven”.

 

Für das kommende Jahr sind Sum 41 als Headliner für das Hurricane & Southside, das Jera On Air und das Rock Werchter angekündigt. Zu Terminen ihrer Abschiedstour in Deutschland ist bisher nichts Genaueres bekannt.

“Heaven :x: Hell” erscheint am 15. März 2024 via Rise Records. Das Doppelalbum kann bereits vorbestellt werden.

Sum 41 – “Heaven :x: Hell”

“Heaven”
01. “Waiting On A Twist Of Fate”
02. “Landmines”
03. “I Can’t Wait”
04. “Time Won’t Wait”
05. “Future Primative”
06. “Dopamine”
07. “I Could Use Some Help”
08. “Bad Mistake”
09. “Johnny Libertine”
10. “Radio Silence”

“Hell”
11. “Preparasi A Salire”
12. “Rise Up”
13. “Stranger in These Times”
14. “Don’t Need Anyone”
15. “Over the Edge”
16. “House of Liars”
17. “You Wanted War”
18. “Paint It Black”
19. “It’s All Me”
20. “How the End Begins”

Dritte Bandwelle mit Deichkind, Turnstile & Idles

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Neben dem finalen Headlinerslot, der nun von Deichkind gefüllt wird, kündigen die Schwesterfestivals Hurricane und Soutside auch die Hardcore-Durchstarter Turnstile an. Die ebenfalls bestätigten Idles werden außerdem neue Musik am Start haben: Erst vergangenen Donnerstag veröffentlichten sie die neue Single “Grace”, die auch auf dem neuen Album der Briten, “Tangk”, zu finden sein wird, das am 17. Februar erscheint.

Auch mit dabei: Feine Sahne Fischfilet, die erst kürzlich ihre Live-Qualitäten auf der Platte “Alles Live, alles glänzt” festgehalten haben. An der Punk-Front bekommen sie Unterstützung von der Supergroup Me First And The Gimme Gimmes.

Indie-Fans dürfen sich dagegen etwa auf Tom Odell, Bombay Bicycle Club und I Don’t Know How But They Found Me freuen. Das Soloprojekt von Dallon Weekes veröffentlicht im Februar sein zweites Album “Gloom Division” und kommt damit erstmals seit 2019 wieder nach Deutschland. Ebenfalls neu angekündigt: Adam Angst, Danko Jones, The Subways und Silverstein.

Hurricane & Southside

Die Schwesterfestivals finden im nächsten Jahr vom 21. bis 23. Juni in Scheeßel und Neuhausen Ob Eck statt. Tickets gibt es in der aktuellen Preisstufe ab 259 Euro auf der Hurricane Webseite und ab 259 Euro auf der Southside Webseite.

Vorwürfe, Proteste, Karaoke

4. Februar

Nirvana erhalten einen Grammy für ihr Lebenswerk
Einen Tag vor der offiziellen Verleihung der “Musik-Oscars” beginnt das Jahr für Dave Grohl so richtig. Er und seine Foo Fighters hatten 2022 nicht nur den Verlust von Drummer Taylor Hawkins hinnehmen müssen, auch Grohls Mutter war gestorben. Zusammen mit seinen Nirvana-Kollegen Krist Novoselic und Pat Smear, der auch bei den Foo Fighters spielt, nimmt Grohl den Sonderpreis entgegen. Novoselic spricht in seiner Dankesrede von der Fanpost, die immer noch aus aller Welt käme, besonders von jungen Menschen: “Es gibt eine neue Generation von Nirvana-Fans, und dafür bin ich sehr dankbar.” 2023 ist auch für Nirvana ein wichtiges Jahr: Sowohl ihr letztes Album “In Utero” als auch ihr legendärer “MTV Unplugged”-Auftritt feiern 30-jähriges Jubiläum.


5. April

Statt Fred Durst singen Fans bei Limp-Bizkit-Show
Während Limp Bizkit musikalisch irrelevante Alben veröffentlichen, sind ihre Konzerte weltweit beliebt. Die Fans in der ausverkauften Frankfurter Jahrhunderthalle erleben ein besonders, nun, denkwürdiges: Nach drei Songs versagt Fred Durst die Stimme, da er die Show aber nicht abbrechen möchte, holt er nacheinander Sänger der Vorbands und Hardcore-Fans auf die Bühne. Die performen mit der Band mal mehr, mal weniger aushaltbar die alten Hits. Einige haben dabei sicher den größten Spaß ihres Fanlebens, andere sehen die Sache kritischer. Drei Songs vor Schluss betritt ein Fan die Bühne und beschwert sich, dass er für den Preis von satten 60 Euro Karaoke zu sehen bekäme – nur um hinterher selbst kurz bei “Rollin'” mitzukrächzen.


6. Mai

Frank Kozik ist tot
Mit Frank Kozik stirbt eine der prägendsten Figuren des VISIONS-Kosmos. Der US-Grafiker und -Labelmacher ist gerade mal 61 Jahre alt, als er sich das Leben nimmt. Wer unsere Heftgeschichte schon länger verfolgt, weiß von Koziks Artworks unserer CD-Reihe “The New, The Classic & The Unexplored”, aber auch von seinem Label Man’s Ruin, auf dem unter anderem Platten von Kyuss und Queens Of The Stone Age erschienen. Für Letztere gestaltet Kozik das Vinyl-Artwork ihres Debütalbums, danach arbeitet er auch für die Melvins oder The Offspring. Für noch mehr Bands entwirft er Tourplakate. Später konzentriert er sich auf sein Spielzeugunternehmen Kid Robot. Auch über ein halbes Jahr nach seinem Tod sitzt der Schock tief in den VISIONS-Reihen.

Wir bitten euch: Solltet ihr an Depressionen leiden und/oder sollten euch Suizidgedanken plagen, kontaktiert die Telefonseelsorge über die kostenlosen Hotlines 0800/1110111, 0800/1110222 oder 116 123. Die Deutsche Depressionshilfe ist werktags tagsüber unter 0800/3344533 zu erreichen.


26. Mai

Vorwürfe gegen Till Lindemann
Rammstein-Frontmann Till Lindemann wird sexualisiertes Fehlverhalten vorgeworfen. Auch Gewalt und der Einsatz von K.O.-Tropfen stehen im Raum. Auf die ersten Vorwürfe der Nordirin Shelby Lynn melden sich immer mehr mutmaßlich Betroffene. Es ist die Rede von einer Mitarbeiterin, die junge Frauen bei Konzerten “rekrutiert” haben soll, mit Lindemann Sex zu haben. Später behauptet eine Frau, als Minderjährige eine Affäre mit Lindemann unterhalten zu haben, auch Vorwürfe gegen Keyboarder Christian “Flake” Lorenz kommen auf. Mittlerweile sind die Ermittlungen gegen Rammstein und die Mitarbeiterin Alena Makeeva aus Mangel an Beweisen eingestellt. Derzeit tourt Lindemann erfolgreich solo, 2024 spielen Rammstein wieder großangelegte Shows.

 

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2. Juni

Die Foo Fighters spielen bei Rock am Ring
Am Veröffentlichungstag ihres elften Albums “But Here We Are” treten die Foo Fighters als Headliner bei Rock am Ring auf. Der Albumtitel ist Programm: 20 Songs lang, darunter ein Medley aus Devos “Whip It” und Nine Inch Nails‘ “March Of The Pigs”, schleudern Dave Grohl und Band ihr “Jetzt erst recht” als Amalgam aus Stärke, Wut und Trauer in die Eifel. Zuvor hatten sie Ende 2022 verkündet, nach dem Tod von Drummer Taylor Hawkins weitermachen zu wollen und im Mai als dessen Nachfolger den Routinier Josh Freese vorgestellt. Die triumphale Show bei Rock am Ring, bei der auch drei Songs von “But Here We Are” auf dem Programm stehen, gehört zu den ersten seit Hawkins’ Tod. Auch Grohls Tochter Violet steht auf der Bühne. Sie singt bei “Shame Shame” mit.


19. Juli

Vorwürfe gegen Justin Sane
Die New Yorkerin Kristina Sarhadi berichtet im Podcast “Enough” von einer Jahre zurückliegenden Vergewaltigung durch den Sänger einer Polit-Punkband. Sie nennt keinen Namen, doch anhand ihrer Orts- und Zeitangaben schließen Online-Spürnasen auf Anti-Flag-Frontmann Justin Sane (bürgerlich: Justin Geever). Sarhadis Schilderungen erhalten eine zusätzlich ungeheuerliche Note, weil das Image von Geever und seiner Band, die noch im Januar auf dem VISIONS-Abocover zu sehen war, auf Integrität und Aktivismus aufbaut. Kurz nach dem Upload der Podcast-Episode geben Anti-Flag ihre Auflösung bekannt. Die übrigen Bandmitglieder distanzieren sich von Geever, gegen den später zwölf weitere Frauen Vorwürfe erheben. Zuletzt hat Sarhadi Klage gegen ihn eingereicht.


2. August

Wacken säuft (fast) ab
Das Wacken Open Air verkündet einen vollständigen Einlassstopp. Zuvor gibt es bereits einen Anreisestopp für alle Kraftfahrzeuge, weil die “vertretbare Besucherzahl […] erreicht” sei. Die Entscheidung gründet auf der schwierigen Wetterlage: Das Festival sieht sich sintflutartigen Regenschauern ausgesetzt. Lediglich die Busse der Reisepartner dürfen auf das Festivalgelände. In Videonachrichten entschuldigen sich die Festivalgründer Thomas Jensen und Holger Hübner bei den Fans, die auch aus dem Ausland angereist sind. Noch während das Wacken Open Air läuft, wird bekannt, dass alle ungenutzten Tickets vollständig erstattet werden. Laut Festivalorganisation und Behörden sind wegen des Wetters dieses Jahr nur rund 60.000 Fans vor Ort.


3. November

Sleaford Mods brechen Konzert ab
Die Sleaford Mods brechen ihr Konzert in Madrid vorzeitig ab, weil wiederholt ein palästinensisches Kopftuch auf die Bühne geworfen wird. Nachdem die traditionelle Kopfbedeckung, die nicht erst seit dem am 7. Oktober wieder aufgeflammten Nahostkonflikt zu einem Symbol für das gegen Israel kämpfenden Palästina geworden ist, zum zweiten Mal auf der Bühne landet, verlässt Sänger Jason Williamson die Bühne. Im Nachgang twittert er: “Verlangt nicht von mir, bei einem Auftritt für etwas Partei zu ergreifen, von dem ich nicht wirklich Ahnung habe. […] Das Einzige, was ich wirklich über den Krieg weiß: Wie alle bin ich den verfrühten Tod leid; die Ermordung von irgendjemandem, ganz egal unter welchem beschissenen Glaubenssystem.”


3. November

Tom Morello plädiert für Waffenruhe
Nicht lange nach der abgebrochenen Show der Sleaford Mods setzt Tom Morello bei der Aufnahmezeremonie der Rock And Roll Hall Of Fame in New York ein Zeichen. Der Gitarrist von Rage Against The Machine (RATM) posiert nach der Laudatio von Ice-T auf die Band und nach seiner Dankesrede mit einem Zettel, auf dem “Ceasefire!” steht – “Waffenruhe!” Bereits zuvor, als Reaktion auf den Terroranschlag der Hamas und den anschließenden Angriffen der israelischen Armee, hatte Morello die beidseitige Verletzung von Kindern und Kriegsverbrechen im Allgemeinen verurteilt. Einen Tag nach Morellos Auftritt wird bekannt, wo RATM-Sänger Zack de la Rocha sich aufhält: in Washington auf einer Pro-Palästina-Demo, die ebenfalls eine Waffenruhe fordert.

 

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6. November

Dave Lombardo beehrt Bar, die nach ihm benannt ist
Metal-Legende Dave Lombardo stellt seine kolportierte Nahbarkeit mit Empire State Bastard (ESB) in Berlin unter Beweis. Nach der Show der Supergroup von Mike Vennart und Simon Neil im Privatclub besucht der Schlagzeuger zum ersten Mal die sechs Kilometer entfernte Bar “Ick koof mir Dave Lombardo wenn ick reich bin”. Inhaber Michael Pusch platzt förmlich vor Glück, als Lombardo und Vennart eintreffen. Zaungäste des historischen Ereignisses, bei dem Lombardo sogar Bier für alle Anwesenden zapft, sind VISIONS-Redakteur Jan Schwarzkamp und -Autorin Christina Wenig. Rund um die ESB-Show hat Jan Wind von Lombardos Plänen bekommen und Pusch getextet, er solle ab 23 Uhr auf jeden Fall in seiner Bar sein.

 

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Jahresrückblick 2023
Künstliche Intelligenz, echte Wut

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2023: Die Momente des Jahres – Vorwürfe, Proteste, Karaoke
  2. Jahresrückblick 2023: Künstliche Intelligenz – Now And Soon
  3. Jahresrückblick 2023: Genie oder Monster – Konflikt und Dilemma
  4. Jahresrückblick 2023: Die Lage der Musikbranche – Kaum verhüllte Wut
  5. Jahresrückblick 2023: Die 50 Alben des Jahres – Es müsste immer Musik da sein
  6. Jahresrückblick 2023: Blinddate – »Die Queens sind ein relativ neues Phänomen für mich«

Now And Soon

Bevor es losgeht, kurz eine technische Einordung: Bei der KI muss man zwischen zwei Arten der Künstlichen Intelligenz unterscheiden: Die “traditionelle” KI ist ein Werkzeug, das im Tonstudio, auf dem Laptop oder an anderen kreativen Orten dabei hilft, aufnahmetechnische oder visuelle Prozesse zu optimieren. Bei vielen Produktionen ist sie längst Standard, wobei die technischen Fortschritte die Einsatzmöglichkeiten ständig erweitern. Die “generative” KI dagegen ist ein System, das in der Lage ist, eigenständig Inhalte zu erschaffen: Texte und Musik, Bilder und Filme. Ob das dann Kunst ist, steht auf einem anderen Blatt. Fest steht: Noch stecken diese “generativen” Systeme in den KI-Kinderschuhen. Und: Sie benötigen Prompts, also Befehle und Impulse, die sie von Menschen bekommen. Ein Blick auf das, was KI in der Rockmusik schon heute leistet – und in naher Zukunft zu leisten vermag.

1. KI als Restauratorin

Der “letzte” Beatles-Song “Now And Then” war im November das massentauglichste Beispiel dafür, wie sich mit Hilfe von KI-Systemen alte Aufnahmen neu bearbeiten lassen. Das Team aus Neuseeland, aufgestellt von Filmemacher Peter Jackson, nutzte eine Methode, die aus einem Klang-Wirrwarr bestimmte akustische Elemente freistellt. Im Fall der Beatles gelang es dem Team, die auf Lennons Demotape nur leise zu hörende Stimme vom störenden Rest (Klavier, Brummen) zu trennen. Der Job der KI war es, zu lernen: Was in diesem Klangbild ist Lennons Stimme? Und was rundherum kann weg, damit die Stimme strahlen kann? Hört man “Now And Then”, wird klar: Das System funktioniert. Und zwar nicht nur bei den Beatles, sondern auch bei Nirvana: Bei den Liveaufnahmen, die Teil der großen Reissue zum 30-jährigen Jubiläum von “In Utero” sind, separierte die KI die Instrumente und den Gesang ebenfalls in so genannte Stems, sprich: von einer in zwei oder mehrere Tonspuren, sodass sie neu gemischt werden konnten.

🞂Blick in die Glaskugel:
Bands und Labels bieten “Alben in Einzelteilen” an, die Konsument:innen selbst per App mischen können – auf Wunsch mit lauteren Gitarren, ohne Percussion oder komplett instrumental. Selbst fürs Original nicht benutzte Spuren können additiv genutzt werden.


2. KI als Produktionstool

Das Kernelement einer guten KI ist es, Aufträge zuverlässig und rasend schnell auszuführen – und zwar selbst im Dickicht gigantischer Datenmengen. Genutzt wird diese Fähigkeit überall dort, wo bestimmte Prozesse standardisiert werden können. Der Fall ist dies etwa beim Mix und beim Mastering. Zwar wird jeder Experte sagen, es handele sich hier um ein Studiohandwerk mit individuellen Ansätzen, dennoch: Hat sich das Produktionsteam eines Albums auf Klangparamenter geeinigt, kann die KI den Job übernehmen, die Musik daraufhin zu mischen oder zu mastern. Das spart Zeit und Geld. Bei den Sessions selbst kommen derzeit besonders bei den Gesangsaufnahmen verstärkt KI-Tools zum Einsatz. So gibt es KI-Programme, die wenig ausdrucksstarkem Gesang mehr Volumen geben.

🞂Blick in die Glaskugel:
In der Branche heißt es, dass KI-Entwickler:innen derzeit in den legendärsten Studios unterwegs sind, um digitale Zwillinge von diesen Orten zu erstellen. Die Idee: Das KI-System lernt den Raumklang von Abbey Road oder anderen Studios, lernt die Effekte und Apparate, die dort angewendet werden, von Mischpulten bis zur Kopplung bestimmter Effektgeräte. So soll es möglich sein, sich via App von zu Hause aus virtuell in Traumstudios einzubuchen. Mit den Effektgeräten von J Mascis auf dem Abbey-Road-Pult aufzunehmen, dazu ein Schlagzeug mit der Mikrofonierung von Steve Albini? Es wäre möglich!


Ob jemals eine Künstliche Intelligenz beim Hurricane oder am Ring spielt? Als Headliner sicher nicht. Aber am frühen Nachmittag vielleicht schon.


3. KI als Kompositionstool

1975 entwickelte Brian Eno die Oblique Strategies, ein Kartenset mit mehr oder weniger obskuren “Aufträgen” an Musiker:innen, die das Ziel verfolgten, Kreativität anzustacheln oder Schreibblockaden zu lösen. Viele KI-Tools, die heute in Studios zum Einsatz kommen, erfüllen diesen Zweck – nur eben digital. Songwriter:innen, die mit ihren Texten nicht vorankommen, nutzen heute selbstverständlich ChatGPT. Bands, die musikalisch ins Stocken kommen, füttern das System mit der bisherigen Struktur und geben ihm Prompts, was nun zu machen sei: “Erstelle einen Super-Refrain.” – “Baue einen radikalen Bruch ein.” – “Entwickle eine komplett neue Passage.” Im Prinzip ist das der umgekehrte Ansatz der Oblique Strategies: Der Mensch gibt das Kommando, in der Hoffnung, dass die KI den Schaffensprozess aus der Sackgasse führt.

🞂Blick nach vorne:
Das I in KI steht für Intelligenz, was bedeutet: Das System lernt die Band kennen, die es benutzt. Es kann damit zu einem echten Partner werden, der anhand gesammelter Daten und smarter Prompts zum ehrlichsten und konstruktivsten Kritiker wird, den eine Band jemals hatte – weil es keinen Sinn darin sieht, sich bei den Künstler:innen einzuschleimen.


4. KI als Kreativhelferin in visueller Hinsicht

Schon jetzt revolutionieren KI-Systeme die Art, wie Bands ihre Kunst visuell präsentieren, ob in Form von Albumcovern, Videoclips (siehe Interviewkasten) oder mit Blick auf Liveshows. Ob bei Lichteffekten oder der Integration von Avataren: Die KI lernt, direkt auf das zu reagieren, was auf der Bühne passiert. Die Visuals werden nicht mehr vorprogrammiert, sondern entstehen im direkten Zusammenspiel mit dem Livegeschehen.

🞂Blick nach vorne:
Queen mit einem Hologramm von Freddie Mercury, das nicht nur “echt” wirkt, sondern auf das reagiert, was auf der Bühne oder auf von Seiten des Publikums passiert? So kann es kommen. Ob wir es nun gut finden oder nicht.

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Drei Albumcover aus 2023, bei denen KI zum Einsatz kam: Lil Yachtys “Let’s Start Here”, Rival Sons’ “Darkfighter” und The Hirsch Effekts “Urian”

5. KI als Streaming-Optimiererin

Zuletzt hat Streaming-Marktführer Spotify viel Geld für die Übernahme von Data-Service-Firmen investiert. Die Idee dahinter: Minütlich schenken die mittlerweile weltweit mehr als 570 Millionen Spotify-Nutzer:innen dem Anbieter unzählige Daten dazu, zu welcher Zeit sie an welchem Ort nach welcher Musik suchen und diese dann unter Umständen auch hören. Die Daten selbst sammeln Konzerne wie Spotify schon länger. Das Problem bisher: Es fehlt an Kapazitäten, diese Daten auch zu nutzen – es waren einfach zu viele. KI-Systeme sind in der Lage, selbst gigantische Mengen rasend schnell zu kategorisieren, zu gewichten und nutzbar zu machen. Die Folge: Die Empfehlungsalgorithmen werden sich deutlich verbessern.

🞂Blick in die Glaskugel:
Wer bei Instagram über sein neues Fahrrad prahlt, sollte sich nicht wundern, beim Musik-Streamingdienst “Bicycle” von Queen in der Playlist vorzufinden oder beim Videodienst die Dokumentation von Jan Ullrich: KI-Systeme verknüpfen alle verfügbaren Daten über Personen und Gruppen zu Bedarfsprofilen.


6. KI als Fake’n’Fun-Tool

Das KI-Oasis-Projekt Aisis erfindet Gallagher-Songs, ein System entwickelt den Fake-Nirvana-Song “Drowned In The Sun”, ein Tool integriert den künstlich generierten Gesang von Kurt Cobain auf die Instrumentalspuren von Blurs “Song 2” oder “Everlong” von den Foo Fighters, eine KI-Anwendung vermischt alle verfügbaren Parameter von Klassikern und kreiert den vermeintlich “perfekten Rocksong”: 2023 war das Jahr der KI-Spielereien. Jede von ihnen reichte für zwei Tage Internet-Fame und Diskussionen über Deep-Fake-Rock’n’Roll. Klar ist: Das sind erst die Anfänge. Klar ist aber auch: Das sind Spielereien.

🞂Blick in die Glaskugel:
Mit einem KI-Tool wird bald jeder seine Wunschstimme auf seinen Wunschsong packen können. Irgendwann im Laufe des Jahres 2024 wird die erste Band einen KI-Song veröffentlichen – und den Prank erst lüften, wenn alle darauf reingefallen sind.


7. KI als Künstlerin

Jede Art von Nutzmusik wird bereits heute in weiten Teilen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz generiert. Das betrifft etwa Musik für Yoga-Kurse, Hotel-Lounges oder Warteschleifen – sprich: das, was früher als “Muzak” galt, benannt nach dem Unternehmen Muzak, das diese Musik herstellte. Abseits der Nutzmusik ist die KI als Künstlerin vor allem in der Electro-Avantgarde ein Thema. Holly Herndon oder Brian Eno experimentieren damit.

🞂Blick in die Glaskugel:
Von einer generativen KI entwickelte Rock- und Popmusik wird sehr bald auf den Markt kommen. Dann wird man sehen, ob und wie sie sich dort behauptet. Gut möglich, dass ein KI-Song für den Sommerhit 2024 sorgt oder für Deutschland beim Eurovision Song Contest antritt. Ob jemals eine Künstliche Intelligenz beim Hurricane oder am Ring spielt? Als Headliner sicher nicht. Aber am frühen Nachmittag vielleicht schon. Ob jemals eine Künstliche Intelligenz beim Hurricane oder am Ring spielt? Als Headliner sicher nicht. Aber am frühen Nachmittag vielleicht schon.


Jahresrückblick 2023
Künstliche Intelligenz, echte Wut

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2023: Die Momente des Jahres – Vorwürfe, Proteste, Karaoke
  2. Jahresrückblick 2023: Künstliche Intelligenz – Now And Soon
  3. Jahresrückblick 2023: Genie oder Monster – Konflikt und Dilemma
  4. Jahresrückblick 2023: Die Lage der Musikbranche – Kaum verhüllte Wut
  5. Jahresrückblick 2023: Die 50 Alben des Jahres – Es müsste immer Musik da sein
  6. Jahresrückblick 2023: Blinddate – »Die Queens sind ein relativ neues Phänomen für mich«

Konflikt und Dilemma

Am Ende wird das Gerichtsverfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Die Frauen, die Rammstein-Sänger Till Lindemann der sexuellen Nötigung bezichtigen, können ihre Anschuldigen nicht beweisen – wie so oft in solchen Fällen. Dafür gelangen im Sommer eine Menge unappetitlicher Details an die Öffentlichkeit. Von einer Gehilfin ist da die Rede, die junge Frauen für Aftershow-Partys rekrutiert, von Drogen und Alkohol, mit denen diese Frauen gefügig gemacht worden sein sollen, von einer “Row Zero”, von der aus es direkt hinter oder unter die Bühne geht, wo Lindemann nach Oralsex verlangt haben soll.

Die Berichte beschreiben den Sänger als herrischen Machttypen, der offenbar gewillt ist, hier einige von ihm besungene und getextete BDSM-Fantasien in die Tat umzusetzen. Und zwar mit Frauen, die nicht nur wesentlich jünger sind als er, sondern ihm im Zweifel auch die Bewunderung von Fans entgegenbringen. Der Skandal zieht großes Medieninteresse auf sich, am Ende steht Aussage gegen Aussage. Lindemann dementiert, die Anwälte werden eingeschaltet, Genaues weiß man nicht. Viele Fans zeigen sich irritiert, andere – auch weibliche – eher beleidigt. Rammstein sind eine riesige Band, für deren Mitglieder nun auch auf die Unschuldsvermutung verwiesen wird. Während es vor Konzerten zu vereinzelten Protestaktionen kommt, ziehen die Verkäufe für Rammstein-Tonträger an. Für 2024 plant die Band eine große Europatour, das Gelsenkirchener Fußballstadion soll fünfmal hintereinander ausverkauft werden. So möchte man auch mal gecancelt werden.

Für das mutmaßliche Genie: Rammstein-Fans zeigen Zusammenhalt und Mittelfinger (Foto: Omer Messinger/AFP/Getty Images)

Auch wenn Rammstein sicher kein Fixstern im VISIONS-Kosmos sind, gibt es dort doch andere Künstler, die in jüngster Zeit mit ähnlichen Stories aufgefallen sind. Eine kleine Auswahl: Marilyn Manson, Ryan Adams, Win Butler (Arcade Fire), Jesse Lacey (Brand New), Mark Kozelek (Red House Painters, Sun Kil Moon), Ken Stringfellow (The Posies), Ian Svevonius (The Make-Up), Ethan Kath (Crystal Castles), Matthew Johnson (Hookworms), Ben Hopkins (PWR BTTM).

Und nicht zuletzt Justin Geever alias Justin Sane von Anti-Flag. Sein Fall mutet besonders verstörend an, schließlich standen er und seine Band während ihrer bisherigen Karriere explizit für die Art von Integrität, die Gewalt gegen Frauen und Machtmissbrauch in seinen unterschiedlichsten Formen anprangert. Nun gibt es mehr als ein Dutzend Frauen, die den Sänger des sexuellen Fehlverhaltens anklagen und dabei eine ganze Reihe von Anschuldigungen aussprechen. Seit Ende November ist der Fall von Kristina Sarhadi, die als erste ihr Schweigen brach, auch vor Gericht anhängig. Und Sarhadis Anwältin Dr. Ann Olivarius geht mit deutlichen Worten in die Offensive: “Ich prophezeie, dass man die Musikindustrie in fünf Jahren genau so betrachten wird wie die katholische Kirche oder die Pfadfinder – eine mächtige Gewalt, die Straftäter für Jahrzehnte befähigt und beschützt hat. ‘Sex, Drugs & Rock’n’Roll’ bedeutet in Wirklichkeit, dass etliche junge Frauen missbraucht worden sind. Die Bands hatten Handlanger, die das möglich gemacht haben, und Manager, die es verschleiert haben, weil so viel Geld davon abhing.”

Die tollsten, schönsten und charismatischsten Männer

Olivarius spricht damit einen kulturellen Konsens an, der spätestens seit den 60ern existiert und im Zuge der Rock’n’Roll-Mythologie zuverlässig romantisiert worden ist. Darin fungiert der männliche Rockstar als heißblütiger Outlaw und Libertin, der sich im Namen des Hedonismus lässig über soziale Normen hinwegsetzt, um nach eigenen Regeln zu leben – und Sex zu haben. Für die Sexpartnerinnen ist es mit der neuen Freiheit dagegen nicht besonders weit her. Joan Baez, die sich Mitte der 60er für ein paar Tage dem Beatles-Tross an der US-Westküste anschließt, berichtet anschließend von einem ausgesprochen nonchalanten Umgang der Fab Four mit jungen Frauen. “Sie haben ihre Leute rausgeschickt, um Groupies anzuschleppen, damit sie sich dann aussuchen konnten, mit wem sie, na ja, ‘abhängen’ wollen. Und diese armen Mädchen saßen dann unten und haben darauf gewartet, dass jemand sie auswählt. Sie haben nicht gesprochen, sie haben nicht mal gestrickt. Sie saßen bloß da in ihren kleinen Outfits, an denen sie Monate lang gearbeitet hatten und haben gewartet, dass es passieren würde. Und dass irgendwann ein Beatle käme, eine von ihnen erwählen und in seine Höhle schleifen würde.”

Die Beatles hören wenig später mit den Touren auf, für ihre Nachfolger beginnt der Rock’n’Roll-Exzess dagegen erst so richtig. In der Zeit vor dem Internet gefallen sich etliche Musikerbiografien mit lüsternen Anekdoten, die allen daheimgebliebenen Möchtegern-Rockstars schildern, mit welchen Ausschweifungen man davonkommt, wenn man 1972 Mitglied von Led Zeppelin oder The Who ist. Sex mit Minderjährigen steht dabei offenbar hoch im Kurs. Sogenannte Baby-Groupies wie Sable Starr oder Lori Mattix werden schon als 13-Jährige als Gespielinnen requiriert, wovon Iggy Pop bis heute ein Lied namens “Look Away” singen kann.

Lange Jahre leistet Mattix der Legende Vorschub, dass es für ein junges Mädchen nichts Schöneres gibt als von einem doppelt so alten Rockstar “flachgelegt” zu werden. “Wer würde nicht gerne von David Bowie entjungfert werden?”, fragt sie und beteuert: “Ich habe die großartigste Musik überhaupt erlebt. Ich durfte mit einigen der tollsten, schönsten und charismatischsten Männern der Welt zusammen sein. Ich bin in Limou­sinen und mit Polizei-Eskorte zu Konzerten gefahren. Werde ich das alles bereuen? Nein.” Ein bisschen Reue ist seitdem wohl doch dazu gekommen, schließlich wird Mattix im Zuge der #metoo-Bewegung anders zitiert. “Ich finde nicht, dass minderjährige Mädchen mit Typen schlafen sollten”, sagt sie. “Das würde ich mir für niemandes Tochter wünschen. Meine Perspektive ändert sich, je älter und zynischer ich werde.”

Wobei “zynisch” sicherlich nicht das richtige Wort ist, wenn man beschreiben möchte, was an Manipulation, Machtmissbrauch und Verführung Minderjähriger falsch ist. Rich­tiger liegt da schon die Medienwissenschaftlerin Rebecca Hains, die anlässlich solcher Aussagen anmerkt: „Es ist ein trauriges Zeugnis unserer Kultur, dass moderne Männlichkeit so überheblich und toxisch sein kann, dass wir immer wieder in die Position gebracht werden, gleichzeitig die Kunst zu lieben und den Mann hinter dieser Kunst zu hassen – für das, was er Frauen und/oder Kindern angetan hat.” Damit stellt sie eine Frage in den Raum, die inzwischen nicht nur manchen Rammstein-Fan beschäftigt, sondern auch diejenigen, die sich etwa bei Brand New und Anti-Flag nicht mehr sicher sind, ob sie die Musik dieser Bands weiterhin anhören wollen. Mit anderen Worten: Inwiefern lässt sich der Künstler von seinem Werk trennen? Und kann man in dieser Hinsicht gleichzeitig aufgeklärt verurteilen und unbescholten genießen? Genau dieser Frage möchte auch die Autorin Claire Dederer in ihrem Buch “Genie oder Monster” auf den Grund gehen. “Kritisches Denken muss vor der Liebe zum Kunstwerk das Knie beugen”, schreibt die US-Amerikanerin eingangs. “Wenn uns etwas anrührt, wer immer wir auch sind, dann müssen wir diesem Werk zumindest ein bisschen die Treue halten.”

Freifahrtscheine für Genies?

Wie genau diese Treue aussehen soll, ist dabei eine Frage, die sich Dederer gleich mehrfach stellt – und die alles andere als leicht zu beantworten ist. “Ein Kunstwerk zu genießen ist eine Begegnung zweier Biografien: die Biografie des Künstlers, die den Werkgenuss stören kann, und die Biografie des Betrachters, die vielleicht beeinflusst, wie er die Kunst in sich aufnimmt.” Und weiter: “Dieses Spannungsfeld zwischen dem, was ich als Frau durchgemacht habe, einerseits und der Tatsache, dass ich die Freiheit, die Schönheit, die Pracht und die Seltsamkeit großer Kunst genießen will, andererseits – das ist der Kern des Problems. Die Frage, die ich stelle, ist nicht philosophisch; sie ist emotional.” Für Dederer kann es deswegen auch keine universellen Antworten geben. Genau wie sie selbst müsse jeder für sich abwägen, wo die Grenze zwischen Toleranz und Ablehnung verläuft und wo dabei die eigenen moralischen Koordinaten verlaufen. Ihr Buch ist aber schon deshalb eine interessante Diskussionsgrundlage, weil es verschiedene Argumente durchleuchtet und problematisiert, die bei der Bewertung eine Rolle spielen. Eins davon ist der Geniebegriff, der ausgerechnet vom Publikum gerne bemüht wird, um das grenzüberschreitende Verhalten seiner Idole zu entschuldigen oder es sogar zu begründen.

“Vielleicht haben wir die Idee des Genies geschaffen, um zu rechtfertigen, wie sehr uns das Schlechte fasziniert”, mutmaßt Dederer. “Vielleicht lassen wir diese Künstler ganz bewusst unsere dunkelsten Fantasien ausleben – und wenn wir dem Spektakel den Stempel ‘Genie’ aufdrücken, müssen wir uns für unsere Faszination auch nicht schuldig fühlen.” Genau diese Faszination identifiziert sie als Merkmal einer diffusen Mitschuld im Internetzeitalter, der man sich womöglich auch nicht durch rechtzeitiges “Canceln” entledigen kann. “Das psychische Theater der öffentlichen Verurteilungen von Monstern kann auch als aufwendig inszenierte Ablenkungsstrategie gelesen werden: Hier gibt es nichts zu sehen, ich bin ja schließlich kein Monster. Aber schau dir doch mal den Kerl da drüben genauer an.” Ob nun Monster oder Genie – letzten Endes finden beide Phänomene innerhalb einer Gesellschaft statt, die weniger vom Schaffen einzelner Künstler geprägt ist als von machtvollen Unterströmungen von Kapitalismus und Patriarchat, die sich letztlich auch im Fankult zeigen.

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Foto: Stanton J. Stephens/Piper Verlag

»Diese Musiker – selbst diejenigen mit den glänzenden Indie-Heiligenscheinen – hatten unser Vertrauen gebrochen und uns mit unserer dummen Liebe zurückgelassen.«
Claire Dederer

Diese Problematik bleibt in ihrer Analyse nicht auf die Musikszene beschränkt, sondern erstreckt sich über den gesamten Kulturbetrieb. Dabei werfen auch Rassismus und Antisemitismus einen langen Schatten, wenn es darum geht, einen Künstler, eine Künstlerin oder zumindest ihr Werk zu verurteilen oder zu exkulpieren. Nie war das biografische Wissen größer und leichter verfügbar als heute, nie war der Affekt moralischer Entrüstung niederschwelliger. Dederer führt einen großen Teil dieser Entrüstung darauf zurück, dass das Publikum seinen Idolen mehr oder weniger unbewusst einen Vertrauensvorschuss einräumt, in dem sich auch eine emotionale Abhängigkeit spiegelt: die Sehnsucht nach einer inwendig heilen Welt, die wohl erst durch unsere unkomplizierte Bewunderung ins Leben gerufen wird. Entsprechend enttäuschend sind da Fälle wie die von Win Butler, Ryan Adams oder Mark Kozelek, Musiker, deren Songtexte immer für ihre vermeintliche Sensibilität gefeiert worden sind. Und deren Werte nun verraten worden sind. “Diese Musiker – selbst diejenigen mit den glänzenden Indie-Heiligenscheinen – hatten unser Vertrauen gebrochen und uns mit unserer dummen Liebe zurückgelassen”, so Dederer.

Die Macht der dummen Liebe

Als Reaktionen auf diesen Verrat kommen augenscheinlich viele infrage. Ablehnung und Wut auf der einen Seite, Nichtwahrhabenwollen und Rationalisieren auf der anderen. Selbst wenn der Fall – anders als vielleicht bei Rammstein – klar ist. Als “The Palace”, der neue Film von Roman Polanski, im Sommer in Cannes gezeigt wird, reagiert Festivalchef Alberto Barbera verschnupft auf Forderungen, das Werk zu boykottieren. “Ich verstehe nicht, warum man nicht zwischen der Verantwortlichkeit des Mannes und der des Künstlers unterscheiden kann”, sagt er. “Polanski ist 90 Jahre alt, er ist einer der wenigen immer noch tätigen Meister und hat einen außergewöhnlichen Film gemacht. Ich stehe fest auf der Seite derer, die in dieser Debatte zwischen Mensch und Künstler trennen können.” Der Mensch Roman Polanski hatte bekanntlich 1977 ein 13-jähriges Mädchen in den USA vergewaltigt und sich der Strafverfolgung durch eine Flucht nach Europa entzogen – bis heute. Der Künstler Roman Polanski durfte anschließend munter weiter Filme drehen und bekam 2002 sogar einen Oscar als bester Regisseur für sein Holocaust-Drama “Der Pianist” verliehen.

“Polanski wäre für den Zuschauer überhaupt kein Problem – nur ein weiteres Beispiel dafür, dass manche Männer eben schwarze Löcher sind –, wenn die Filme mies wären”, argumentiert Dederer in “Genie oder Monster” und bringt damit eine weitere unbequeme Frage ins Spiel. Sollte es tatsächlich so sein, dass wir auf irgendeiner Ebene die Schandtaten berühmter Männer und die Qualität ihres künstlerischen Werks miteinander verrechnen? Dass es eine verquere Form der Loya­lität gibt, die Künstler in Schutz nimmt, bloß weil sie Lieblingskünstler sind? Und bedeutet das, dass Polanski jetzt, wo “The Palace” von der Filmkritik einhellig als Desaster eingestuft worden ist, endlich reif für den Knast ist? Sicher ist nur, dass wir uns solche Fragen nicht von anderen Menschen beantworten lassen können – und auch nicht von Künstlern, egal wie sehr wir ihre Musik lieben oder wie engagiert sie sich geben. Wir müssen es selber tun. Und zwar gemeinsam mit allen, die es dabei zu schützen gilt.


Jahresrückblick 2023
Künstliche Intelligenz, echte Wut

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2023: Die Momente des Jahres – Vorwürfe, Proteste, Karaoke
  2. Jahresrückblick 2023: Künstliche Intelligenz – Now And Soon
  3. Jahresrückblick 2023: Genie oder Monster – Konflikt und Dilemma
  4. Jahresrückblick 2023: Die Lage der Musikbranche – Kaum verhüllte Wut
  5. Jahresrückblick 2023: Die 50 Alben des Jahres – Es müsste immer Musik da sein
  6. Jahresrückblick 2023: Blinddate – »Die Queens sind ein relativ neues Phänomen für mich«

Kaum verhüllte Wut

Mein Königreich für ein Ticket

In unserem Rückblick auf das Jahr 2022 in VISIONS 358 konnten wir festhalten, dass sich die Leichtigkeit, die die Livemusikbranche lange ausgemacht hat, verflüchtigt hat. Zu groß waren die Probleme um explodierende Kosten für Venues, Personal, Equipment und den daraus steigenden Preisen, Inflation und Post-Covid-Unsicherheit. 2023 brachte hier eine gewisse Stabilität: Die Tourabsagen “aus logistischen Gründen”, die sich 2022 noch häuften, sind weniger geworden, die Clubs dafür wieder etwas voller. Und große Stars füllen Arenen und Stadien nach wie vor mit Leichtigkeit.

Um die Preispolitik bei diesen Großveranstaltungen entbrennt dieses Jahr ein schwelender Konflikt neu. Im Zentrum: der US-Veranstaltungsriese Live Nation Entertainment, Robert Smith von The Cure und die Geschäftspraxis der “dynamischen Preisgestaltung”. Ähnlich wie bei Flugtickets oder auch Hotelzimmern richtet sich der Preis nach diesem im Sommer 2022 vom Live-Nation-Tochterunternehmen Ticketmaster ausgerollten Konzept nach der Nachfrage. Je mehr Leute bei Ticketmaster auf eine bestimmte Kategorie oder bestimmte Plätze klicken, desto teurer wird der Ticketpreis. Bei großen Acts wie Bruce Springsteen, den wiedervereinigten Blink-182 oder Popstar Taylor Swift gehen einige Tickets so für tausende US-Dollar weg. Im Fall von Swift schaltet sich Ende 2022 sogar die Justiz ein und ermittelt wegen Machtmissbrauch und unfairen Wettbewerbsbedingungen.

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Sagte undurchsichtigen Ticketgebühren den Kampf an: Robert Smith (Foto: Paul Bergen/Redferns/Getty Images)

Für ihre US-Tour 2023 kündigen The Cure an, Ticketmaster die dynamische Preisgestaltung untersagt zu haben, und durch personalisierte Eintrittskarten gegen sogenannte Scalper vorzugehen. Das sind Personen, die oftmals unter Zuhilfenahme von Bots ganze Ticketkontingente erstehen, um sie für ein Vielfaches weiterzuverkaufen. Als der Vorverkauf startet, verzichtet Ticketmaster zwar auf die dynamische Preisge­staltung, verdoppelt aber mit teils undurchsichtigen Gebühren den Ticketpreis. “Ich bin angewidert über das heutige Debakel mit den Ticketmaster-Gebühren”, findet Smith damals deutliche Worte. “Wenn ich eine schlüssige Antwort bekomme, werde ich es euch wissen lassen.” Zunächst hat der Aufschrei Erfolg: Ticketmaster erstattet Teile der Gebühren. Auch der Kampf gegen Scalper nimmt große Dimensionen an. Mehr als 7.000 Tickets werden auf nicht-verifizierten Wiederverkaufsplattformen ausfindig gemacht und anschließend storniert.

Dass eine gefragte Liveband wie The Cure ihre Machtposition nutzt, um Live Nation von unlauteren Geschäftspraktiken abzubringen, macht in den folgenden Monaten Schule. Auch Pearl Jam untersagen Ticketmaster die dynamische Preisgestaltung. Die Band verwendet erstmals “All-In-Preise”, was bedeutet, dass der auf Ticketmaster angezeigte Preis auch der volle Preis inklusive aller Gebühren ist. So sollen unangenehme Überraschungen beim Check-out vermieden werden. Bereits Mitte der 90er haben sich Pearl Jam aufgrund der zunehmenden Monopolisierung des Marktes auf einen Kampf mit Ticketmaster eingelassen. Zunächst über einen wenig effektiven Boykott, schließlich haben sie die Firma wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsgesetz verklagt. Gitarrist Stone Gossard und Bassist Jeff Ament haben damals sogar vor einem Komitee des Justizministeriums ausgesagt.

Zum Druck seitens The Cure und Pearl Jam räumt Live-Nation-CEO Michael Rapino ein: “Ich denke, dass wir als Branche wahrscheinlich besser reflektieren und uns Gedanken über die Zusammensetzung unserer Gebühren machen müssen.” Übertrieben findet er die Summen, die durch dynamische Preisgestaltung zustande kommen, aber nicht. Vielmehr spiegelten sie wider, welchen besonderen Stellenwert Konzerte haben, die ja immer noch preiswerter seien als ein Besuch von Disneyland, dem Superbowl oder den NBA-Playoffs. Dass Konzerte von absoluten Superstars Eventcharakter haben, ist zwar klar, eine gewisse Überschätzung des Marktes kann man Rapino allerdings unterstellen. Denn dass weltweit hunderte, wenn nicht tausende Bands in der Lage sind, auf Arena-Level Konzerte zu spielen, wird sich zwangsläufig ändern, wenn dreistellige Ticketpreise zum Standard werden. Teilweise sind sie das schon. Auch stellt sich die Frage, ob Arena-Konzerte seltenes Vergnügen sein müssen oder regelmäßiges Hobby sein dürfen.

In den USA dringt das Problem zwischenzeitlich in höchste Regierungskreise vor. Präsident Joe Biden erklärt im Sommer in einer Presseansprache: “Ab September wird Live Nation automatisch alle Preise im Voraus für alle Tickets für Veranstaltungen an mehr als 200 eigenen Veranstaltungsorten auflisten, wovon mehr als 30 Millionen Kunden profitieren werden, und wird den Kunden die Möglichkeit geben, einen Pauschalpreis für alle anderen auf seiner Plattform verkauften Tickets zu wählen.” Nur muss das “All-In-Pricing” von Nutzer:innen bewusst ausgewählt werden. Und zwar bei jeder einzelnen Suche.

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Foto: Matt Price

»Wenn man in der Kreativbranche arbeitet, soll man sich glücklich schätzen, dabei zu sein – nur um von Millionären und Milliardären abgezogen zu werden.«
Jeff Rosenstock

Darüber folgt ein Schlagabtausch zwischen der demokratischen Senatorin Amy Klobuchar und Live Nation. Die Firma argumentiert, dass das “All-In-Pricing” nur bei ihren eigenen Venues umgesetzt werden könne. Das sind nicht wenige, denn insbesondere in den USA hat Live Nation, die vergangenes Jahr einen Überschuss von fast 300 Millionen US-Dollar erwirtschaftet haben, die Livebranche im Würgegriff. Sie veranstalten Konzerte in Venues, die ihnen gehören, verkaufen Tickets über die eigene Plattform, lassen die Events von Firmen catern, die zur eigenen Unternehmensgruppe gehören. Gleichzeitig expandiert Live Nation, übernimmt oder kauft Anteile an immer mehr Clubs und Hallen und drängt auch auf den europäischen Markt – in Deutschland unter der Führung der ehemaligen Rock-am-Ring-Organisatoren Marek und André Lieberberg.

Aufgrund seiner Monopolstellung ist Live Nation bereits in der Vergangenheit wegen Verstößen gegen das Kartellrecht verklagt worden. Im Sommer schaltet sich das US-Justizministerium erneut ein. Laut Insidern befragen Mitarbeiter:innen des US-Kartellamts Venues und andere Marktteilnehmer zu den Praktiken von Live Nation. Kartellamtsdirektor Jonathan Kanter betont seinerseits, dass er es vorziehe, Kartellrechtsverletzern den Prozess zu machen anstatt Vergleiche zu schließen. Live Nation bestätigt die laufenden Ermittlungen schließlich im September. Eine Anklage ist bis dato noch nicht erhoben, am 20. November 2023 richtet ein Komitee des US-Senats allerdings eine Vorladung an Live Nation und Ticketmaster. Im Fall einer Anhörung müssen die Firmen interne Unterlagen offenlegen.

Alles für die Cuts

Hat man doch ein Ticket erworben und es in den Club, die Halle oder das Stadion geschafft, bemerkt man schnell die nächste negative Preisentwicklung: die des Merchandise (mehr zum Thema in unserer Reportage in VISIONS 366). Im November werden etwa beim Konzert von Queens Of The Stone Age in Düsseldorf T-Shirts nicht nur zum inzwischen zum Standard gewordenen Preis von 40 Euro verkauft, für Vinyl sind sogar 50 bis 75 Euro fällig, für limitierte Konzertposter 80 Euro. Bei ganz großen Namen sind die Preise häufig noch höher angesetzt. Auch beim Thema Merchandise fand sich Live Nation dieses Jahr inmitten von vieldiskutierten Entwicklungen wieder. Zugrunde liegt die Praxis der sogenannten “Merch-Cuts”, also des Anteils an den Einnahmen durch den Verkauf von Merchandise, den die Veranstaltungsstätten für sich selbst einbehalten – ähnlich wie bei Messeveranstaltungen, bei denen die Messe an jedem geschlossenen Deal beteiligt wird. Die Unzufriedenheit der tourenden Musiker*innen mit dieser Geschäftspraxis ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden, auch weil Tour- und Produktionskosten massiv anstiegen.

Die Anteile am Merchandise richten sich nach den Bruttoverkäufen und beginnen üblicherweise bei zehn Prozent, können aber häufig 25 Prozent betragen, manchmal sogar mehr. Bei einem Standard-Tourshirt einer größeren Band für 40 Euro gehen in so einem Fall zehn Euro direkt an den Veranstaltungsort. Von den übrigen 30 Euro werden Mehrwertsteuer, Herstellung und weitere Kosten abgezogen. Im ungünstigsten Fall bleiben so deutlich unter 10 Euro pro verkauftem Shirt für die Band selbst. Und selbstverständlich muss dieses Einkommen noch versteuert werden. Differenziert wird außerdem zwischen “harten” und “weichen” Gütern, also Textilien, wie Punkrocker Jeff Rosenstock in einem wütenden Post offenlegte. Die unterscheiden sich teils drastisch: Steuern und Anteile für “harte” Ware beliefen sich bei ihm auf höchstens zehn Prozent, für Textilien hingegen auf bis zu 25 Prozent. Diese Unterschiede führen so auch zu unterschiedlichen Preisen für das gleiche Produkt in unterschiedlichen Städten. “Es scheint, als wäre das jetzt die verdammte Regel”, kommentiert Rosenstock. “Wenn man in der Kreativbranche arbeitet, soll man sich glücklich schätzen, dabei zu sein – nur um von Millionären und Milliardären abgezogen zu werden, die dir ein möglichst kleines Stück des Kuchens geben, damit sie weiterhin Wachstum und Profite vorzeigen können.”

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Foto: Chris Bauer

»Es fühlt sich manchmal so an, als hätte man es mit der Mafia zu tun.«
Laura Jane Grace

Im Härtefall verdienen Venues also mehr am Merchandise als die Bands selbst. Bereits Mitte Februar ruft Architects-Drummer Dan Searle halbernst zum Streik auf: “Hallo Bands, wann werden wir streiken, um diese irrsinnigen Merch-Cuts loszuwerden? Oder vielleicht spielen wir nicht, bis wir einen Anteil der Bar-Einnahmen bekommen?” Die englische Progressive-Metal-Band Monuments gehört zu denen, die teilweise sogar auf ein Merchandise-Angebot verzichten. Bei einem Konzert in Athen beträgt die Konzession an den Club 18 Prozent, die Umsatzsteuer weitere 24 Prozent, nahezu die Hälfte des gesamten Verkaufspreises. “Unsere Fans sollten nicht die Zeche für die Anteile der Venues bezahlen, aber es ergibt für uns auch keinen Sinn [auf diese Weise] Geld zu verlieren”, kommentiert die Band und fordert die Fans auf, Merchandise stattdessen auf ihrer Website zu kaufen. Auch die Post-Metal-Institution Russian Circles und der mit Metal-Genregrenzen spielende Franzose Gautier “Igorrr” Serre stoppen bei einzelnen Konzerten den Merchandise-Verkauf. Noch deutlichere Worte findet Lochie Keogh, Frontmann der australischen Metalcore-Band Alpha Wolf, bereits bei einem Konzert 2022: “Jedes bisschen Geld, das ihr ausgebt, hilft. Vor allem, wenn diese dreckigen, verdammten Venues 20 Prozent von allen Bands nehmen, die heute Abend spielen, als würden wir sowieso nicht schon kaum Geld verdienen. Wenn ihr also Geld zum Ausgeben habt, scheißt auf die Bar, kauft ein Shirt.”

Diese Merchandise-Anteile sind an sich Verhandlungssache, Bands haben also die Möglichkeit, sie aus ihren Verträgen mit den Venues zu streichen. Damit laufen sie aber Gefahr, schlicht nicht mehr gebucht zu werden. Mehrere Bands berichten zudem davon, dass Venues trotz fehlender Absprache im Voraus versuchen, ihre ihnen angeblich zustehenden prozentualen Anteile einzufordern. Als Resultat versuchen Bands, darunter die englischen Post-Punks Dry Cleaning, ihren Merchandise-Verkauf in benachbarte Kneipen zu verlegen oder eigene Pop-up-Stores einzurichten. “Es ist Raub, der häufig dazu führt, dass Bands umsonst spielen”, macht Laura Jane Grace ihrem Ärger Luft. “Es fühlt sich manchmal so an, als hätte man es mit der Mafia zu tun.” Die Frontfrau von Against Me! startet Anfang Oktober eine Petition, um das Ende von Merch-Cuts auszuweiten.

Im September stellt Live Nation mit “On The Road Again” eine dreimonatige Initiative vor, mit der insbesondere kleinere Bands unterstützt werden sollen. In den Clubs, die zu Live Nation gehören, sollen Künstler:innen ihre gesamten Merchandise-Einnahmen behalten dürfen. Zudem erhalten sie neben ihren Gagen zusätzliche Gelder in Höhe von 1.500 US-Dollar für Sprit- und Reisekosten erhalten – auch wenn die Hälfte davon in Form von Shell-Tankstellen-Gutscheinen ausgehändigt wird. Für Bands, die in den letzten Monaten 2023 in den USA touren, ist das Programm tatsächlich ein Segen. Aber auch “On The Road Again” kommt mit einer Kehrseite. Einerseits erhöht sich damit massiv der Druck auf unabhängige Clubs, wie die die National Independent Venue Association (NIVA) kritisierte. Die können mit den großen Subventionen von Live Nation nämlich kaum konkurrieren: Bands, die sonst bei ihnen aufgetreten wären, spielen jetzt lieber im Live-Nation-Club. Andererseits zeigen sich tourende Bands irritiert, dass das Unternehmen nach wie vor die Merchandise-Verkäufe verfolgt – und sei es nur für die Steuerabschreibung. Rosenstock ging die Initiative hingegen nicht weit genug: “Soll ich jetzt feiern, dass ich nicht mehr ausgeraubt werde?”, schrieb er auf Instagram.

Was als Bezahlung für tatsächlich erbrachte Leistungen beim Merchandise-Verkauf begonnen hat, ist teils fast zu einer Art Schutzgelderpressung geworden. Es ist zwar richtig, dass ohne den Veranstaltungsort und das Konzert selbst die Bands kaum ihr Merchandise verkaufen würden. Umgekehrt ließe sich dann aber auch argumentieren, dass Bands an den Einnahmen der Bars beteiligt werden sollten. Denn ohne die Bands wären die Fans nicht vor Ort und würden Geld für Getränke ausgeben.

Umverteilung nach oben

Die Bedeutung von Merchandise-Einnahmen liegt größtenteils darin, dass mit Musik im klassischen Sinne – trotz des Vinyl-Revivals – kaum Geld zu verdienen ist. In der Streaming-Ära ist es zwar leichter denn je, Musik zu veröffentlichen, die Monetarisierung verläuft aber deutlich schwieriger. So schwierig, dass mache Bands gar hinschmeißen. Im November 2023 sind das die Bobby Lees. Die New Yorker Garage Punks legen auf unbestimmte Zeit eine Pause ein, auch weil sich weder auf Tour noch mit der Musik selbst genug verdienen lässt, um die Ausgaben zu decken. “Es ist verrückt, dass Leute heutzutage drei bis fünf Dollar für einen Kaffee ausgeben, aber nicht bereit sind, den gleichen Betrag für ein Album zu bezahlen das sie öfter hören, weil Streaming einen beschissenen Standard gesetzt hat, den die meisten akzeptiert haben”, schreibt die Band und deutet dabei insbesondere auf den Streaming-Platzhirsch Spotify: „Wenn größere Künstler:innen es ablehnen würden, dass ihre Musik fast kostenlos konsumiert wird, würde vielleicht etwas davon zu uns durchsickern und uns helfen.”

Zur gleichen Zeit nimmt Spotify, das 2023 über 800 Arbeitsplätze abgebaut hat, umfangreiche Veränderungen an Zahlungsmodell und Monetarisierung vor. Die sollten unter anderem der Bekämpfung von KI-generierten Inhalten dienen, gegen “betrügerische Inhalte” will das Unternehmen in Zukunft zudem Geldstrafen verhängen. Nichtmusikalische Inhalte müssen zudem eine Spieldauer von mindestens zwei Minuten aufweisen, um monetarisiert zu werden. Das steht im Kontrast zu den immer kürzeren Songs in der Pop-Welt – eine Entwicklung, die Streamingdienste wie Spotify erst befeuert haben.

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Foto: John Swab

»Wenn größere Künstler:innen es ablehnen würden, dass ihre Musik fast kostenlos konsumiert wird, würde vielleicht etwas davon zu uns durchsickern und uns helfen.«
The Bobby Lees

Bei Musik beträgt die Mindestdauer eines monetarisierbaren Stücks 31 Sekunden. Die größte Veränderung ist allerdings, dass eine Monetarisierung von Streaming-Inhalten erst ab eine Anzahl von tausend Streams innerhalb von zwölf Monaten stattfindet. Das bedeutet, dass die Künstler:innen hinter den am wenigsten gespielten 0,5 Prozent des Spotify-Angebots künftig leer ausgehen. Dadurch wird der Auszahlungstopf für die übrigen Künstler:innen zunächst deutlich größer. In den nächsten fünf Jahren will Spotify eine Milliarde Euro mehr ausschütten. Davon profitieren aber eben nicht nur, wie von Spotify kommuniziert, kleinere Bands mit mehr als tausend Streams, sondern genauso Superstars und Majorlabels mit Millionen von Streams, denn die gesamten Einnahmen werden prozentual nach Streams verteilt. Die Verluste für die untersten 0,5 Prozent halten sich in absoluten Zahlen in Grenzen. Tausend Streams auf einem Song entsprechen im Fall von Spotify einer Auszahlung von nicht mal vier Euro.

Ein Album mit zehn Songs, von denen keiner die tausend Streams knackt, bedeutet nach den neuen Monetarisierungsregeln, dass der Band eine Auszahlung von weniger als 40 Euro verloren geht. Diese 40 Euro gehen dann aber auch zusätzlich an Künstler:innen, die ohnehin schon mehr ausgezahlt bekommen. Das Problem liegt also vielmehr in der kolossalen Signalwirkung, die von dieser Änderung ausgeht. Nach der Maxime “Wer hat, dem wird gegeben”, wird damit allen kleineren Bands ein weiteres Mal suggeriert, dass sie für Streamingdienste keinen Stellenwert haben. Spotify erweckt hier den Anschein, dass die vielen kleineren Künstler:innen, die das Streamingangebot erst so umfangreich und divers machen, für ihr Geschäft irrelevant seien. Ein Trugschluss, denn es kann bezweifelt werden, dass Spotify im dritten Quartal 2023 einen Zuwachs von sechs Millionen zahlenden Nutzer:innen verzeichnet hätte, wenn ihr gesamtes Angebot nur aus den Diskografien der hundert populärsten Acts bestehen würde.

Dass kleinere Bands eher Geld an Spotify zahlen sollten, anstatt welches zu bekommen, hat das Unternehmen bereits kurz zuvor mit dem neuen Feature “Showcase” demonstriert und dafür entsprechende Kritik eingefahren. Denn mit “Showcase” bietet Spotify eine Empfehlung auf der Startseite gegen Bezahlung an, die an die “Pay To Play”-Praxis oder “Tour-Buy-ons” erinnert. Hierbei zahlen Bands, um in einem bestimmten Club oder als Support einer größeren Band auftreten zu dürfen. Wann genau die neuen Regelungen schließlich in Kraft treten, ist noch unbekannt. Der Änderung muss zudem der größere Teil der Rechteinhaber – also der Labels – zustimmen. Ob diese Änderungen zu einer ersten Zäsur der Streaming-Welt führen, ist nicht abzusehen, sie machen aber deutlich, dass Spotify Songs und Künstler:innen nicht gleich behandelt. An anderer Stelle zieht Spotify im November direkt die Reißleine. Nachdem das Parlament von Uruguay mit der “Rendición de Cuentas” (Rechenschaftslegung) ein neues Gesetz verabschiedet, das eine angemessenere Vergütung für Tonaufnahmen gewährleisten soll, kündigt der Streamingdienst an, seinen Service in Uruguay Anfang 2024 einzustellen.

Die letzte Bastion?

Wollte man Bands finanziell möglichst gut unterstützen, war in den vergangenen Jahren die Plattform Bandcamp die beste Anlaufstelle. In der Streaming-Ära ist Bandcamp die letzte große Bastion, in der der Erwerb von Musik eine tatsächliche Transaktion statt eines Abonnements ist. Der legale Handel mit MP3s und vergleichbaren Musikdateien ging so schnell wie er kam, aber auf Bandcamp blüht er immer noch. 80 bis 85 Prozent der Erlöse aus dem digitalen Musikverkauf gehen bei Bandcamp direkt an die Künstler:innen und Labels – weit mehr als bei anderen Plattformen. Einen guten Ruf erarbeitete sich die Firma außerdem mit dem regelmäßigen Bandcamp-Friday. Zu Beginn der Covid-Pandemie gestartet, um Künstler:innen in dieser Zeit zu unterstützen, gehen an diesen regelmäßig wiederkehrenden Terminen für 24 Stunden 100 Prozent der Einnahmen and Künstler:innen und deren Labels. Zudem etabliert sich Bandcamp auch mehr und mehr als Plattform für den Verkauf von Vinyl, Tapes und CDs sowie Merchandiseartikeln. Manche Bands bieten ihre gesamte Produktpalette exklusiv auf Bandcamp an.

Ob das künstlerfreundliche Modell von Bandcamp über das Jahr 2023 hinaus Bestand hat, wird diesen Herbst infrage gestellt. Ein Jahr nach der Übernahme der bis dahin unabhängigen Firma durch den Videospielhersteller Epic Games organisieren sich die Angestellten im März 2023 gewerkschaftlich. Zu dieser Zeit arbeitet Bandcamp daran, auch größere Namen, wie zuletzt Radiohead und Björk, auf die Plattform zu ziehen. Ein halbes Jahr später kündigt Epic Games an, 16 Prozent seiner Angestellten zu entlassen – insgesamt 870 Menschen, 118 von ihnen bei Bandcamp. Gleichzeitig verkauft Epic Games Bandcamp an die Business-to-Business-Musiklizensierungsplattform Songtradr. Die betont zwar, dass Bandcamp künstlerfreundlich bleiben soll und bietet der Hälfte der Mitarbeiter:innen neue Arbeitsverträge an, nicht aber dem Personal, das an der Bildung der Gewerkschaft Bandcamp United beteiligt gewesen ist. Die wird von Songtradr bis heute nicht anerkannt und reagiert mit einer Beschwerde vor der Bundesbehörde für Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Sie wirft Songtradr Diskriminierung aufgrund von gewerkschaftlichen Aktivitäten vor. Eine Petition, die Songtradr dazu auffordert, umgehend in Verhandlungen mit der Gewerkschaft zu treten, wird von Indie-Musikern wie Ted Leo (Ted Leo & The Pharmacists, The Both) und Damon Krukowski (Galaxie 500) geteilt. Deutlich drastischer kommunizieren die Mountain Goats mit ihren Fans: “Gott, es ist frustrierend. Bandcamp war durch und durch gut. Ihre Redaktion hat auf Jahrzehnte von offenem und unabhängigem Musikjournalismus-Wissen gebaut, um etwas Großartiges im Musikgeschäft zu machen. Stattdessen gibt es jetzt Songtradr. Mögen sie schlecht schlafen und mögen ihnen die Knochen schmerzen.”

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Bandcamp galt lange als künstlerfreundlichstes Musikportal – nach zweimaligem Besitzerwechsel und etlichen Entlassungen ist aber unklar, wie es weitergeht (Foto: Mx. Granger)

“In den vergangenen Jahren sind die Betriebskosten von Bandcamp deutlich gestiegen”, heißt es von Seiten des neuen Managements. “Es waren einige Anpassungen erforderlich, um ein nachhaltiges und gesundes Unternehmen zu gewährleisten, das seiner Gemeinschaft von Künstlern und Fans dienen kann.” Ein großer Knall bleibt bisher aus, laut ehemaligen Angestellten kämpft Bandcamp nun aber damit, mit drastisch reduzierter Belegschaft den Betrieb aufrecht zu erhalten. Fans befürchten zudem, dass sich Bandcamp nach der Übernahme, dem Stellenabbau und mit einer Shareholder-orientierten Unternehmensphilosophie negativ entwickeln wird. Facebook und X (vormals Twitter) lassen grüßen.

Lapidar gesagt lassen sich die meisten Probleme, mit denen die Branche 2023 konfrontiert sieht, folgendermaßen zusammenfassen: Große Firmen kriegen den Hals nicht voll. Natürlich gibt es ohne Geschäft kein Musikgeschäft. Aber sowohl die “dynamische Preisgestaltung” als auch die Merch-Cuts dienen der Gewinnmaximierung auf Kosten von Bands und Fans in einer zuletzt von Covid und Inflation gebeutelten Livebranche. Gleichzeitig sind die Entwicklungen bei Spotify und Bandcamp auch Symptom einer größeren Krise innerhalb der Internet- und Tech-Blase.


Jahresrückblick 2023
Künstliche Intelligenz, echte Wut

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2023: Die Momente des Jahres – Vorwürfe, Proteste, Karaoke
  2. Jahresrückblick 2023: Künstliche Intelligenz – Now And Soon
  3. Jahresrückblick 2023: Genie oder Monster – Konflikt und Dilemma
  4. Jahresrückblick 2023: Die Lage der Musikbranche – Kaum verhüllte Wut
  5. Jahresrückblick 2023: Die 50 Alben des Jahres – Es müsste immer Musik da sein
  6. Jahresrückblick 2023: Blinddate – »Die Queens sind ein relativ neues Phänomen für mich«

Es müsste immer Musik da sein

50

Donots Heut ist ein guter Tag

VÖ: 3. Februar | Label: Solitary Man
Donots - Heut ist ein guter Tag

Die Donots lassen ihrem Frust über die Schieflage der Welt auf ihrem Posi-Punk-Feuerwerk “Heut ist ein guter Tag” freien Lauf. Klingt widersprüchlich? Ist es auf den ersten Blick auch. Mit den Worten “Das ist der Weltuntergang” begrüßt Gitarrist Guido Knollmanns Tochter die Hörer:innen im Opener, was in Verbindung mit dem Albumtitel zunächst für fragende Blicke sorgt. Nach 14 Songs ist die Sache klar: Die Donots versuchen vor allem das Positive in der Misere zu sehen. Musikalisch halten sie an ihrem mittlerweile etablierten Punkrock-Grundgerüst fest und erschaffen einmal mehr Zeltplatz- und Festivalhymnen für jede:n, liefern mit Hunde los sogar ihren persönlichen Bonnie-&-Clyde-Moment mit Hymnencharakter. Insgesamt scheint es für die Ibbenbürener erst jetzt, im fast 30. Bandjahr, so richtig loszugehen: Nicht nur konnte “Heut ist ein guter Tag” Platz eins der deutschen Albumcharts erreichen, auch die Konzerte der anschließende Tour sind fast alle ausverkauft oder werden direkt in größere Hallen verlegt. Es scheint gerade nicht nur einige gute Tage für die Donots zu geben, schon eher stürzen sie von einem guten Jahr ins nächste.
Nicola Drilling


49

Slowdive Everything Is Alive

VÖ: 1. September | Label: Dead Oceans
Slowdive - Everything Is Alive

Kann man es eigentlich Karriereherbst nennen, wenn man quasi den ganzen Karrieresommer über verreist war? Mehr als 20 Jahre Pause liegen zwischen der ersten Inkarnation der Shoegaze-Helden Slowdive und ihrer Rückkehr 2017. Selten fühlte sich ein Revival aber so lebendig an. Dass Slowdive-Fans mit der Band gewachsen sind, zeigt sich auch daran, dass sie auf Konzerten nicht nach alten Hits krähen, sondern die Ohren für neue Songs spitzen. Die klingen auf “Everything Is Alive” sanfter als alles, was die Briten bisher in die Welt gesetzt haben – das verleiht dem Album eine reizvolle Brüchigkeit. Der Weltschmerz ist da plötzlich keine Teenager-Pose mehr, sondern nackte Erfahrung; die Erkenntnis der endlosen gezählten Tage. Neil Halstead und Rachel Goswell, enge Freunde seit Kindheitstagen, machen daraus einen Almanach in Molltönen, in dem Klangfarben schillern wie Herbstlaub, in dem die Aufmerksamkeit auf das Detail gerichtet ist und der Trost auf leisen Sohlen kommt. Wenn einem erst einmal der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit in die Knochen gefahren ist, blühen die Sinne wohl noch einmal auf und melden: Alles ist lebendig.
Markus Hockenbrink


48

The Gaslight Anthem History Books

VÖ: 27. Oktober | Label: Rich Mahagony
The Gaslight Anthem - History Books

Die Erwartungen sind hoch, neun Jahre nachdem Get Hurt erst enttäuscht und dann schnell herzlich egal wird. “Spider Bites”, der Opener von “History Books”, gibt eine gute Antwort darauf. “I love you forever/ Til the day that I don’t”, singt Brian Fallon an zentraler Stelle. Ein einfacher, aber schlauer Satz, der sich auch auf die Zuneigung zu einer Band beziehen lässt, vorgetragen mit einer Melodie, die klingt, als wäre sie schon immer da gewesen. Fertig ist der Ansatz, mit dem The Gaslight Anthem 2023 überzeugen können. Keine krampfhafte Neuerfindung. Keine konstruierten Hitversuche – oder will jemand ernsthaft Bruce Springsteens Strophe im Titelsong als ebendas abtun? Spätestens mit dem zweiten Hören wird klar: Fast alle der zehn Songs strahlen gleichzeitig Frische und Vertrautheit aus, auch weil sie quasi im ’59 Sound produziert sind, also rau und warm zugleich. Zwischen dem Punkrocker “Positive Charge”, der seinem Namen schon vor der ersten Strophe gerecht wird, und der genau richtig dick aufgetragenen Storyteller-Ballade “Michigan, 1975” fallen genug Songs ab, die sich live problemlos neben den Klassikern der Band einreihen werden.
Christian Wiensgol


47

Deichkind Neues vom Dauerzustand

VÖ: 17. Februar | Label: Sultan Günther
Deichkind - Neues vom Dauerzustand

Es könnte alles falsch sein. Clueso und Fettes Brot featuren, Floskeln in Endlosschleife legen (“Merkste selber”), Jodeln und Italo-Reggaeton – das liest sich potenziell krampfig. Neues vom Dauerzustand klingt stattdessen frisch, konzentriert und spielbereit. Eskalation und Feuilleton zu vermitteln ist für Deichkind Dauerzustand, die Herausforderung ist es, das auch im sechsten Anlauf seit Neuerfindung als Party-Performance-Kollektiv gewitzt wirken zu lassen. Die Tür stoßen ein paar Four-To-The-Floor-Brecher auf: “Delle am Helm” löst Electroclash und House in Dada auf, “Fete verpennt” feiert ranzigen Rave-Pop und “Mehr davon” schickt Fettes Brot tatsächlich mit einem Knall in die Rente. Dazwischen brilliert Kryptik Joe mit Laber-Jazz im nervös-monotonen “Kids in meinem Alter”, Porky nuschelt “Kein Bock” perfekt unmotiviert weg, Neumitglied Roger Rekless rollt auf einem ruckelnd-pfeifenden Dexter-Beat “Geradeaus” und am Ende beweisen Deichkind in “Wie denn?” mit Chipmunk-Gesang und hüpfenden Streichern, dass sie auch eine hervorragende Pop-Band jenseits von Electro und Rap sein können. Kurzum: Es ist andersrum, nämlich alles richtig.
Sebastian Berlich


46

Negative Blast Echo Planet

VÖ: 10. Februar | Label: Quiet Panic
Negative Blast - Echo Planet

Ein – Entschuldigung – Echo ging wahrlich nicht um den Planeten, als Negative Blast “Echo Planet” veröffentlicht haben. Manchmal ist das so bei Debütalben. Noch kennt keiner die entsprechende Band. Dabei sind die vier Musiker hinter Negative Blast keine gänzlich unbekannten, haben bereits in anderen Hardcore-Bands gespielt. Und sie haben Mario Rubalcaba am Schlagzeug. Der ist dank Hot Snakes, Off! und Earthless längst eine Legende – und spendet seiner neuen Band ein atemloses Trommelfeuer. “Echo Planet” reichen vier Zweiminüter auf der A- und vier auf der B-Seite. Kurz und schmerzhaft. Mag sein, dass Clowns und John Coffey mit ihren Alben das Spotlight 2023 auf sich ziehen. Negative Blast liefern jedenfalls genug Gründe, auch mal am Rand nachzusehen, da, wo das Licht abnimmt. Die Band dankt es mit einer Platte gänzlich ohne Längen und Füller. “Carbon Copy” etwa ist der beste The Bronx-Song seit Ewigkeiten. “King Of Vancouver” klingt wie Hot Snakes mit einem tollwütigen Köter hinterm Mikro. Trotz aller Wut wird sich da viel Melodie getraut. Überhaupt wird “Echo Planet” zum Ende hin immer stärker. Wie vielen Platten kann man das schon attestieren?
Jan Schwarzkamp


45

Unknown Mortal Orchestra V

VÖ: 17. März | Label: Jagjaguwar
Unknown Mortal Orchestra - V

Für gewöhnlich kommt ein Album, auf dem es viel zu entdecken gibt, mit einem gewissen Erarbeitungsaufwand daher. Nicht so bei Unknown Mortal Orchestras “V”. Ruban Nielson begibt sich hier auf Spurensuche in seiner Vergangenheit und nimmt in Hawaii die leichtfüßigste seiner Platten auf – obendrein ein Doppelalbum. Man kann ihm beim Entdecken zuhören, gelegentlich spüren, wie das Südseeparadies pulsiert, in einer Art mannigfaltigem Existenzialismus. Dabei neigt der Neuseeländer weder zur Beschönigung noch zum Kitsch. Die bittersüße Melancholie, die die Songs umspült, gleicht mehr einer unverstellten Reise in seine Kindheit als einer Reiseempfehlung. Nielson arbeitet klassisch, verschiebt wiederkehrende Motive durch die Instrumente, Stimmen und Tonlagen hindurch, reichert loungige Akkorde, ob auf Keyboards oder Gitarren, mit der entscheidenden Essenz Dissonanz an, woraus auch aus einem instrumentalen Stück wie “The Widow” tropischer Psychpop für den Vorder- statt für den Hintergrund entsteht. In den besten Momenten verfügt “V” über eine weltmusikalische Jovialität, die trotz der Artenvielfalt eines der angenehmsten Alben des Jahres abwirft.
Daniel Thomas


44

Crosses (†††) Goodnight, God Bless, I Love U, Delete

VÖ: 13. Oktober | Label: Warner
Crosses (†††) - Goodnight, God Bless, I Love U, Delete

Jede Menge Elektronik, knarzende Synthie-Beats, Wave und Dreampop – neun Jahre nach ihrem Debütalbum beweisen Crosses (†††), dass ihr Projekt kein einmaliger Versuch war, sondern dass sie die kühle Kunst der elektronischen Musik fantastisch beherrschen. Ohne Bassist Chuck Doom, der seit ein paar Jahren nicht mehr zur Band gehört, ist die Rollenverteilung eindeutig: Far-Gitarrist Shaun Lopez bastelt an seinen Synthesizern, Keyboards und Drumcomputern die Beats und Soundscapes, die als Basis für die Songs dienen. Deftones-Sänger Chino Moreno schreibt die Texte und singt über die kühlen Beats und Instrumentals, die noch düsterer ausfallen als auf dem Debüt. “Ghost Ride” etwa klingt verzerrt und mit seinem harten Beat ziemlich kaputt und wunderbar verstörend, und in “Last Rites” leidet Moreno mit kratziger Stimme zu kalten Synthesizern. Das Duo bündelt seine Stärken noch mal, arbeitet sie emotionaler und genauer heraus. Das Ergebnis sind verschachtelte Drums, Depeche Mode-Vibes, einige wenige warme Momente und zwei großartige Features: El-P von Run The Jewels in “Big Youth” und The Cures Robert Smith in “Girls Float † Boys Cry”.
Matthias Möde


43

The Dirty Nil Free Rein To Passions

VÖ: 26. Mai | Label: Dine Alone
The Dirty Nil - Free Rein To Passions

Vielleicht sind wir verwöhnt. Immerhin ist The Dirty Nil mal eben so der Hattrick gelungen: drei Mal in Folge hatten sie die Platte des Monats. “Free Rein To Passions” ist das vierte Album in acht Jahren. Da nutzt sich der Überraschungseffekt schon mal ab. Das wäre aber auch das Einzige, was sich beim Power-Trio aus dem kanadischen Hamilton abnutzt. Ihre Spielfreude, ihr Enthusiasmus, die Liebe zu großen Melodien und noch größeren Riffs ist es auf keinen Fall. Auch beim vierten Mal bietet die Band maximal lauten College-Rock, der zuvor die Power-Pop-Grundschule erfolgreich abgeschlossen hat. Luke Bentham singt wie ein junger Gott. Davon, dass er gerne ein “Nicer Guy” wäre – und hält sich mit “Blowing Up Things In The Woods” ein Hintertürchen offen, die Katharsis in der Zerstörung zu finden. Der Titel bedeutet übersetzt schließlich so viel wie, dass man seinen Leidenschaften keine Zügel anlegen sollte. Das tun The Dirty Nil mit ihrem dritten Bassisten, Sam Tomlinson, auf keinen Fall. Das macht schon der Opener “Celebration” klar. In dem setzt die Band die Welt in Flammen mit sattem Metal-Riffing. Weil’s geil klingt – auch auf Album Nummer vier.
Jan Schwarzkamp


42

Metallica 72 Seasons

VÖ: 14. April | Label: EMI
Metallica - 72 Seasons

Die Eleganz des Songwritings von “Master Of Puppets” wird die größte Metal-Band des Planeten nicht mehr erreichen, ebenso wenig die Effektivität des “Black Album”. Natürlich hat auch das elfte Album der Kalifornier wieder seine Längen, gerade im Mittelteil versackt einiges im Midtempo, mancher Part wirkt willkürlich. Lässt man diese erwartbaren Schwächen aber beiseite, bietet “72 Seasons” einige der packendsten Metallica-Songs seit mehr als 30 Jahren: Das zackige “Shadows Follow” oder “Room Of Mirrors” mit seinen Thin-Lizzy-Twin-Guitars sind echte Hits, “Lux Aeterna” mit seinem Motörhead-Drumbeat kommt so direkt auf den Punkt wie zuletzt “Hardwired”, wirkt aber viel unverkrampfter, und “Room Of Mirrors” entfacht im C-Teil Gitarrenharmonien, die an “Leper Messiah” oder “Sanitarium (Welcome Home)” denken lassen – bessere Referenzen kann es für ein Metallica-Album kaum geben. Zum guten Schluss nutzt das Finale “Inamorata” seine elf Minuten tatsächlich für echte Dynamik und erzeugt einen musikalischen Fluss, der die Überlänge des Songs locker rechtfertigt. Über alldem thront James Hetfields knurriger Gesang mit ungebrochenem Charisma und väterlicher Autorität.
Toby Schaper


41

Killer Mike Michael

VÖ: 16. Juni | Label: Concord
Killer Mike - Michael
.

Auf Platten wie “Michael” arbeiten Rap-Karrieren hin. Einflüsse und Erfahrungen verdichten sich zu einer reichhaltigen Erzählung um eine charismatische Persona – oft ist das Pulver dafür allerdings schon früh in der Karriere verschossen. Anders bei Killer Mike: Der hat gerade zehn Jahre damit verbracht, auf trockenen Beats mit EL-P zunehmend politische Sprüche zu klopfen. Für Privates war wenig Platz. Was am Ende von “RTJ4” aufbrach, fließt nun in Killer Mikes sechstes Soloalbum. Teils Beichte, teils Therapie, entfaltet “Michael” eine Biografie in 14 Tracks, die auch von Gesellschaft und Musik der Südstaaten erzählt. Wo “Run” gemeinsam mit Young Thug zu Orgeln und Trompeten nochmal den sozialen Aufstieg als Flucht erzählt, gehen “Slummer” und “Something For Junkies” bedrückend tief ins Detail. Es finden sich aber mindestens ebenso viele helle Momente, etwa wenn Killer Mike im Trash-Talk-Modus aus DJ Pauls Dirty-South-Sarg springt oder sich mit André 3000 und Future im Psych-Rap-Nebel verliert. Dass all das nicht zerfasert, sondern eine facettenreiche Geschichte ergibt, liegt am roten Soundfaden – und der staatstragenden Gravitas ihres Protagonisten.
Sebastian Berlich


Jahresrückblick 2023
Künstliche Intelligenz, echte Wut

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2023: Die Momente des Jahres – Vorwürfe, Proteste, Karaoke
  2. Jahresrückblick 2023: Künstliche Intelligenz – Now And Soon
  3. Jahresrückblick 2023: Genie oder Monster – Konflikt und Dilemma
  4. Jahresrückblick 2023: Die Lage der Musikbranche – Kaum verhüllte Wut
  5. Jahresrückblick 2023: Die 50 Alben des Jahres – Es müsste immer Musik da sein
  6. Jahresrückblick 2023: Blinddate – »Die Queens sind ein relativ neues Phänomen für mich«

»Die Queens sind ein relativ neues Phänomen für mich«

1

But Here We Are
Foo Fighters

Vom Album “But Here We Are”

Ian Shelton: Das ist eine meiner Platten des Jahres. Mit gefällt sie nicht komplett, aber gerade diesen Song hier und die Single “Under You” finde ich fantastisch. Es ist schön, Dave am Schlagzeug zu hören, und ich mag die emotionale Komponente der Platte, dass sie davon handelt, dass er seine Mutter und Taylor Hawkins verloren hat. Es ist selten in der Popmusik, dass du eine Platte mit so viel Bedeutung vorgesetzt bekommst. Aber ich mag die Foo Fighters eh. “The Colour And The Shape” hatte riesigen Einfluss auf Militarie Gun. Die Platte ist von vorne bis hinten perfekt. Wir haben übrigens Teile unserer Platte – den Bass, das Schlagzeug, die Akustikgitarren – in Daves Studio 606 aufgenommen. Ich spiele Daves zwölfsaitige Akustikgitarre auf vielen Songs.


2

Negative Space
Queens Of The Stone Age

Vom Album “In Times New Roman…”

Ein schroffer Groove. (Gesang setzt ein) Queens Of The Stone Age? Ich finde es bemerkenswert, dass man an Josh Hommes Stimme erkennt, welche Band es ist. Das strebe ich mit meiner eigenen Stimme auch an. Das ist ein nasty Gitarrenriff. “Nasty” ist eh das Adjektiv, das ich verwenden würde, um die meisten Songs der Band zu beschreiben. Da will man sein Stinkegesicht aufsetzen und “Uh” rufen. Die Queens sind ein relativ neues Phänomen für mich. Ich bin mit Punk und Hardcore aufgewachsen. Den allgegenwärtigen Musik-Mainstream ignoriert man da schon mal. Aber ich habe zuletzt angefangen, viel “Songs For The Deaf” zu hören. Die Singles kannte ich vom Videoclip-Schauen auf MTV und Fuze. Ich interessiere mich immer für die Hintergründe von Künstler:innen, deshalb habe ich mir Josh Homme angehört, wie er im Podcast “Blocks” von Comedian Neil Brennan über seine Traumata und Probleme redet. Das hat mich gereizt, mehr über Hommes Kunst zu erfahren. Das ist vielleicht kontrovers, weil ich weiß, dass er ein kontroverser Typ ist.


3

Crash Into The Weekend
The Hives

Vom Album “The Death Of Randy Fitzsimmons”

The Hives? Lass uns den Refrain abwarten. Oder kommt da keiner? Der Song ist in dieser Hinsicht nicht unbedingt stellvertretend für die Platte.
Ich mag aber die Handclaps und das Reduzierte.
Und das Riff ist schön punkig. Ich mag die Alben “Tyrannosaurus Hives” und “Veni Vidi Vicious” sehr. Vom neuen mag ich vor allem den Opener “Bogus Operandi”. Der ist eine richtig schöne Klatsche. Daran krankt dann auch ein wenig der Rest der Platte, weil der Opener so fantastisch ist. Mich würde interessieren, ob sie den Song zuerst oder zuletzt geschrieben haben. Sprich: Haben sie sich erst durch die ganze Platte gearbeitet, um am Ende bei “Bogus Operandi” anzukommen – oder hat der Song die ganze Sache in Gang gebracht? So oder so haben sie meinen höchsten Respekt, denn auch sie sind ja eine langsam ins Alter gekommene Band.


4

The Narcissist
Blur

Vom Album “The Ballad Of Darren”

Da hast du einen meiner liebsten Songs des Jahres rausgesucht.
Das habe ich vermutet, weil ich weiß, dass du großer Gorillaz- und Blur-Fan bist.
Mein ultimatives Lebensziel ist es, mich eines Tages irgendwie auf einen Gorillaz-Song zu schleichen. Aber dieser Song hier ist wundervoll. Ich liebe melancholische Songs – aber eben nicht in Moll. Traurige Songs in Dur sind mein Ding. Nicht dissonant, sondern immer schön auf der Dur-Skala. Wenn ich das hinkriegen würde, würde ich nur leise, melancholische Musik schreiben. Aber daran hätte wohl niemand Spaß.
Wie kommt es, dass du so großer Fan von Damon Albarns Bands bist?
Gorillaz waren eine meiner ersten Lieblingsbands. Das liegt vielleicht daran, weil sie als Cartoon-Band vermarktet wurden und so eine Anziehungskraft auf mich ausübten. Natürlich sind sie subversiv – und beeinflusst von so vielem, von Weltmusik über Punk und Britpop bis HipHop. Wäre ich je ein HipHop-Fan geworden, wären die Gorillaz nicht gewesen? Ich weiß es nicht. Als ich meine erste Gorillaz-CD bekommen habe, muss ich so zehn Jahre alt gewesen sein. Das hat mich geprägt, subversiv und für alles offen zu sein. Ich habe dann irgendwann “Song 2” von Blur gehört und dachte: Der Woohoo-Typ klingt wie der Sänger von den Gorillaz. So ist das eben mit meiner Generation: Wir haben Blur durch die Gorillaz entdeckt.
Wie alt bist du denn?
Ich bin 31.


5

Don't Stop
Angel Du$t

Vom Album “Brand New Soul”

(Singt sofort mit.) Ich freue mich, dass es die Platte in eure Top-50 geschafft hat. Militarie Gun gäbe es ohne Angel Du$t, ohne Justice Tripp und seinen Support, seine kreative Motivation wohl nicht. Wahrscheinlich würde es sogar einige weitere Bands nicht ohne ihn geben. Es ist schön, ihn mit der neuen Platte kreativ wachsen zu sehen. Diese Platte ist aber auch interessant, weil sie eine Art Rückblick ist, weil sie die verschiedenen Stile der bisherigen Angel-Du$t-Platten vereint. Einer dieser Songs etwa war geplant für das Debüt “A.D.”, aber ist einst nicht rechtzeitig fertig geworden und findet sich jetzt hier drauf. Dass er hier wieder aggressiver und schneller ist, aber gleichzeitig progressiv bleibt, macht die Platte so großartig.
“Pretty Buff” war überraschend, weil es eine Art akustische Hardcore-Platte ist. Und das ist nur ein Beispiel für viele Hardcore-Bands dieser Tage, die sich Elemente aus anderen Stilen borgen, um das angestaubte Genre aufzumöbeln.
Wenn man sich den Zeitraum 1977 bis 1982 anschaut, ging es im Punk auch nur um Weiterentwicklung und Wachstum. Danach stagnierte er, Spielweisen wurden traditionell oder schal. Was wir momentan sehen – und auch, wenn es en vogue ist –, ist, dass die Leute versuchen, einen neuen Sound zu kreieren, und das obendrein noch gut ankommt. Justice hat das schon immer gemacht. Wenn man “Big Kiss Goodnight” von Trapped Under Ice betrachtet, dann war das eine polarisierende Platte, weil sie nach vorne geschaut hat. Als die erste Angel Du$t erschienen ist, fragen sich die Leute, was zur Hölle das ist. Justice hat sich immer zur Zielscheibe gemacht und die Schüsse für alle anderen abgefangen, die in seinen Fußstapfen folgen. Also all diejenigen, die etwas Neues versucht haben, nachdem er es zuerst getan hat. Er ist der Tastemaker, die vielleicht einflussreichste Einzelperson im Hardcore von den frühen 2000ern bis heute.


6

Honed Blade
Gel

Vom Album “Only Constant”

Ich habe Convulsed Records dabei geholfen, dieses Album zu veröffentlichen. Ich mache für die ein wenig A&R-Arbeit, helfe, Projekte anzustoßen, liefere Ideen. Die Gel-Platte ist fantastisch. Auf unserer allerersten Tour sind Gel für zwei, drei Shows aufgesprungen. Damals waren sie eine kleine Hardcore-Band. Sie jetzt zu sehen, wie sie weltweit bekannt werden, ist spannend. Die sind durch und durch Hardcore und würden es niemals in Erwägung ziehen, einen Song aufzunehmen, in dem nicht geschrien wird. Sie streben es gar nicht erst an, progressiv zu sein. Sie wollen nur Punk-Songs schreiben. Diese Attitüde macht Punk für mich aus. Ich liebe diese Band.


7

Hard To Love
Bully

Vom Album “Lucky For You”

Ich versuche mich gerade an einem Remix dieses Songs. Wir werden mit Militarie Gun übermorgen einen Song mit Bully veröffentlichen. Ich hatte also gehofft, dass sie auf der Liste ist. Lucky For You ist meine liebste Platte des Jahres. Alles daran ist toll: der Charakter, die Melodien, die Haltung… Ich entdecke immer wieder neue Songs darauf, in die ich mich schwer verliebe. Mein liebster ist der letzte, das punkige “All This Noise”. Aber bevor ich den ins Herz geschlossen habe, hatte ich mich in die erste Hälfte der Platte verliebt. Als wir mit Militarie Gun angefangen haben, hatte das erste Bully-Album einen großen Einfluss auf uns, zu der Zeit habe ich den Song “Ain’t No Flowers” geschrieben. Es ist ein echtes Privileg, dass unsere Musik mittlerweile Kolleg:innen erreicht, die wir schätzen – und wir am Ende miteinander kooperieren können, so wie jetzt mit Bully für “Never Fucked Up Twice”.



Jahresrückblick 2023
Künstliche Intelligenz, echte Wut

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2023: Die Momente des Jahres – Vorwürfe, Proteste, Karaoke
  2. Jahresrückblick 2023: Künstliche Intelligenz – Now And Soon
  3. Jahresrückblick 2023: Genie oder Monster – Konflikt und Dilemma
  4. Jahresrückblick 2023: Die Lage der Musikbranche – Kaum verhüllte Wut
  5. Jahresrückblick 2023: Die 50 Alben des Jahres – Es müsste immer Musik da sein
  6. Jahresrückblick 2023: Blinddate – »Die Queens sind ein relativ neues Phänomen für mich«

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