0,00 EUR

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

Start Blog

Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl

4. Februar: Das saß

Bei der 66. Grammy-Verleihung räumen vor allem Bands mit Frauenanteil ab. Paramore etwa erhalten als erste Band mit einer Sängerin überhaupt den Preis für das beste Rockalbum, während die Supergroup Boygenius für die beste Rock-Performance, den besten Rocksong und das beste Alternative-Album gekürt wird. In Rahmen der Veranstaltung findet Boygenius-Mitglied Phoebe Bridgers deutliche Worte für Neil Portnow, der 2018 in die Kritik geraten war, nachdem er gesagt hatte, dass Frauen sich einfach mehr anstrengen sollten, wenn sie auch Musikpreise gewinnen wollen: “Ich weiß, dass du noch nicht tot bist”, so Bridgers an den ehemaligen Grammy-Chef gerichtet, “aber wenn du es bist, verrotte in Pisse.”


30. Juni: Mehr als akzeptabel

Als Idles beim Glastonbury-Festival spielen, wird zum Pro-Immigrationssong “Danny Nedelko” im Publikum ein aufblasbares Boot mit als Migranten verkleideten Attrappen “zu Wasser gelassen”.  Hinter der Aktion steckt der Streetart-Künstler Banksy, der damit die Einwanderungspolitik von Ex-Premierminister Rishi Sunak kritisieren will. Später taucht das Schlauchboot auch beim Set von Rapperin Little Simz auf. Der britische Außenminister James Cleverly nennt die Aktion im Nachgang “abscheulich und inakzeptabel.” Banksy reagiert: “Das echte Boot, das ich finanziere, die MV Louise Michel, rettete […] 17 unbegleitete Kinder aus dem zentralen Mittelmeer. Zur Strafe haben es die italienischen Behörden in Gewahrsam genommen – was ich für abscheulich und inakzeptabel halte.”


26. Juli: Es wird gut

Gojira sind Teil der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Paris. Die Metal-Band aus Ondres in Aquitanien spielt das Kampflied “Ah! Ça ira”, das zu Zeiten der Französischen Revolution geschrieben wurde. Dabei unterstützt sie die französisch-schweizerische Opernsängerin Marina Viotti. Die kurze Show ist spektakulär: Als Kulisse dient die mittelalterliche Conciergerie, ein ehemaliges Gefängnis, dazu gibt es Feuerwerk und eine Schauspielerin tritt als enthauptete Marie Antoinette auf. Viotti fährt gegenüber der Band auf einem Boot auf der Seine vorüber. Schwer zu glauben, aber wahr: Damit sind Gojira die erste Metal-Band, die die Olympischen Spiele miteröffnet. Das darf Schule machen.


27. August: Definitely!

Oasis geben ihre Reunion bekannt. Nach 15 Jahren Bruderzwist haben sich Noel und Liam Gallagher offenbar vertragen: “Die Waffen sind verstummt”, so das Statement. “Die Sterne haben sich ausgerichtet. Das große Warten ist vorbei. Kommt und seht selbst.” Auf den Ankündigungspostern sind zunächst nur die Brüder zu sehen, Gerüchten zufolge sollen aber auch Gründungsgitarrist Paul “Bonehead” Arthurs, Gem Archer, Andy Bell und Zak Starkey dabei sein. Die Tour startet am 4. Juli 2025 in Cardiff und führt die Band im Laufe des Jahres um die ganze Welt. Darauf folgt eine für News-Outlets wahre Wonne an Meldungen, unter anderem zu teuren Tickets und einem möglichen neuen Album. 2025 wird unterhaltsam, allein schon wegen Oasis.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Oasis (@oasis)


05. September: Wiederbelebung

Emily Armstrong tritt erstmals als Linkin Park-Sängerin auf. Die neu formierte Band spielt eine live gestreamte Show im Studio 30 auf dem Gelände der Warner Studios in LA, im Publikum befinden sich nur geladene Mitglieder des offiziellen Fanclubs. Mit dem Erscheinen von Armstrong zu Beginn der zweiten Strophe der Comeback-Single “The Emptiness Machine” bewahrheiten sich Gerüchte, die aufgekommen waren, weil sich einige Wochen im Vorfeld unter anderem Orgy-Frontmann Jay Gordon in einem Interview verplappert hatte. Weil Armstrong, zuvor bei der Band Dead Sara aktiv, offenbar Verbindungen zur Sekte Scientology und Sexualstraftäter Danny Masterson hat, läuft das Internet ebenso auf Hochtemperatur wie rund um die Oasis-Reunion. Dem Erfolg des neuen Albums “From Zero” tut das keinen Abbruch: Weltweit erobert es die Charts, während die angekündigten Konzerte blitzschnell ausverkaufen.


13. September: Unrühmlich

Während eines Auftritts in Boston boxt Jane’s Addiction-Sänger Perry Farrell Gitarrist Dave Navarro auf offener Bühne. Farrell ist offensichtlich alkoholisiert, die Show und die restliche Tour der Alternative-Rock-Veteranen werden abgebrochen. Das Trara in der Folge ist groß: Farrell entschuldigt sich, seine Frau Etty versucht den Vorfall zu erklären. Der Rest der Band gibt sich zerknirscht, es meldet sich ein Gitarrentechniker mit unschönen Details, wie es hinter der Bühne weiterging. Martyn LeNoble, Gitarrist von Farrells anderer Band Porno For Pyros, bezeichnet den Sänger in einem Statement als den schlimmsten Frontmann, mit dem er je gearbeitet hat, und Etty Farrell als furchtbare Person. Was dabei leider in den Hintergrund gerät: die guten bis sehr guten neuen Songs “Imminent Redemption” und “True Love”.


13. Oktober: So long and thanks

NOFX spielen ihr letztes Konzert. Rund zwei Stunden spielen Fat Mike, Eric Melvin, El Hefe und Smelly in Los Angeles, mit dabei bei der historischen Begebenheit sind Wegbegleiter wie Tim Armstrong (Rancid), Nate Albert (ehemals The Mighty Mighty Bosstones), Brett Gurewitz, Jay Bentley (beide Bad Religion), Dexter Holland (The Offspring), Chris Shiflett (Foo Fighters) und Fletcher Dragge (Pennywise). Seit 2023 war die Abschiedstour von NOFX gelaufen und hat 73 Shows umfasst, rund 16.000 Besucher:innen sehen sich den finalen Auftritt live an. Mit dem endet eine 41-jährige Punk-Erfolgsgeschichte mit legendären Songs und Alben, die nicht nur für den VISIONS-Kosmos prägend sind, auch was künstlerische Unabhängigkeit betrifft. NOFX haben immer nach ihren eigenen Regeln gespielt hat, waren nie auf einem Major-Label und haben mit Fat Wreck Chords den Weg für viele weitere Bands geebnet.


05. November: 2016 again

Donald Trump wird zum zweiten Mal zum US-Präsidenten gewählt, die Bestürzung unter Bands und Musiker:innen ist groß. Jack White fasst zusammen, was man in den kommenden Jahren im Gedächtnis behalten sollte: “Die Amerikaner haben einen bekannten, offensichtlichen Faschisten gewählt, und jetzt wird Amerika bekommen, was immer dieser Möchtegerndiktator von nun an verordnen will. Wir wissen alle, wozu er fähig ist: Project 2025, Abschiebungen, landesweites Abtreibungsverbot, Aufhebung seiner eigenen Amtszeitbeschränkung, Unterstützung für Putin und seinen Krieg, Schließung des Bildungsministeriums, Verschärfung des Klimawandels, Einschränkung der Rechte von LGBTQ.” Mit Galgenhumor versuchen es die Donots: “Zumindest sind die nächsten vier Jahre Kopfschütteln über den orangen Maulwurf gutes Satire-Futter und beste getriebene Subkultur-Musik gesichert. Putting punk back into punk.”

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Jack White (@officialjackwhite)

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von DONOTS (@donotsofficial)


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

Alte Penner, neue Stimmen

Kann ein Handschlag eine popkulturelle Bewegung stoppen? Er kann. 30. Juli 1997, Labour-Kandidat Tony Blair hat mit seinem Konzept von “New Labour” (Sozialdemokratie plus Neoliberalismus) die Wahl gewonnen und wird als britischer Premierminister eingeführt. Nach 18 Jahren Tory-Regierung, die meisten davon unter der lähmenden Regentschaft der “Iron Lady” Margaret Thatcher. Die Insel atmet auf, man lässt frische Luft hinein. Etwa in Person des im Sommer 1997 größten Pop-Songwriters, Gitarristen und Teilzeitsängers des Königreichs: Noel Gallagher ist einer der Gäste bei Blairs Einführung. Als Stellvertreter für “Cool Britannia”, wie Marketingleute die Britpop-Bewegung nennen, die seit 1994 die britische und zu gewissen Teilen auch die kontinentaleuropäische Rockwelt dominiert. Es kommt zum fatalen Handschlag zwischen der großen Politik und Britpop: Der neue Premierminister lächelt selig, Gallagher spöttisch, im Hintergrund schaut Alan McGee, Boss des Labels Creation, skeptisch, vielleicht ahnend, was da kommen wird. Die anderen Gäste wundern sich, dass dieser Gallagher aus Manchester entgegen dem Protokoll keine Krawatte trägt.

Wenige Jahre später steht Blair bedingungs­los an der Seite des US-Präsidenten George W. Bush und führt das Königreich in widersinnige Kriege, als gelte es, den ramponierten Ruf der alten Imperialmacht zu untermauern. Und Oasis? Veröffentlichen ein Album mit dem Titel “Standing On The Shoulder Of Giants”, mit Songs wie “I Can See A Liar”, “Put Yer Money Where Yer Mouth Is” und “Fuckin’ In The Bushes” – sowie “Little James”, das Liam Gallagher für seinen kleinen Sohn schreibt. Cool Britannia und New Labour? Alles Lüge! Am 30. Juli 1997 wird Britpop zu Grabe getragen. Doch wie das mit Musikgenres und popkulturellen Trends nun einmal ist: Sie kommen wieder. Mal als Zombies, mal sehr lebendig. Oft als Mischung aus beidem. 2024 traf es Britpop.

Dawn of the dead

Der Zombie-Faktor? Nehmen wir Blur. Die spielen 2024 beim Coachella-Festival und treffen dort, anders als in London oder Tokio, auf ein gelangweiltes, wenig verständnisvolles und schon gar nicht textsicheres Publikum. Woraufhin Sänger Damon Albarn genervt von der Bühne plärrt: “Ihr werdet uns nie wieder sehen, also könnt ihr genauso gut mitsingen!” Als wenn es daran läge. Gitarrist Graham Coxon hält später in einem Interview über den Trip in die südkalifornische Wüste beinahe beleidigt fest: “Da dauert es 14 Stunden, bis man da ist, und dann spielt man vor Leuten, denen man scheißegal ist. Die schauen einen an, als wollten sie sagen: Wer ist dieser alte Penner?”

Was für alte Penner Blur sind, belegt auch die Banddokumentation “To The End”, die im Herbst in ausgewählten Kinos läuft. Zu sehen sind Wohlstandsherren Mitte 50, die ausgesorgt haben und sich doch noch einmal aufraffen, um die Band zurück auf die Bühne zu bringen und ein neues Album aufzunehmen. Die Platte “The Ballad Of Darren” ist toll. Dem Film hilft das wenig. Vor allem, weil er in sehr vielen Einstellungen Albarn und Bassist Alex James als zwei Dandys wie aus einer Werbung für eine Altersvorsorge zeigte. Mit Wampen, Wollpullis, Wollmützen und Kaffeebechern am Meer, in das sie am Ende natürlich hineinspringen. Wer diese Szenen sieht, hat Verständnis dafür, dass junge Leute aus Kalifornien nicht unbedingt ausflippen, wenn diese Typen vom “Death Of A Party” singen oder eine “Popscene” beschreiben, wie sie vor 30 Jahren existiert hat. Was man aber auch sagen muss: Für nostalgisch getrimmte Hörer ist das 2024 veröffentlichte Konzertalbum “Live At Wembley Stadium” ein großes Vergnügen. Und Blur bleiben eine tolle Band. Sie sollten nur nicht mehr in der Wüste spielen und Dokus über sich drehen lassen.

Die Blur-Shows im altehrwürdigen Londoner Stadion dürften einer der Gründe sein, warum oben in Manchester zwei Brüder endlich wieder zusammenfinden: 2024 entscheiden sich die Gallaghers, 2025 als Oasis zurückzukommen. Das Jahr über haben sie nicht viel mehr gemacht, als eine Fotosession über sich ergehen zu lassen und ein paar Social-Media-Beiträge abzusetzen.

Plus: Es erscheint Liam Gallaghers Album mit Stone-Roses-Gitarrist John Squire, eine Platte, die zweifellos ihre Längen, mit “Mars To Liverpool” aber auch einen der besten Songs des Jahres an Bord hat. Wie hoch die Fallhöhe für Oasis im kommenden Jahr sein wird, zeigen ein paar Randereignisse mitten aus dem Reunionrausch. Ende November melden Oasis für einen Montagmorgen eine “große Ankündigung” an – “big for Oasis fans!” Ein neuer Song? Ein Album gar? Am Ende geht es um die Verlosung von zwei (!) Tickets. Das Credo im Netz: die schlimmste Ankündigung aller Zeiten.

Zuvor hat es für die Band und ihr Management bereits Ärger gegeben, weil sie sich nicht im Vorfeld gegen die Preisgestaltung des Kartenverkäufers Ticketmaster gestellt haben: Schien es über Jahre so gewesen zu sein, als würden sich die Fans bei den virtuellen Prügeleien um Tickets so ziemlich alles bieten lassen, gibt es im Fall Oasis veritablen Ärger. Die Methode des “dynamic pricings” wird als das entlarvt, was sie ist: Ein neoliberaler Weg, Leute zu schröpfen, die etwas haben wollen, das sehr nachgefragt ist. Dass die Hotel- und Airbnb-Kurse in den Städten, in denen Oasis 2025 spielen werden, direkt nach der Ankündigung des Tourplans in abstruser Weise durch die Decke gehen und einige Hotels bestehende Buchungen stornieren, um die Zimmer zu deutlichen höheren Raten neu zu vergeben, sorgt für extremen Frust. Und ruft Verbraucherschützer und Politiker auf den Plan, die fordern, ein solches Vorgehen müsse verboten werden. Natürlich wird dieser Ärger längst verflogen sein, wenn Oasis 2025 “Champagne Supernova” spielen. Aber die Gallaghers werden zuletzt schon gemerkt haben, dass ihnen der Wind, den sie gerne selbst ins Internet blasen, auch mal ins Gesicht wehen kann.

Spätberufen auf der Eins

Weg von den Britpop-Untoten, hin zu den erstaunlich vitalen Silberlocken: Einige Veteranen der klassischen Britpop-Jahre werden 2024 dafür belohnt, sich im Laufe des Jahrzehnts nicht zerfleischt zu haben, am Ball geblieben zu sein. Mit der Folge, eine überaus loyale Fanbasis aufgebaut zu haben. Eine Community, die 2024 dafür sorgt, dass gleich mehrere Bands mit ihren Alben hohe Platzierungen und sogar den Nummer-eins-Spot in den britischen Charts belegen. Das ist im Zeitalter des Streamings keine so große Sache mehr, wie es Mitte der 90er der Fall gewesen war. Bemerkenswert sind die kommerziellen Erfolge der Veteranen dennoch. Im September etwa stehen Shed Seven aus York mit “Liquid Gold” ganz oben, einem Album mit von einem Orchester unterstützten Neueinspielungen älterer Songs. So eins haben James aus Manchester bereits erfolgreich 2023 erledigt; 2024 erreichen sie mit den neuen Songs ihres Albums “Yummy” Platz eins der UK-Charts. Nicht ganz so hoch hinaus geht es für Kula Shaker, aber das neue Album Natural Magick führt auch die Psych-Britpopper in die hohen Chartpositionen, die sie Ende der 90er mit ihren ersten beiden Platten erreicht haben. Auch die melodieverliebten Cast aus Liverpool finden 2024 mit dem Album “Love Is The Call” zurück in die Erfolgsspur.

Man darf davon ausgehen, dass diese alten Britpop-Recken mit ihren neuen Platten zuverlässig ein älteres Publikum versorgten. Es gab 2024 aber auch deutlichen Spuren von Britpop im Sound der aktuell angesagtesten Bands der Indie- und Alternative-Szene. Die Newcomer Brigitte Calls Me Baby aus Chicago zum Beispiel zeigten auf ihrem Debütalbum “The Future Is Our Way Out”, wie The Smiths 2024 vielleicht klingen würden, wenn das mit Morrissey alles ein bisschen anders laufen würde. Sänger und Songwriter Wes Leavins bedient das dafür nötige Pathos und vermittelt Botschaften wie “I Wanna Die In The Suburbs” oder “You Are Only Made Of Dreams”, während seine Band bei “Eddie My Love” den Jingle-Jangle des Britpop mit dem Sound der 60er-Beatband The Shadows zusammenbringt.

Dass Britpop auch in der Top-Etage des Pop eine Rolle spielt, zeigen einige Stücke des Albums, das der Superproduzent Jack Antonoff in den wenigen Wochen der jüngeren Zeit, in denen er nicht mit der Arbeit für Taylor Swift beschäftigt war, mit den Bleachers aufgenommen hat. Antonoff ist generell ein begnadeter Genre-Plünderer; Songs wie “Woke Up Today” erinnern an die Beatles und ihre vielen Wiedergänger aus der großen Zeit des Britpop.

Fontaines D.C. sind seit jeher dafür bekannt, pro Album mindestens einen Song mit Britpop-Verweis rauszuhauen. Auf Romance übertreffen sie sich in dieser Hinsicht selbst: “Favourite”, letzter Song der Platte, ist ein perfekter Jingle-Jangle-Britpopsong, der die Frühlingsgefühle der mittleren 90er zurückholt. Eine Falle, denn im Song singt Grian Chatten von der Traurigkeit einer Rückkehr. Vom fahlen Beigeschmack der Nostalgie. Fontaines D.C. docken Britpop-Elemente an ihren Post-Punk an. High Vis aus London lassen Britpop in ihre Post-Core-DNA einfließen. Bei manchem Song ihres dritten Albums “Guided Tour” wirkt es, als wären die Stone Roses als Punkband auferstanden, mit einem Sänger, der deutlich lauter zu Werke geht, als es seinerzeit bei Ian Brown der Fall war. The Last Dinner Party, eine der Aufsteigerbands des Jahres, entwerfen in Songs wie “The Feminine Urge” einen dringend notwendigen weiblichen Gegenentwurf zur Britpop-typischen “Lad-Culture” mit Bier und Fußball – und verweisen mit ihrem Sound auch auf von Frauen geprägte Britpop-Bands wie Catatonia mit Sängerin Cerys Matthews oder Kenickie.

Universal Britpop

Nun ist es zwar interessant, aber nicht superungewöhnlich, dass ein bestimmter Stil aus einer bestimmten Zeit auch die aktuelle Musik beeinflusst. Was 2024 aber wirklich überrascht: Wie aus Britpop ein Modewort für Modern Pop wird. Eine Marke. Eine Einstellung. Eine Lebenshaltung. Etwas, das weit über die Musik hinaus geht. Und zwar eben nicht nur für Jungs, die gerne Fußball gucken und Bier trinken. Sondern auch für junge Frauen aus Schwarzen Communitys.

A.G. Cook ist ein englischer Produzent innovativer Dance-Musik, darüber hinaus ein Einflussgeber und Möglichmacher einer neuen Szene, die sehr stark den progressiven Modern Pop beeinflusst. Unter dem großen Dachnamen Hyperpop lassen sich Acts und Songs zusammenfassen, die sich alle Freiheiten nehmen und keinerlei Grenzen akzeptieren. Weder in der Musik noch in der Identität, wobei diese wiederum fluide und virtuell sein kann. Hyperpop ist beides: Pop und eine Karikatur von Pop. Die Selbstironie ist in dieses Genre per Werkseinstellung mit eingebaut, wird von den Acts aber sehr schnell an- und wieder ausgestellt. Mit dieser Haltung ist Hyperpop wie gemacht für das Hyper-Netzwerk Tiktok, diesem Dschungel aus Filmchen, Selbstdarstellungen und Verweisen.

Cook ist einer der Menschen, die das alles verstehen. Er arbeitete mit der Produzentin Sophie zusammen, bis zu ihrem Tod 2021 einer der Stars der Szene, produzierte für Beyoncé. Er war zudem kreativer Direktor für Charli XCX, der es 2024 mit ihrem Album “Brat” gelang, nicht nur diesen Begriff groß zu machen, sondern damit auch den Lifestyle von Millionen von Menschen zu verändern. Mit seinen eigenen Alben verfolgt Cook den Anspruch, die großen Symbole und Marken zu vertonen. Jene der Gegenwart, wie auf dem Album “Apple”. Oder jene der Zukunft wie “7G”, dem Mobilfunknetz der 7. Generation, mit dem es, wie Zukunftsforscher glauben, möglich sein wird, jederzeit virtuelle Welten zu betreten.

Cooks Album für 2024 trägt den Titel “Britpop”. Nicht, weil die Musik so klingt: Cook bleibt seinem verspielten und verrutschen Electro-Sound treu. Sondern weil er als Künstler darüber nachgedacht hat, warum der Einfluss britischer Musik so groß ist, auch in den USA. Ausgehend von der Beatlemania und der damit verbundenen “British Invasion” von Beatbands in den 60ern wie den Kinks und Rolling Stones, Zombies und Hollies, Small Faces und The Who, Dave Clark Five und der Spencer Davis Group. Alles Bands, die auch den originären Britpop-Stil beeinflusst haben. In einem Interview beschreibt A.G. Cook Britpop als “lustiges Zeitgeistphänomen”, das in der Tradition von “Underground-Künstlern steht, die mit universellen Symbolen spielen”. Daher hat er für das Artwork des Albums und der Videos den Union Jack pink und grün gefärbt – als handele es sich um eine Flagge aus einem anderen Paralleluniversum. Um ein Symbol, das Gemeinschaft, Kreativität und Identität feiert, ohne die historische Schuld mit sich zu tragen, die beim Union Jack naturgemäß mitschwingt.

Die Attraktivität eines Dachbegriffs

Als Künstler sei er immer auf der Suche nach solchen Symbolen, sagt er. Und er ist da längst nicht der einzige: Dass Britpop 2024 zu einer Referenz geworden ist, auf die sich weltweit auch junge Leute sich einigen können, die nie etwas von Bands wie Sleeper, Ocean Colour Scene oder Menswear gehört haben, liegt für Cook an der “Zersplitterung der Popkultur seit dem Aufkommen des Internets”. In den 90ern konnte man sich eine der Wochenzeitschriften holen und sich sicher sein, die versammelten Band der Britpop-Bewegung in diesem Heft zu finden. Irgendwas gab es immer zu berichten, über Suede, die Boo Radleys oder Supergrass. Das Lesen und Herumtragen des Magazins zeigten zudem: Ich bin einer von euch. “Wenn man es aber wie heute mit einem aufgebrochenen Mainstream zu hat”, sagt Cook, “und jeder in Subkulturen existiert, werden alle Begriffe und Symbole, die einem dabei helfen, sich an etwas Universelles zu klammern, sehr attraktiv.” Britpop ist also eine Klammer. Eine freiwillig gezimmerte Schublade. Um untereinander und mit den Fans in Dialog zu treten. Aus der Not einer zerfledderten Welt heraus nimmt sich die junge Generation ein Genre von früher. Um es neu zu deuten. Sich unter diesem Dach zu versammeln.

An dieser Stelle unterscheidet sich das Britpop-Revival im Modern Pop vom originären Britpop der 90er. Letzterer wurde hauptsächlich geprägt von Jungsbands, auf deren CDs der Sticker “buy British” stand und die angefeuert wurden von den wöchentlich erscheinenden Musikmagazinen, die keinen Hehl daraus machten, dass sie auf den gerne mies gelaunten US-Alternative-Rock keinen Bock mehr hatten, stattdessen wieder Gruppen aus London und Birmingham, aus Carlisle, Dublin, Dundee, Humberside abfeiern wollten. Verbunden mit der unmissverständlichen Botschaft: “Yanks go home!” Noch 1992 wurde Morrissey medial dafür vernichtet, dass er beim von der Band Madness organisierten Madstock-Festival mit einem Union Jack um die Hüften auf der Bühne herumgeturnt war. Nur wenige Monate später war die Flagge allgegenwärtig: auf Magazincovern, auf Noel Gallaghers Gitarre, wenn es darum ging, Suede zur besten Band Welt zu erklären. Was dabei immer eine Rolle spielte: Nationalismus, Chauvinismus.

Das ist 2024 anders. Es wirkt, als hätten sich ausgerechnet die Marginalisierten die Symbole zurückerkämpft. Ein paar Beispiele: Nia Archives, eine 24 Jahre alte Schwarze Breakbeat-Künstlerin, trägt auf dem Cover ihres Debütalbums “Silence Is Loud” einen schillernden Union Jack auf den Zähnen. Modern-Pop-Superstar Dua Lipa sagt, sie habe sich bei der Arbeit an ihrem 2024er-Album “Radical Optimism” mit der Geschichte des Britpop beschäftigt und dabei erkannt, dass es ihr helfen könnte, den Pessimismus zu verdrängen: Britpop sei “selbstbewusst optimistisch” gewesen: “Diese Einstellung habe ich in meine Aufnahmesessions mitgenommen.”

Die Songwriterin Rachel Chinouriri zeigt auf dem Cover ihres von Indierock beeinflussten Albums “What A Devastating Turn Of Events” eine Szenerie wie aus dem Booklet des Blur-Albums “Parklife” – eine Sozialbausiedlung, beschmückt mit der englischen Flagge, dem Sankt-Georgs-Kreuz. Der erste Song der Platte heißt “Garden Of Eden”, als wäre dieses kleinbürgerliche englische Idyll für eine Künstlerin wie Chinouriri tatsächlich das Paradies – und nicht die potenzielle Hölle. “Für Schwarze und People of Colour ist diese Flagge nichts, worauf man stolz sein könnte”, sagt sie in einem Interview mit der englischen Zeitung Guardian. Weshalb ihr Umfeld ihr auch davon abriet, die Fahnen auf ihrem Albumcover zu zeigen, zumal das Georgskreuz von rechtsradikalen Gruppen wie der English Defense League vereinnahmt wird. Doch gerade deshalb bestand Chinouriri darauf. Ausgehend von der Erfahrung, ihre britische Identität in einer Zeit wiederentdeckt zu haben, als sie sich während eines Aufenthalts in Los Angeles einsam gefühlt hatte. Der Song “The Hills” erzählt von diesen Gefühlen – und klingt passenderweise wie eine clevere Kombination aus US-Indierock und Britpop. Die Flagge zu verwenden, sei für sie wie eine “Feier, sich dieses Symbol zurückzunehmen – verbunden mit der Botschaft: ‘Ihr könnt mich nicht loswerden’.”

Auf diese Art kehrt Britpop zu seinem Ausgangspunkt zurück. Zur Idee eines neuen Verhältnisses zwischen Pop, Rock und Politik. Einer Vorstellung von Musik als Mittel, um eine gute Zeit zu haben. Selbstbewusst im Leben zu stehen. Eigene Welten zu erschaffen. Mit großer Fresse zu behaupten, dazuzugehören. Mehr noch: das Beste zu sein, was diesem Land, ach, dieser Welt passieren konnte. Auch ohne Ausbildung an einer Privatschule oder Studium an einer Eliteuni. Die ganz jungen Gallaghers haben so gedacht. Und aus dieser Haltung heraus einer der besten Rockbands aller Zeiten gegründet. Es ist fantastisch, dass Britpop 2024 zu dieser Grundhaltung zurückgekehrt ist. Mit dem Erfolg der Alten, das auch. Aber dazu mit ganz anderen Klängen. Die gute Nachricht am Ende: Bei der Einführung des neuen Labour-Premiers Keith Starmer ist kein Popstar weit und breit zu sehen.


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

Fünf sind wieder da

Sex Pistols

Wer bei der vierten Reunion der Sex Pistols nur schnelles Geld wittert, liegt erstmal falsch: die Punklegenden tun sich zunächst im Juni mit Ex-Gallows-Sänger Frank Carter zusammen, um zwei ausverkaufte Benefizshows in der Londoner Bush Hall zu spielen. Damit wollen sie unter anderem die Zukunft des Venue bewahren. Weil das offenbar gut ankommt, folgt ein Festivalauftritt in Italien und eine UK-Tour. Nur “Sex Pistols” darf sich das Ganze nicht mehr schimpfen. “Frank Carter and Paul Cook, Steve Jones, Glen Matlock of the Sex Pistols” steht auch bei ihren kommenden zwei Deutschlandkonzerten – den ersten seit 1996 – auf dem Tourplakat. Warum, weiß wohl John Lydon am besten, der als einziges Gründungsmitglied nicht Teil der Reunion sein wird und zuletzt wohl am meisten Kontakt mit seinen Ex-Kollegen wegen eines verlorenen Rechtstreits über Songrechte hatte.


Babyshambles

Nach mehreren Entzugsversuchen hat Pete, pardon: Peter Doherty die Kurve gekriegt und ist nun annährend clean. Zumindest vom Heroin lässt er die Finger und konnte sich deswegen auch wieder mit den Libertines zusammenraufen. Ergebnis: ein sehr solides viertes Album. Nun soll es offenbar auch wieder mit der Band weitergehen, die er 2003 gegründet hat, als er bei den Libertines rausgeflogen ist. Im August steht er bei einer Soloshow überraschend mit den Ex-Babyshambles Drew McConnell (Bass) und Adam Ficek (Drums) auf der Bühne. Dass das wohl keine einmalige Sache war, deutet Ficek später selbst an und spricht von einer “Neuinterpretation” der Indie-Antihelden im kommenden Jahr. Einen Nachfolger vom bislang letzten Album “Sequel To The Prequel” (2013) wollte aber noch niemand offiziell bestätigen.


The Jesus Lizard

Für Konzerte haben sich die ursprünglich 1999 aufgelösten Noiserock-Ikonen schon zwischen 2009 und 2010 sowie immer wieder ab 2017 zusammengetan. Mit “Rack”, ihrem ersten Album seit 26 Jahren, machen The Jesus Lizard dieses Jahr ihre vorläufige Rückkehr perfekt, die erste Tour in Großbritannien und Irland seit 16 Jahren findet 2025 statt. Der Terminkalender soll aber wohl noch voller werden. Damit stehen die unbestrittenen Genre-Taktgeber exemplarisch für eine Art Revival der 90er-Noise-Szene, denn auch God Bullies um “Father” Mike Hard und Big’n haben neue Alben veröffentlicht. Bei ihnen sind sogar 30 beziehungsweise 28 Jahre seit der bislang letzten richtigen Platte vergangen. Kaum zu glauben: An keinem der Alben wirkte Steve Albini direkt mit, sein Stil prägt sie trotzdem.


The Bobby Lees

2022 veröffentlichten die Bobby Lees noch ein Album, auf dem Rock’n’Roll und Punk diabolischer denn je wirkten. Ende 2023 gingen die Lichter für die Band aus Woodstock, New York überraschend aus. Grund: finanzielle Unsicherheit durch das aktuelle Streamingsystem. Mit “Es ist verrückt, dass Leute heutzutage drei bis fünf US-Dollar für einen Kaffee ausgeben, aber nicht bereit sind, den gleichen Betrag für ein Album zu bezahlen”, kündigen sie ihre vorerst letzten Shows an. Dank Hollywood-Star, Muskelprotz und Szene-Musik-Connaisseur Jason Momoa können die Bobby Lees ihre Zwangspause aber bereits dieses Jahr beenden: Für die zweite Staffel der Serie “On The Roam” über Momoas Suche nach Kunst, Abenteuer und Freundschaft, begleitet und finanziert er ein neues Album der Band. Die neuen Episoden und das Album sollen 2025 erscheinen.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von THE BOBBY LEES (@thebobbylees)


Mclusky

Schon seit 2014 – neun Jahre nach ihrer Auflösung – treten die grantigen Noise-Weirdos aus Wales wieder unregelmäßig auf. 2023 gab es mit gleich vier Singles ihre erste neue Musik seit 19 Jahren. Wohl nur als ersten Vorgeschmack auf ein viertes Album, das 2025 über Mike Pattons Label Ipecac erscheinen soll. Das wäre dann ihr erstes seit 2004. Vorgeschmack? Fehlanzeige. Typisch sarkastisch heißt es zur Ankündigung lediglich: “Mclusky waren eine Band zwischen 1999 und 2005, und jetzt sind sie wieder eine Band. Ich weiß, umwerfend. […] Mclusky glauben fest daran, dass alle DJs Franzosen sein sollten.” Wie es aussieht, meinen es die Waliser um Andy Falkous aber ernst: Dieses Jahr tourten sie wieder durch Australien und die USA. Ursprünglich hatten Mclusky Pläne, ein weiteres Album mit Steve Albini aufzunehmen. Sein Tod kam ihnen zuvor.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von mclusky / future of the left (@_shit_rock_)


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

In der Haltung vereint

Auch Musik

In einem Youtube-Video kann man zwei jugendlichen Trap-Fans dabei zusehen, wie sie Kim Gordons Song “Bye Bye” zum ersten Mal hören. Die Jungs rasten vor Begeisterung aus, können kaum fassen, dass die Musik wie ein Track von Playboi Carti oder Ken Carson klingt. Nicht wirklich genauso, schließlich sind Gordons stilistische Handschrift und vor allem ihr Gesang unverkennbar – aber die fragmentierten, schlingernden Trap-Beats von “Bye Bye” hatte Produzent Justin Raisen (Charli XCX, Drake, Lil Yachty) tatsächlich zuerst Carti zugedacht und dann als zu abgefahren für den Atlanta-Rapper befunden. Genau richtig allerdings für Gordons zweites Soloalbum “The Collective”. Schon bei ihrer ersten Soloplatte “No Home Record” (2019) hatte Gordon mit Raisen gearbeitet, nur zu zweit, ohne weitere Beteiligte. Sie habe keine Lust mehr auf quälende Abstimmungen mit Bandmitgliedern, so Gordon in einem Interview, den Mythos von Sonic Youth ein für alle mal an den Nagel hängend.

Sowohl “No Home Record” als auch “The Collective” entstanden in Los Angeles, bewusst weit weg von New York City mit seinen Verflechtungen und Konnotationen. Und natürlich ist es ein Statement, ein Album, das zudem am Weltfrauentag erscheint, mit einem Track namens “Bye Bye” zu eröffnen. Der Text besteht aus Aufzählungen von Dingen, wie sie auch in Trap-Raps vorkommen, nur dass Gordon kein Konsumopfer ist, das sich nach Designerstücken von Balenciaga oder Rick Owens verzehrt. Im Gegenteil, sie will all den Kram nicht mehr, den uns der Kapitalismus als unverzichtbar suggeriert: “Hoodie, toothpaste, brush, foundation, contact solution, mascara, lip mask, eye mask – bye bye”. Auch in den anderen Songs bringt sie mit reduzierter Cut-up-Lyrik aktuelle Themen auf den Punkt. In “I’m A Man” schlüpft Gordon in die Rolle eines sich selbst bemit­leidenden Incels, der sich zu kurz gekommen fühlt, während das kraftvolle “Psychedelic Orgasm” weibliche Sexualität feiert.

Gordon, 1953 in Rochester, New York geboren, könnte sich auf ihren Lorbeeren ausruhen, die sie sich als Mitbegründerin, Bassistin, Gitarristin und Sängerin von Sonic Youth verdient hat. Sie gilt als Verkörperung von Coolness schlechthin, als feministische Musikerinnen-Identifikationsfigur. Dabei wollte sie nie ein Rockstar sein, kam über Umwege zur Musik. Gordon selbst sieht sich als Künstlerin und Performerin, die als eine Sache von vielen auch Musik macht. Nach ihrem Studium schrieb sie zunächst für Kunstmagazine und begann Instrumente mit demselben Interesse spielen zu lernen, wie man sich auch andere künstlerische Fertigkeiten aneignet. Ihre Rolle bei Sonic Youth sei konzeptuell gewesen, eine Choreografie, so Gordon in ihrer Autobiografie “Girl In A Band” – also das Gegenteil des rockmusikalischen Ideals einer Band. Es ist dieser übergreifende, antirockistische Ansatz, die Arbeit als bildende Künstlern, Modedesignerin, Autorin, Produzentin und gelegentliche Filmemacherin, die Gordons Musik so kühn macht – und manch Soloaufnahme ihrer früheren Bandkollegen im Vergleich konventionell erscheinen lässt.

Gordon nimmt sich Zeit, unterwirft sich keinem Veröffentlichungsdiktat: Nach dem vorläufigen Ende von Sonic Youth 2011 dauerte es ganze acht Jahre, bis sie ihr erstes Soloalbum in Angriff nahm, und auch dazu musste sie von Raisen überredet werden. Befreit von Bandstrukturen, im produktiven Tandem mit Raisen, konzentriert sich Gordon kompromisslos auf ihre avantgardistische Seite und betritt unerschrocken neues Terrain. Auf “The Collective” kombiniert sie experimentelle, lauernd-verzerrte Gitarrensounds mit dystopischem Noise, verknüpft 80er-Industrial mit Dub und Hyperpop zum scheinbaren Chaos. Aber das Album hat ein Programm, verfolgt einen Plan. Die Beats der ersten Hälfte zersplittern gegen Ende immer mehr, um sich im letzten Song “Dream Dollar” zischend aufzulösen. Trotz seiner Sperrigkeit ist der Sound vielschichtig und warm, gewachsen aus der unerschöpflichen Kreativität einer mutigen und visionären Künstlerin.

Innovative Innerlichkeit

Auch Beth Gibbons gehört zu einer stilprägenden Band: den TripHop-Pionieren Portishead. Auch sie hält sich mit Soloveröffentlichungen ziemlich zurück. Das war es aber schon in puncto Gemeinsamkeiten mit Gordon, eine der augenfälligsten Unterschiede zur US-Kollegin ist Gibbons’ so stille wie konsequente Medienverweigerung. Sie gibt schon lange keine Interviews mehr, äußert sich selbst nur schriftlich wie im Info zum neuen Album. Es existieren aus TV-Sendungen der 90er ein paar Aufnahmen, die ihre Schüchternheit und ihr Unwohlsein bei öffentlichem Sprechen peinvoll spürbar machen. Die Britin will weder über sich noch ihre Musik reden, auch über “Lives Outgrown” lässt sie ihren Produzent James Ford sprechen. Aus den Interviews mit Ford erfährt man unter anderem, dass Gibbons und ihr musikalischer Partner Lee Harris (ehemals Talk Talk) auf keinen Fall einen Loop- und Sample-dominierten Sound wie Portishead erzielen, sondern elektronisch wirkende Klänge mit akustischen Instrumenten herstellen wollten. Dass Gibbons immer neue Instrumente ins Studio mitbrachte, unter anderem Blockflöten und unzählige Gitarren. Dass sie vorschlug, Ford solle die Klaviertasten mit Löffeln anschlagen, und dass alle drei auf dem Boden herumkriechen sollten, um bestimmte Atemgeräusche zu erzeugen. Und dass nach Fords Empfinden das Album eigentlich schon ein Jahr früher fertig gewesen sei. Es ist Gibbons’ Perfektionismus geschuldet, dass immer wieder Neujustierungen und -aufnahmen vorgenommen werden mussten, weshalb die Platte erst im Mai 2024 erscheinen konnte.

Man kann nur darüber spekulieren, ob sich Gibbons von Ford verstanden fühlt, oder ob sie in Kauf nimmt, was er sagt, nur um selbst nicht das Wort ergreifen zu müssen. Letztlich sollte gelten, dass ein Kunstwerk für sich selbst stehen muss und keine Erklärungen und Auslegungen braucht. Aber dass “Lives Outgrown” ein so außergewöhnliches, bei aller Innerlichkeit innovatives Album geworden ist, auf das sich in 2024 so viele Kritiker:innen und Fans einigen konnten, hängt natürlich damit zusammen, dass seine Urheberin eine so enigmatische, verletzliche, für den Popbetrieb kaum taugliche Person ist – und das ist als Kompliment gemeint.

2002 veröffentlichte Gibbons mit Paul Webb alias Rustin Man (ebenfalls einstmals bei Talk Talk) das Album “Out Of Season”, ein in Jazz, Blues und Folk schwelgendes Werk, das modische Zeiterscheinungen mit Grandezza ignorierte. Danach komponierte Gibbons Filmmusik, und machte nach der (hoffentlich nur bislang) letzten Portishead-Platte “Third” 2008 erst wieder 2014 wieder von sich reden, als sie mit dem Nationalen Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks unter der Leitung von Krzysztof Penderecki die 3. Sinfonie des Komponisten Henryk Mikołaj Górecki aufnahm. Bis zu ihrem eigentlichen ersten Soloalbum sollten weitere zehn Jahre vergehen. Zehn Jahre, in denen sich Gibbons körperlichen und emotionalen Veränderungen ausgesetzt sah. “Lives Outgrown” handelt in weiten Teilen von Mutterschaft, Menopause und Vergänglichkeit, also Themen, die im Popkontext nur selten verhandelt werden, im Leben einer knapp 60-Jährigen jedoch allgegenwärtig sind – und Gibbons stellt sich ihnen. Die Texte sind berührend und erschütternd, Gibbons’ Gesang wie eh und je suchend und zerbrechlich, das unausweichliche Ende stets mitdenkend oder wie in “Burden Of Life” sogar erwartend. Dass sie trotz ihrer Bartleby’schen “Ich möchte lieber nicht”-Verweigerungshaltung von den Fans geliebt wird und große Erfolge feiern kann, ist eine der schönsten Erkenntnisse des Musikjahrs 2024.

Zwischen Experiment und Stiltreue

Es sei ihr nie in den Sinn gekommen, eine Soloplatte aufzunehmen, sagt Kim Deal in Interviews zu ihrer, ja, Soloplatte “Nobody Loves You More”, die Ende November erschienen ist. Sie könne sich auch nicht vorstellen, dass es Leute gebe, die zu einem Soloauftritt von ihr gehen würden – obwohl ihr die Dandy Warhols schon 1997 den Song “Cool As Kim Deal” widmeten. Kimberley Ann Deal, 1961 in Dayton, Ohio geboren, hat ihr gesamtes Erwachsenenleben in Bands gespielt und immer im Bandkontext gedacht. Zu den Pixies kam sie 1986 über eine Zeitungsanzeige, die Black Francis/Frank Black und Joey Santiago geschaltet hatten, weil sie für ihre frisch gegründete Band jemanden am Bass suchten. Mit ihrem charakteristischen Laut-leise-Sound, den sägenden Gitarren und eingängigen Melodien werden die Pixies bald zur prototypischen Indie-, respektive Alternative-Band, Songs wie “Where Is My Mind?” oder “Monkey Gone To Heaven” sind Klassiker. Dass Kurt Cobain verkündete, dass ausgerechnet das von Deal geschriebene “Gigantic” sein Lieblingssong sei und er sich wünschte, sie würde mehr Songs für die Pixies schreiben (dürfen), erregte Frank Blacks Zorn – ohnehin gilt Black als despotischer Bandleader, der seinen Mitmusiker:innen nur wenig Raum zur Entfaltung zugesteht.

Deal, mit ihrer subalternen Rolle als Bassistin unzufrieden, gründete 1988 als Nebenprojekt zu den Pixies eine wahre Indie-Supergroup: die Breeders, in der Ursprungsformation aus Kim Deal, Tanya Donelly von den Throwing Muses und Britt Walford von Slint bestehend, bringen 1990 das von Steve Albini produzierte Debüt “Pod” heraus, drei Jahre später folgt das Meisterwerk “Last Splash”. Inzwischen hat Donnelly die Breeders verlassen, Josephine Wiggs und Kim Zwillingsschwester Kelley steigen ein, der alte Kumpel Jim McPherson übernimmt das Schlagzeug. Dass die Breeders trotz großartiger Songs nie so groß wurden wie die Pixies, lag neben internen Reibereien hauptsächlich an Suff und Heroin, wie Kim Deal freimütig zugibt. Nach dem Erfolg mit “Last Splash” ziehen sich die Deals für lange Zeit zurück, um clean zu werden und ihre kranken Eltern zu pflegen. Neue Breeders-Platten erscheinen erst wieder ab den frühen 2000er Jahren. Dazwischen und danach gründet Kim Deal das Projekt The Amps mit personellen Überschneidungen zu den Breeders, produziert Guided By Voices, veröffentlicht solo ein paar Singles und kehrt sogar zu den wiedervereinten Pixies zurück, die sie aber 2013 endgültig verlässt.

Die Breeders sind auf Courtney Barnetts zweitem Album “Tell Me How You Really Feel” (2018) zu hören, gehen ab 2023 mit “Last Splash” auf Jubiläumstour. Ab Anfang 2024 kursieren Gerüchte, dass es ein Soloalbum von Kim Deal geben könnte, im Juni erscheint der Song “Coast” – und im August bestätigt Deal die baldige Veröffentlichung des Albums. Auch wenn “Nobody Loves You More” als Soloalbum firmiert, ist es dennoch voller Deal-typischer Kooperationen: Ayse Hassan und Fay Milton von Savages sind dabei, fast alle Breeders, produziert wird die Platte teilweise noch von Albini, der während der Aufnahmen überraschend stirbt. Vergänglichkeit, Krankheit und Tod sind bestimmende Themen auf “Nobody Loves You More”, einige Songs wie “Wish I Was” existierten in ihren Urformen schon seit zehn bis 20 Jahren, entstanden in der Zeit, als Deal ihre demente Mutter pflegte. Das anrührende “Are You Mine?” geht auf einen Moment zurück, als die Mutter ihre Tochter nicht erkannte, “Summerland” bezieht sich auf lang zurückliegende Familienurlaube, “Coast” entstand 2020 nach der Hochzeit eines Freundes, der Ursprung des Songs läge aber noch viel weiter zurück, so Deal.

Musikalisch erlaubt sie sich mehr Experimente als in ihren Bandgefügen – obwohl sie ja bewusst nicht alles allein gemacht hat. In einigen Songs erklingt die von Deal so geliebte Ukulele, ein Instrument, das wegen Wiggs harscher Abneigung niemals bei den Breeders eingesetzt werden darf, eine Marching Band spielt auf, in “Are You Mine?” hört man eine Pedal-Steel-Gitarre. Songs wie “Big Ben Beat” und “Disobedience” sind dagegen durchaus auf einer Breeders-Platte vorstellbar, wurden sogar schon live von den Breeders gespielt: “Disobedience” passt perfekt zwischen “Cannonball” und “Divine Hammer”, befindet Deal selbst. Das Changieren zwischen Referenzen zum Lebenswerk und ungewöhnlichen Klang- und Stilexperimenten macht den Charme von “Nobody Loves You More” aus – Deal wird die geliebte Bandkonstellation wohl nie aufgeben, aber sie kann sicher sein, dass sehr viele Menschen ihre Solokonzerte besuchen werden.

Lässt sich aufgrund dieser drei sehr unterschiedlichen Alben von drei sehr unterschiedlichen Künstlerinnen ein Fazit ziehen oder ein Rezept für gelungene Werke erstellen? Das wohl nicht, aber ein paar Erkenntnisse kann man mitnehmen: zum Beispiel, dass es dem kreativen Output sehr entgegenkommt, wenn man sich selbst nicht allzu wichtig nimmt. Das eigene Schaffen nicht zu sehr glorifiziert. Und es vollbringt, altgediente Strukturen hinter sich zu lassen, etwa die Bands, in denen man sich einst Ruf und Ruhm erspielte. Diese Haltungen scheinen Beth Gibbons, Kim Deal und Kim Gordon zu einen. Drei Musikerinnen, die zu stilprägenden Kultbands gehörten und erst nach langen Pausen, in denen andere Dinge dringender waren als das nächste Album, zum Musikmachen zurückkehrten.

Darüber hinaus zeigen die Platten von Deal, Gibbons und Gordon, wie wichtig es ist, der eigenen Erfahrung zu vertrauen, sprich: einen eigenen Stil zu entwickeln und sich dafür Zeit zu nehmen. Angefangenes auch mal liegen zu lassen, wie Deal, oder vermeintlich Abgeschlossenes noch mal zu überprüfen, selbst wenn man seinen Mitstreitern damit auf die Nerven fällt wie Gibbons. Nicht einverstanden sein wie Gordon. Keine Scheu vor Themen haben, die scheinbar nicht ins coole Popgeschäft passen wie Wechseljahre, todkranke Angehörige oder schlichtweg Selbstzweifel. Und – dazu kommt man möglicherweise erst an einem späteren Zeitpunkt im Leben – sich die passenden Leute auszusuchen, mit denen man arbeiten möchte. Das sind im Falle Gordons tendenziell Jüngere wie Produzent Justin Raisen und ihre eigene Tochter Coco, die das Video zu “Banging On The Freeway” drehte, einem neuen Song von der Deluxe-Ausgabe von “The Collective”. Auch Gibbons gibt ihre Songs in die Hände eines jüngeren Produzenten, während Deal in gewohnter Manier alte und neue Freund:innen um sich schart. Und der vielleicht wichtigste Schluss: zur eigenen Eigentümlichkeit stehen.


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

Fünf sind nicht mehr

Sum 41

Bereits im Mai 2023 verkünden Sum 41 ihre Auflösung. Ein letztes Album soll es 2024 geben und eine ausgiebige Abschiedstour. Als Begründung gibt Frontmann Deryck Whibley in Interviews zu “Heaven :x: Hell” an, dass seine Kreativität für die Band nachlasse. Zuvor hat er jahrelang gesundheitliche Probleme und bekämpft erfolgreich seine Alkoholsucht. Außerdem beschuldigt er in seiner diesjährigen Autobiografie “Walking Disaster” den ehemaligen Bandmanager Greig Noiri des sexuellen Missbrauchs. Bis ins Frühjahr 2025 wird die Band noch in Nordamerika auftreten, doch hierzulande war es das: Ihre letzten Konzerte in Deutschland spielen sie im November. Auf der Habenseite stehen nach fast 30 Jahren Karriere acht Alben, darunter die Bestseller “All Killer No Filler” (2001), “Does This Look Infected?” (2002) und “Chuck” (2004).


Metz

Die Meldung, dass Metz die berüchtigte “Pause auf unbestimmte Zeit” einlegen, kommt nicht ein Jahr vor ihrer Tour 2024, sondern einen Monat. Der Schock ist entsprechend groß, nicht nur aus Reihen von Idles, The Dirty Nil oder Gilla-Band, auch bei VISIONS, wo ihr diesjähriges Album “Up On Gravity Hill” in Ausgabe 373 den Soundcheck toppt. Im Interview ein paar Seiten weiter spricht Bandkopf Alex Edkins noch von einem Neuanfang, aber auch davon, wie sehr es ihn belastet, für Touren von seiner Familie getrennt zu sein: “Es zerreißt einen. Ich bin einfach ständig im Zwiespalt.” Die Shows in Berlin und Hamburg sind eine Noiserock-Machtdemonstration, ihrem Statement zufolge werden sich Metz nun auf ihre Familien und neue Unternehmungen konzentrieren. Bei Edkins wären das sein Soloprojekt Weird Nightmare und seine Arbeit als Soundtrack-Komponist.


Refused

Dass Refused sich auflösen, deutet sich seit März an. Ihr letztes Konzert in ihrer Heimat Schweden müssen die Hardcore-Legenden allerdings absagen, weil Frontmann Dennis Lyxzén einen Herzinfarkt erleidet. Ab September heißt es “Refused Are Fucking Dead… And This Time They Really Mean It” auf einem Poster für Konzerttermine 2025 in Nordamerika, später wird die Band für einige Festivals in Europa bestätigt. Die Ankündigung einer regulären Europatour steht aber noch aus. Genauso unklar ist, ob noch mal neue Musik erscheint. Falls nicht, wäre die letzte Refused-Veröffentlichung die EP “The Malignant Fire” von 2020. Anfang November erscheint eine “The Shape Of Punk To Come”-Reissue mit einer Bonusplatte, auf der Bands wie Quicksand, Brutus, Touché Amoré und sogar Snapcase Songs des Klassikers covern.


Off!

Bei der Supergroup um Hardcore-Legende Keith Morris (Circle Jerks, Black Flag) geht die Auflösung mit der Veröffentlichung ihres lange erwarteten Spielfilms “Free LSD” einher: Ihre letzte Show spielen Off! am 26. Juli im Belasco in Los Angeles mit Surfbort im Vorprogramm, danach führen der 69-jährige Morris und Gitarrist Dimitri Coats “Free LSD” aber noch bis Anfang August in verschiedenen kalifornischen Kinos auf und geben anschließend Panels. Das letzte Off!-Album, ebenfalls “Free LSD” betitelt und der Soundtrack zum Film, ist da schon fast zwei Jahre alt. Wenig später erscheinen Film und Album im Boxset mit vier bislang unveröffentlichten Songs aus den Albumsessions. Von Morris weiß man, dass er derzeit mit den Circle Jerks am ersten Album seit “Oddities, Abnormalities And Curiosities” (1995) arbeitet.


Japandroids

Jedes Ende einer beliebten Band aus dem VISIONS-Kosmos ist traurig, bei Japandroids tut es besonders weh, weil das kanadische Duo mit seinem letzten Album “Fate & Alcohol” nicht touren wird. Ein geplantes Interview mit VISIONS sagt Drummer und Sänger David Prowse ab, zuvor hat es nur wenige Pressegespräche gegeben. Das letzte Mal getroffen haben sollen sich er und Sänger und Gitarrist Brian King im März für finale “Fate & Alcohol”-Aufnahmen, Geschäftliches und das Albumcover-Fotoshooting. Sie haben sich auseinandergelebt, persönlich, musikalisch und auch räumlich: Prowse lebt in Vancouver, King seit einiger Zeit in Ann Arbor, Michigan, wo seine Frau an der Uni arbeitet. Die letzte Japandroids-Show hat damit bereits 2018 stattgefunden, als Abschluss der Tour zum Album “Near To The Wild Heart Of Life” aus dem Jahr davor.


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

Der Gamechanger

In den USA muss man nicht notwendigerweise tot sein, um eine Straße nach sich benannt zu bekommen, aber es hilft. Für jeden Jimi Hendrix, für jeden David Bowie und für jeden Tupac gibt es auch eine Missy Elliott, einen Dave Grohl, einen Paul McCartney, der theoretisch an seine eigene Adresse ziehen könnte. Bei Steve Albini erfolgt die Würdigung posthum, und zwar am 25. November an einem kalten Tag in Chicago. Hier in der West Belmont Avenue existieren seit 1997 Albinis Electric Audio Studios, deren strikt analoges Equipment einen legendären Ruf unter den unterschiedlichsten Musikern und Musikerinnen hat. Eine davon ist Kim Deal, bekannt von den Breeders und den Pixies, die mit einer kurzen Rede die Zeremonie eröffnet. Der Häuserblock mit den Hausnummern 2600 bis 2700 soll von jetzt an den Beinamen Steve Albini Way tragen, aus den direkt dort gelegenen Studios hieß es erst vor Kurzem, dass man die geschätzte Arbeit auch nach dem Ableben des Meisters weiterzuführen gedenke.

Albini sei ein fehlerhafter Mensch gewesen, sagt Deal, jemand, der sich innerhalb von zwei Sätzen selbst widersprechen konnte. Aber er hätte auch seine guten Seiten gehabt. “Er kannte den wahren Wert eines jeden Menschen”, sagt sie, nur um dann hinzuzufügen: “Naja, vielleicht nicht von jedem. Wenn du ein Mobber warst, konnte er dich überhaupt nicht leiden. Er war jemand, der immer für den Underdog eintrat. Er mochte Underdogs, Gewinnertypen dagegen nicht so wirklich. Ich glaube, er mochte Menschen mit einem gesunden Maß geringen Selbstbewusstseins.” Die Rede dauert nur kurz, aber sie ist herzlich und rührend. Fast so rührend wie das Foto, das die Breeders am Tag nach dem Tod des Produzenten im Mai auf den sozialen Netzwerken gepostet hatten. Es zeigt einen jungen Albini circa 1990 in zeittypischer Garderobe inklusive labbrigem weißem Sweater. In der einen Hand hat er ein Bündel Kabel, in der anderen einen ausgestreckten Mittelfinger. Was allegorische Darstellungen angeht, um das Leben eines Menschen auf den Punkt zu bringen, ist es eine der gelungeneren.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von The Breeders (@thebreeders)

Das Problem mit Musik

Was den Werdegang von Steve Albini angeht, muss man an dieser Stelle nicht mehr viele Worte verlieren. Der Nachruf in VISIONS 375 und Michael Setzers Noiserock-History in VISIONS 378 zeichnen bereits ein relativ detailliertes Bild, wichtiger als biografische Details sind im Zweifel die Philosophie Albinis und die Konsequenz, mit der er sie umsetzt. “Es geht Albini um Selbstermächtigung, Unabhängigkeit von der Plattenindustrie und unverfälschte Kultur”, schreibt Setzer. “Aber vor allem geht es ihm darum, die Energie einer Band im Raum einzufangen. Albini wird zu einer Art Volkshochschule und Taktgeber für den Underground, einem Dienstleister an der Kultur.” Dass dieses Kulturverständnis Zeit seines Lebens tief in einem Punk- und Underground-Credo verwurzelt bleibt, ist die nachhaltigste Hinterlassenschaft des Toningenieurs, auch wenn er damit immer wieder auf einen Konfrontationskurs gezwungen wird.

Zwei Dokumente – beide von 1993 – sind dabei bis heute am aufschlussreichsten. Bei dem einen handelt es sich um einen vierseitigen Brief, in dem er Nirvana über seine Vorstellungen von der Studioarbeit an “In Utero” informiert, bei dem anderen um einen etwa doppelt so langen Aufsatz mit dem schönen Titel “The Problem With Music”. Darin packt Albini über all das aus, was seiner Meinung nach im Argen liegt in der Musikbranche, und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Schon der ganze gewinnorientierte Ansatz der Branche ist in seinen Augen ein nicht wiedergutzumachender Fehler. “Wenn ich mit einer Band spreche, die im Begriff ist, bei einem Major-Label zu unterschreiben, denke ich an sie immer in einem bestimmten Kontext”, schreibt er gleich zu Beginn. “Ich stelle mir einen Graben vor, etwa einen Meter breit und fünf Fuß tief, vielleicht 60 Meter lang, gefüllt mit flüssiger, verwesender Scheiße. Ich stelle mir diese Menschen, manche davon gute Freunde, manche kaum Bekannte, an einem Ende dieses Grabens vor. Und ich stelle mir einen gesichtslosen Industrielakaien am anderen Ende vor, der einen Füllfederhalter und einen Vertrag in der Hand hält, der auf die Unterzeichnung wartet.”

Es folgt ein beispielloser Rundumschlag, bei dem er Plattenfirmen- und Pressemenschen und sonstiges Industriepersonal als Parasiten oder gleich als Scheißhaufen beschimpft und anhand eigener Erfahrungen schildert, was alles schiefgehen kann auf dem Weg zum Ruhm, wenn man seine künstlerische Integrität an der Studiotür abgibt. Anhand einer detaillierten Kostenauflistung führt er anschließend an, wie Major-Labels hoffnungsvolle junge Bands über den Tisch ziehen und in die finanzielle Leibeigenschaft führen können. Es ist die Art von Information, die die Branche lieber geheim hält und die Albini den Ruf eines Nestbeschmutzers einbringt. Und die ihn gleichzeitig zum Helden in den Augen von Fans und Bands macht, die mehr vom Leben wollen als die berühmten 15 Minuten zweifelhaften Ruhms.

Zu Albinis Integrität gehört schon damals seine Bereitschaft, einerseits mit jedem zusammenzuarbeiten, der seine Dienste requiriert, sich andererseits auch die nachträgliche Beurteilung dieser Zusammenarbeit vorzubehalten. Legendär, weil ätzend und lustig, sind seine Äußerungen über verschiedene der Gruppen, mit denen er zu tun bekommt, erfolgreich oder nicht. Die Pixies sind für ihn “eine Band, die selbst an ihren besten Tagen höchstens langweiligen College-Rock spielt” und kommen ihm nach ihrem Durchbruch wie “vier Kühe, die sich nach ihren Nasenringen sehnen”. Später revidiert der Produzent sein Urteil und baut eine lebenslange Freundschaft zu Kim Deal auf, doch sein loses Mundwerk ist bis zuletzt nicht totzukriegen. In ihrem Tribut nach Albinis Tod zeigen Fucked Up eine Mischung aus Irritation und Respekt, die typisch ist: “Du hast uns gehasst und dich über uns lustig gemacht, während wir in deinem Studio aufnahmen. Aber du bist für etwas Ehrliches und Faires in der Musik eingetreten und hast versucht, sie in allem, was du getan hast, besser zu machen. So einen wie dich wird es nie wieder geben.”

Toller Scheiß aus allen Ritzen

Zu dieser Ehrlichkeit und Fairness gehören im Grunde zwei Aspekte. Erstens die bereits angesprochene Integrität im Haifischbecken Musikindustrie, zweitens die Studioarbeit selber, der Aufnahmeprozess. Albini achtet den Wunsch jeder Band nach Ausdruck ihrer Kreativität, selbst wenn er mit der Musik persönlich nichts anfangen kann. Er glaubt, es sich selbst schuldig zu sein, die Essenz einer jeden Band zu erfassen und sie in ihrer musikalischen Vision zu unterstützen, unabhängig von seiner eigenen Qualitätseinschätzung. Den prestigeträchtigen Titel des Produzenten lehnt er rundheraus ab, denn er ist der Meinung, sich dadurch selbst zu sehr in den Vordergrund zu spielen. Der Personenkult, den namhafte Kollegen wie Rick Rubin, Ross Robinson oder Mutt Lange umgibt, ist ihm zuwider, und die Vorstellung, Songs am Mischpult auf Hit zu trimmen, unerträglich. Bei Albini soll der Kunde der König sein, und der Kunde ist die Band und nicht die Plattenfirma.

Um zu gewährleisten, dass das fertige Produkt ausschließlich den Vorstellungen der beteiligten Musiker:innen entspricht, wählt er einen minimalistisch anmutenden Aufnahmeansatz. Das Studioequipment ist rein analog, besonderen Wert legt er lediglich auf die Position der Mikrofone. Das Indie-Label Secretly Canadian postet kurz nach Albinis Tod ein von ihm selbst gezeichnetes Studioschema, das zeigt, wie er seinerzeit mit der Band Magnolia Electric Co. arbeitet. Entsprechend der Rolle der Instrumente positioniert der Toningenieur die Mikros, es ist ein wesentlicher Kunstgriff seiner Vorgehensweise und mit der wichtigste Teil seiner Vorbereitung. Durch einen möglichst einfachen Aufbau soll gewährleistet sein, dass so wenig wie möglich zwischen der musikalischen Idee und ihrer Umsetzung steht, denn der beste Sound ist für Albini der Livesound. Endlose Takes, Overdubs und nachträglich eingebaute Effekte sind ihm ein Gräuel, weshalb er die Bands, die er aufnimmt, dazu animiert, ihr Repertoire anderswo zu proben, um dann in seinem Studio direkt auf den Punkt zu kommen. Wenn es einer Band nicht gelingt, in einem oder zwei Takes ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen, kann der Produzent schnell die Geduld verlieren. Musiker:innen, die das etablierte Schichtverfahren gewohnt sind, bringt das bis­weilen zur Weißglut, doch sie schätzen auch die Herausforderung, vor die Albini sie stellt.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Secretly Canadian (@secretlycanadian)

“Jeder kann Noten spielen”, sagt er. “Das ist keine Kunst. Die Kunst besteht darin, eine Gitarre dazu zu bringen, Dinge zu tun, die überhaupt nicht wie eine Gitarre klingen. Hier geht es darum, Grenzen zu erweitern.” Entsprechend blumig werden Musiker:innen zuweilen, wenn sie beschreiben sollen, wie sich die Arbeit mit ihm anfühlt. “Er hat einige der zermürbendsten Sachen geschrieben, die jemals aufgenommen wurden, verwirrende Cinéma-Vérité-Aufnahmen, die den Fokus von klein/trocken zu riesig/höhlenartig zogen, ein Volleyball, der gegen einen Maschendrahtzaun schlägt, und eine Gitarre, die sich seit meiner Jugend in meinem Gehirn eingebrannt hat”, schreibt etwa Dan Boeckner von Wolf Parade. Albinis Philosophie gilt dabei nicht nur für die zahllosen Bands und Musiker:innen, mit denen er ins Studio geht, sondern exemplarisch auch für seinen eigenen kreativen Output. Mit Big Black, Shellac und seinen diversen Nebenprojekten lebt er vor, was er sich unter der Lust am lauteren Lärm vorstellt.

“Mindestens so prägend für alles, was später Noiserock genannt werden soll, ist neben Albinis Musik, die er nach Rapeman mit Shellac weiterführt, seine Ästhetik”, schreibt Michael Setzer. Eine Ästhetik, die auch auf “To All Trains”, dem letzten, wenige Tage nach seinem Tod veröffentlichten Shellac-Album zu Tage tritt. “Toller Scheiß quillt hier aus allen Ritzen”, urteilt der VISIONS-Autor damals über die LP. “Shellac sind auch 2024 roher, aufs Greifbare reduzierter Rock, beiläufig hochmusikalisch, irrsinnig dynamisch, ohne Anwandlungen von Gefallsucht und mit en masse cleverem Zeug, das von überall herkommt, nur eben nicht, weil zu viel darüber nachgedacht wurde. Bauch, Herz, fertig, aus. Ja, Zynismus und rechtschaffene Wut auch.”

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von The Breeders (@thebreeders)

Bauch, Herz, fertig, aus. In knapperen Worten lässt sich womöglich nicht zusammenfassen, was Albinis künstlerische Lebensan­schauung ausmacht. “Ich habe an Hunderten von Platten gearbeitet (manche großartig, manche gut, manche schrecklich, viele davon im Hinterhof), und ich habe während des gesamten Prozesses einen direkten Zusammenhang zwischen der Qualität des Endergebnisses und der Stimmung der Band gesehen”, meint er. “Wenn die Aufnahme lange dauert und alle genervt sind und jeden Schritt hinterfragen, dann haben die Aufnahmen wenig Ähnlichkeit mit der Liveband, und das Endergebnis ist selten schmeichelhaft. Punk-Platten zu machen ist definitiv ein Fall, bei dem mehr ‘Arbeit’ nicht gleichbedeutend mit einem besseren Endergebnis ist.” Und weiter: “Ich bin nur daran interessiert, an Platten zu arbeiten, die die eigene Wahrnehmung der Band von ihrer Musik und Existenz widerspiegeln. Wenn sie sich dazu als Grundsatz der Aufnahmemethodik verpflichten, werde ich mir den Arsch für sie aufreißen. Ich werde rund um die Uhr mein Bestes für sie geben.”

Punkrock und Professionalität müssen sich für Albini dabei nicht ausschließen, im Gegenteil. “Wenn du ins Studio gehst und mehr als fünf Leute da sind, wird erfahrungsgemäß eine der Kopfhörerboxen nicht funktionieren”, erinnert sich Kim Deal, die aktuell auch ein Albini-Gedächtnis-T-Shirt über die Breeders-Homepage vertreibt, anlässlich der Aufnahmen zu ihrem Soloalbum. “Nicht mit Steve. Was auch immer man tun will, alles wird funktionieren. Alles stimmt. Dieser Mann, den ich mit seinem überragenden Ruf als Punk-Typ gewohnt bin, ist einfach so vorbereitet, so professionell.” Neurosis, die mit Albini gleich mehrere Platten aufnehmen, beschreiben es ähnlich. “Wir haben von Steve so viel über No-Nonsense, High-Fidelity und analoge Aufnahmen gelernt, und mit der Zeit wurden unsere Sessions immer schneller und schneller”, schreibt die Band in ihrem Nachruf. “Er hat unseren Traum wahr gemacht, toll klingende Aufnahmen unserer Band zu machen, und dafür sind wir ihm für immer dankbar.”

Friede den Hütten, Krieg den Palästen

Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang auch die egalitäre Haltung, für die Albini über die Studiopraxis selbst hinaus bekannt war. Wenn er die Aufnahmetaste drückt, lässt er sich nicht von Ruhm und kommerziellem Erfolg blenden. Die obskurste japanische Außenseiter-Band nimmt er genauso wichtig wie den Auftrag, einen Millionenseller für Bush zu produzieren. Und was Millionenseller angeht, ist wohl keine seiner Arbeiten so bedeutend wie die für Nirvanas “In Utero”. Als die Band seine Dienste anfragt, bekundet Albini nicht nur Interesse, sondern schreibt der Band einen ausführlichen Brief, in dem er in fünf Punkten seine Vorgehensweise darlegt und sie auf seine Philosophie einschwört. “Ich halte es nicht für meine Aufgabe, euch zu sagen, was ihr tun oder spielen sollt. Ich lasse euch gerne meine Meinung wissen, aber wenn die Band beschließt, etwas zu tun, sorge ich dafür, dass es auch passiert”, steht da. “Ich lasse gerne Raum für Unfälle und Chaos. Eine nahtlose Platte zu machen, auf der jede Note und jede Silbe am rechten Ort ist und die Basstrommel jeweils identisch, ist keine Kunst. Ich ar­beite lieber an Platten, die Größeres im Sinn haben, Dinge wie Originalität, Persönlichkeit und Enthusiasmus.”

Der Brief ist offen und ehrlich, doch es ist der fünfte Punkt, der Albini wohl von allen anderen Produzenten der Welt unterscheidet. Unter der Überschrift “Knete” wird da nämlich veranschaulicht, dass er ein gänzlich unamerikanisches Verständnis vom Geldverdienen hat. “Ich habe es Kurt schon mal erklärt, aber ich denke, ich erwähne es hier noch einmal”, schreibt der Toningenieur. “Für alle Aufnahmen, die ich mache, will und werde ich keine Tantiemen und keine Beteiligung annehmen. Ich finde es ethisch nicht zu verteidigen, einem Produzenten oder einem Toningenieur Tantiemen zu zahlen. Die Band schreibt die Songs. Die Band spielt die Musik. Die Fans der Band kaufen die Platten. Die Band ist dafür verantwortlich, ob es ein großartiges oder ein furchtbares Album wird. Tantiemen gehören der Band. Ich möchte bezahlt werden wie ein Klempner: Ich erledige den Job, und ihr bezahlt mir den Wert der Arbeit. Die Plattenfirma erwartet, dass ich ein oder anderthalb Prozent verlange. Wenn man von Verkäufen von drei Millionen ausgeht, wären das circa 400.000 Dollar. Um nichts auf der Welt würde ich so viel Geld annehmen. Ich würde nicht mehr schlafen können.” Am Ende sind es wohl eher zwei Millionen Dollar, die sich der Produzent durch die Lappen gehen lässt. Eine Summe, die jeden anderen um den Schlaf bringen würde. Und ein hoher Preis für eine Integrität, die sich nicht einmal überall herumspricht. Steve Albini war trotzdem bereit, ihn zu zahlen.


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

Fünf für ’25

Girlpuppy

Dass Becca “Girlpuppy” Harvey bereits 2022 ein erstes Album veröffentlicht hat, dürften vornehmlich Menschen auf dem nordamerikanischen Kontinent mitbekommen haben. “When I’m Alone” erscheint über das Indie-Label Royal Mountain aus Toronto, ebenso wie ihre Debüt-EP “Swan” von 2021. Darauf: schöner Indierock mit Songwriter-Tendenz, angesiedelt in der Nachbarschaft von Soccer Mommy, Snail Mail, Slow Pulp, Shitney Beers und Boygenius. Jetzt hat Harvey, die in Atlanta lebt und aus Brooklyn stammt, beim einem anderen Indie-Label unterschrieben. Dank Captured Tracks wird ihr nächstes Album dann hoffentlich eine größere Aufmerksam zuteil. Wann das kommt, ist noch nicht bekannt – aber immerhin gibt es mit “Champ” eine erste Single, die ihren Indie-Pop mit etwas satteren Gitarrenfarben zeichnet.


Monokay

Offensichtlich hat Österreich musikalisch weit mehr zu bieten als Bilderbuch, Wanda, Der Nino aus Wien und Mozart. Wäre auch Mumpitz, was anderes zu denken. Aber bei den offensichtlichen Big-Playern des Austropop kann schon mal ein Subkulturpflänzchen wie Monokay untergehen. Was nicht sein sollte, denn die vierköpfige Band aus Wien hat auf ihren ersten Songs, Singles und EPs bewiesen, dass sie international wettbewerbsfähig sind. Und zwar mit einem Hardcore-Mix, der das angestaubte Genre mit Elementen aus Grunge, Indie, Shoegaze und wilden Sound-Experimenten anreichert. Deshalb beschreiben sie ihren Stil auch mit dem Begriff “Nu-Grunge-Gaze-Core” – und verpacken die Songs hinter authentischen 90s-Artworks. Fans von US-Schwergewichten wie Turnstile, Angel Du$t und Drug Church sollte das glücklich machen.


Alligator Ladies

Eigentlich haben Ben Avgay und Eden Atiya noch andere Baustellen. Avgay etwa spielt mit Silvie Jan in einem Trio, das eine eigentümliche Mischung aus Bedroom-Pop, Avantgarde und Psychedelic fabriziert. Atiya wiederum ist Teil des Trios Rasco, das eine sympathische Mischung aus Psych-Pop, Surf und Indie bietet. Was beiden Projekten fehlt, ist das Fuzzpedal. Doch das packen das Duo jetzt aus. Als Alligator Ladies orientieren sie sich an zeitgenössischen Psych-Helden wie Ty Segall und MGMT – und auch an den mystischen 70er-Exzentrikern Ramases & Selket. Mit “Crazy Magic Man” und “Eeee Wow!” haben sie bereits zwei Songs veröffentlicht, die das Gleichgewicht aus krachenden Gitarren und süßlichem Psych-Pop bewahren. Zu finden gibt es die dann ab dem 28. Februar auf dem nach der Band benannten Debütalbum.


Split Chain

Ähnlich wie Monokay sind auch Split Chain verliebt in eine Ästhetik aus den 90ern und frühen 00er Jahren sowie Logo-Schriftzügen, die so heute auf verwaschenen T-Shirts von einst zu finden sind. Mit ihrem Sound blickt der Fünfer aus Bristol ebenfalls zurück. “Extract” klingt ziemlich exakt wie die Deftones auf “Around The Fur”. Wie diese verbinden Split Chain Groove Metal und Alternative Rock, Grunge, Shoegaze und Post-Hardcore zu einem gleichzeitig frischen wie retroesken Sound. Nach mehreren seit April 2023 via Bandcamp veröffentlichten Songs hat Epitaph die Band kürzlich gesignt. Split Chain haben die Chance direkt genutzt und “Extract” noch mal mit den kanadischen Grunge-Zwillingen Softcult aufgerüscht und Type O Negatives Goth-Punk-Song “I Don’t Wanna Be Me” gecovert.


Pult

Jascha Kreft hat gut zu tun. Mit seiner Band Odd Couple hat er für den 4. April das fünfte Album “Rush-Hour des Lebens” angekündigt. Außerdem ist er seit gut zwei Jahren der vierte Mann bei Kadavar – mit denen er 2025 ebenfalls ein Album veröffentlicht. Trotzdem hat er es sich nicht nehmen lassen, mit seinem langjährigen Buddy Niklas Tschaikowsky das Projekt Pult zu gründen. Über das eigene Label Geld Records haben Pult im September eine Seven-Inch mit den Stücken “Gassi (Rückenwind)” und “Klingbim” veröffentlicht. Beide sind herrlich verspielte, vielschichtige Instrumentals, die zwischen Southern Rock und 70er-Soundtrack, sonnigem Psych und catchy Krautrock Fans der Allah-Las bis Unknown Mortal Orchestra, Air bis Stereolab gleichermaßen glücklich macht. Ein Album ist frühestens in der zweiten Hälfte von 2025 möglich.


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

Harte Musik für harte Zeiten

50

Hot Water Music Vows

VÖ: 10. Mai | Label: End Hits
Hot Water Music - Vows

Das zehnte Album von Hot Water Music zum 30-jährigen Bandjubiläum zeigt, was für einen respektablen und vorbildhaften Status die Punk-Veteranen genießen: Thrice, The Interrupters und Dallas Green von Alexisonfire geben sich auf “Vows” die Ehre. “Fences” erinnert an den hymnischen Alternative-Sound von “To Be Everywhere Is To Be Nowhere” (2016), während Green das emotionale “After The Impossible” mit seiner zarten Stimme veredelt. Der Opener “Menace” ist aus eigener Kraft ein waschechter Hit: Gitarrist Chris Cresswell, der mittlerweile fester Teil der Band ist, verleiht dem Refrain einen kratzigen, hymnischen Anstrich. “Touch The Sun” klingt sogar wie ein Flatliners-Song, während Frontmann Chuck Ragan in “Searching For Light” und “Remnants” seine warme Whiskeystimme glänzen lässt. Mit “Vows” haben Hot Water Music sich nicht nur durch ihre Gäste ein Geschenk gemacht. Das Album zeigt die Band aus Gainesville auch so stark und leidenschaftlich, wie man es sich als Fan nur wünschen kann. Im letzten Song “Much Love” heißt es entsprechend inbrünstig und herzerwärmend: “So much in life won’t stay the same/ But this right here will never change.”
Vivien Stellmach


49

Chat Pile Cool World

VÖ: 11. Oktober | Label: The Flenser
Chat Pile - Cool World

Wenn man Chat Pile selbst glauben möchte, dreht sich ihr Album “Cool World” um “Unterdrückung, Verzweiflung und Unwohlsein”. Nur diesmal nicht auf der persönlichen, sondern der globalen Ebene. Ihr bedrohlicher Sludge-Grunge-Noise-Mix passt perfekt zu diesem Konzept und verstört vom ersten Song “I Am Dog Now” an: vom Maschinenmenschen-Groove, den Sänger Raygun Bush mit kehligem Gekeife überzuckert, über das völlig neben der Spur fahrende Geschrei im Mittelteil bis zum Outro, in der sich Bushs Stimme vor Aussichtslosigkeit überschlägt. Selbst wenn er sich an normalem Gesang versucht, bleibt “Cool World” unbehaglich und düster. So wie im Goth-Grunge “Camcorder”, dem schleppenden “Milk Of Human Kindness” oder dem nach verzweifelteren Drug Church klingenden “Masc”. Klar ist es heutzutage wichtiger denn je, sich die Hoffnung zu bewahren, wo es nur geht. Die Welt ist weiß Gott schlimm genug. Aber manchmal muss man sich auch den Raum geben, für eine halbe Stunde bis Stunde in die Dunkelheit abzutauchen. Dafür ist “Cool World” der perfekte Soundtrack, der seinen Genremix exzellent ausbalanciert und gleich­zeitig ausgeklügelt und roh klingt.
Florian Zandt


48

48

Slift Ilion

VÖ: 19. Januar | Label: Sub Pop
Slift - Ilion

Experimentierfreude steht auch auf dem dritten Album des französischen Trios groß auf der Visitenkarte. Zusammengehalten von einem futuristischen Gesamtkonzept spielt die Band aus Toulouse sich auf “Ilion” erneut nach vorne im Bereich der High-Information-Musik. Treibendes Schlagzeug und dichte Riff-Texturen schichten überwältigende Klangwände auf, vor denen Bassist Rémi Fossat Pick-schreddernd Skalen abfeuert – die kann er sich nur durch einen Deal mit dem Teufel verdient haben. Sein Bruder Jean webt mit effektbeladener Gitarre, einem Synthesizer und seinen kehligen Screams Klangflächen, die im Zweifel lieber verstören als stilsicher vom Erbe des Krautrock zu zehren. In Prog-Brocken wie dem zwölfminütigen “The Words That Have Never Been Heard” bleiben Slift so eher künstlerischer Radikalität verbunden statt wie eine Generation von Neo-Proggern zitatsicher Musikgeschichte der 70er zu erzählen. “Ilion” wird schnell zum Gift, wenn es als Nebenbei-Soundtrack konsumiert wird. Wer sich der Platte aber wie einem gefährlichen Treibstoffgemisch nähert, findet hier den Sprit für eine facettenreiche Reise durch andere Musikuniversen.
Martin Iordanidis


47

Blues Pills Birthday

VÖ: 2. August | Label: BMG
Blues Pills - Birthday

Auf “Birthday” verabschieden sich Blues Pills vom selbst verordneten Diktat, so retro wie möglich zu klingen. Immerhin hat das schwedische Quartett seinen Retrosound vorher über drei Alben lang bis zum Exzess gefeiert. Ihr neues Soundkleid webt mit Freddy Alexander ein Produzent, der eher dem Pop zugewandt ist als dem Rock. Sängerin Elin Larsson denkt aber auch auf dem Hochglanzpapier von “Birthday” nicht daran, ihre Stimme glattzuschmirgeln. Kompakte Dreiminüter wie “Don’t You Love It” oder “Bad Choices” zeigen die Popgenetik der Band und kitzeln jenes Hitpotenzial heraus, das sich nach Jahren auf Tour entwickeln konnte. Gitarrist Zack Anderson steuert lieber Hooklines für den Hinter­grund bei, statt wie auf dem Vorgängeralbum “Holy Moly!” in überlange Improvisationen abzutauchen. “Birthday” ist reduziert und konzentriert im besten Sinne. Durch die lichten Arrangements und das von Grund auf bereinigte Klangbild entstehen Räume, die Larsson in “Top Of The Sky” mit fantastischem Crooning auszufüllen weiß. Ihre erste Schwangerschaft funktioniert so auch als ästhetisches Zentrum eines charttauglichen Albums perfekt.
Martin Iordanidis


46

Fever 333 Darker White

VÖ: 4. Oktober | Label: Century Media
Fever 333 - Darker White

Das zweite Album von Fever 333 erhöht den HipHop-Anteil im Crossover-Sound aus Rap, Hardcore und Metal. Frontmann Jason Butler hat “Darker White” zusammen mit den neuen Mitgliedern Thomas Pridgen (Ex-The Mars Volta), April Kai und Brandon David (Ex-Therefore I Am) geschrieben und aufgenommen. Songs wie “Murderer” und “Nosebleeds” lassen den aktivistischen und kritischen Geist des Debüts “Strength In Numb333rs” (2019) aufleben. Die Band beschäftigt sich mit dem Leben von People of Color in den USA. “$wing” dreht sich um deren Ausbeutung in der Sportindustrie, im Opener “New West Order” geht es um Butlers Jugend und fehlende Diversität in der Rockmusik. “No Hostages” ist einer der besten Songs: Die Hymne driftet im Refrain in Metalcore-Gefilde ab und stellt den Rassismus im US-Justizsystem an den Pranger. In “Bull & A Bullet” sorgen Soul-Elemente und Sprechgesang für Abwechslung, während “Tourist” auch mit Funk und R&B experimentiert – stimmlich verfolgt Butler hier einen ähnlichen Stil wie Kendrick Lamar. “Darker White” braucht dieses Energielevel auch nicht bis zum Schluss aufrechtzuhalten, um eines der besten Crossover-Alben des Jahres zu sein.
Vivien Stellmach


45

Cloud Nothings Final Summer

VÖ: 19. April | Label: Pure Noise
Cloud Nothings - Final Summer

Als passionierter Marathonläufer versteht Dylan Baldi das Prinzip Ausdauer – ein Prinzip, das er auch konsequent auf seine Band Cloud Nothings überträgt. “Final Summer” profitiert von der Möglichkeit, sich jahrzehntelang frei zu entfalten, während lautere, ähnlich gelagerte Bands im Rampenlicht stehen. Beharrlichkeit zeigt sich sowohl in den hartnäckig lebensbejahenden Texten als auch in der steten Weiterentwicklung des Gitarrensounds und Zusammenspiels. “Final Summer” überzeugt vor allem mit Baldis gutem Gespür für Gegensätze: Die scheinbare Unvereinbarkeit von rauer Energie und melancholischer Harmonie wird zur treibenden Kraft und entfaltet eine fesselnde Spannung. Ausschweifende Texte und verwinkelte Songstrukturen sind für diesen Sprint ins Herz nicht nötig. Die Gitarren weisen jedem Song – schneidend, luftig oder transparent – den besten Weg, treiben das Schlagzeug souverän vor sich her, führen den Bass an der Leine. Cloud Nothings verewigen ein bitter-süßes Lebensgefühl, wie der Geruch, der entsteht, wenn Regen im August auf den trockenen Boden fällt. Aber auch im Winter bietet sich “Final Summer” als warmer Zufluchtsort an.
Nadine Schmidt


44

Big Special Postindustrial Hometown Blues

VÖ: 10. Mai | Label: So
Big Special - Postindustrial Hometown Blues

Das Cover lügt: Auf ihrem Debüt zeigen Big Special, dass britischer Post-Punk aus der Working Class über mehr Schattierungen verfügt als Grautöne. Klar, stilprägende Bands wie Idles und Shame stecken im Herz der Musik von Sänger Joe Hicklin und Schlagzeuger Callum Moloney, ihre Geschichten aus den englischen West Midlands öffnen die Perspektive musikalisch und inhaltlich aber für mehr. Von der Hoffnung, all dem zu entkommen, und sanften Bläsern (“DiG!”) über dichtes Storytelling vor pochenden Synthies (“Broadcast: Time Away”) bis zum Siedepunkt zwischen Soul und Punk (“This Here Ain’t Water”) ist das Feld geöffnet. Gemeinsam taumelt das Duo durch die Gassen, mal mit übersteuerter Punkwut, mal mit Sprechgesang zu flackerndem Synthie-Beat zwischen Deadletter und Sleaford Mods, zuletzt aber auch versöhnlich in mit Bläsern untermalten Storytelling-Momenten. So exzentrisch und beißend wie auf der Single “Shithouse” klingen Big Special auf dieser Platte selten. Stattdessen schlummert Zuversicht unter einem Morast aus Mental-Health-Problemen, Klassenkampf und Verwahrlosung. Selten wurde diese Zuversicht 2024 so vielschichtig skizziert.
Julia Köhler


43

Mannequin Pussy I Got Heaven

VÖ: 1. März | Label: Epitaph
Mannequin Pussy - I Got Heaven

Mit “I Got Heaven” veröffentlichen Mannequin Pussy im März 2024 ihr widersprüchlichstes und gleichzeitig interessantestes Album. Die zehn Songs setzen die Hörer:innen heftigen Wechselbädern der Emotionen aus, musikalisch wird der Bogen von wütendem Hardcore-Punk bis lieblichem Indiepop weit gespannt – ohne zu reißen. Der Vergleich mit Holes Klassiker “Live Through This” ist gerechtfertigt, gelingt es den vier aus Philadelphia doch wie einst Courtney Love, die Paradoxien aus weiblichem Begehren, Hass, Lust und Sehnsucht zu thematisieren. Fast jede Zeile dieses Albums ist Warnung und Aufforderung zugleich: “Tell me what you need”, schreit Marisa Dabice im hart rockenden, gerade mal anderthalbminütigen “Aching”. “I Don’t Know You” ließe sich hingegen als romantisches Liebeslied voller Selbstzweifel verstehen, schraubte sich nicht diese gewaltig dröhnende Gitarrenwand in den so sanft und zärtlich beginnenden Shoegaze-Sound. Ihre offen gezeigte Verletzlichkeit, die die Musik von Mannequin Pussy schon immer so persönlich und eindringlich machte, nutzt die Band auf “I Got Heaven” für unerwartete Wendungen. Es bleibt spannend bei Mannequin Pussy.
Christina Mohr


42

High On Fire Cometh The Storm

VÖ: 19. April | Label: MNRK Heavy
High On Fire - Cometh The Storm

Ein Vierteljahrhundert Scheiße fressen und in Gold umwandeln: High On Fire sind einfach nicht kaputtzukriegen. Natürlich nicht, denn kaputt genug sind sie von Natur aus. Entgegen allen Ungemachs gesundheitlicher Art und bei aller personellen Dynamik der vergangenen Jahre ballen Sänger und Gitarrist Matt Pike, Bassist Jeff Matz und der Neuzugang am Schlagzeug, Coady Willis, die Fäuste und erschaffen mit “Cometh The Storm” ein Album, wie es archetypischer für diese Band nicht sein könnte. Alle Parameter werden abgerufen, alle Schlüsselelemente bedient, alle High-On-Fire-Momente genüsslich zelebriert. Genauso muss es sein. Die Innovation liegt hier in der nie endenden Gegenwart des Riffmonuments, im zeitlosen Zauber des Getöses. Produzent Kurt Ballou gelingt es, die knorrige und dabei wild lodernde Macht des wohl ultimativen Power Trios des Sludge herauszuarbeiten und fast schon körperlich greifbar zu machen: dreckig und wuchtig, als stünde die Band auf der Bühne, und dennoch schillernd. Durchzogen von orientalischen Ziselierungen stellt der Brocken “Cometh The Storm” somit ein Highlight einer hoffentlich noch lange währenden Karriere dar.
Ulf Imwiehe


41

Geordie Greep The New Sound

VÖ: 4. Oktober | Label: Rough Trade
Geordie Greep - The New Sound

Ex-Black Midi-Gitarrist Geordie Greep feiert mit seinem Soloeinstand eine so farbenfrohe wie blutrünstige Kirmes des Unmöglichen. Nach dem Ende seiner Experimental-Rock-Band vernetzt Greep mit neuer Beinfreiheit die klassische Rockbesetzung in wieselflinken Stücken mit der einer Bigband. Er wechselt die Szenerie zwischen Jazzkeller, Prog-Schuppen und Strandparty schneller als die Klamotten. Für sein hanebüchenes Unterfangen schart er ein Team aus 30 Leuten um sich, die es jeder Wette zum Trotz schaffen, dass die Songs die Oberhand über die Komplexität behalten. Greeps Stimme erinnert inmitten der Virtuosität mehr denn je an Fish von Marillion. Als hätten sich die Prog-Veteranen in Funk verliebt und einen Liter Espresso getankt. Wobei sich Vergleiche an dieser Stelle eigentlich verbieten, lässt die musikalische Spannweite von Progrock, Jazz, Ausdruckstanz zu lateinamerikanischen Rhythmen bis zu Funk und Yacht Rock kaum etwas aus. Dass “The New Sound” trotzdem so frisch und unterhaltsam geraten ist, gleicht einer Unmöglichkeit, die Greep 2024 nicht nur seiner Konkurrenz, sondern vor allem seiner einstigen Hauptband voraushat.
Daniel Thomas


40

The Jesus Lizard Rack

VÖ: 13. September | Label: Ipecac
The Jesus Lizard - Rack

Schon super, dass The Jesus Lizard nicht dort anknüpfen, wo sie vor 26 Jahren aufgehört haben. Natürlich ist “Blue” (1998) nicht so schlimm, wie viele behaupten, aber eben auch nix, wofür man damals eine Postkarte nach Hause geschrieben hätte. Außerdem: 26 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Chicagos Noiserock-Primaten addieren sich: “Hide & Seek”, “Falling Down” und “Moto (R)” explodieren mit Punkrock-Energie, “Alexis Feels Sick” mit der Lizenz zum Nerven sägen, und was Duane Denison in Grind mit seiner Gitarre anstellt, grenzt an Irrsinn. Überhaupt schimmern immer wieder Tomahawk‘sche Sollbruchstellen durch das überraschend musikalische Comeback, ehe David Yow zwischen Vorstadtpsycho, creepy Uncle, Nervensäge und dem besten Punk-Frontmann der Welt alles ausleuchtet – mit dem Flammenwerfer. Am Ende bleiben The Jesus Lizard die einzige Band der Welt, die in Kunst fassen kann, wie es sich wohl anfühlt, ausgerechnet in einer voll­gepissten Rastplatztoilette festzustellen, dass man Löcher in den Schuhsohlen hat. Muss man wollen, klar. Aber das, so viel Nostalgie muss auch erlaubt sein, ist der Kern von Yow & Co.: The Jesus Lizard muss man wollen.
Michael Setzer


39

Fu Manchu The Return Of Tomorrow

VÖ: 14. Juni | Label: At The Dojo
Fu Manchu - The Return Of Tomorrow

In einem Genre wie Stoner Rock, in dem Wiederholung und Reduktion zur Kunstform erhoben werden und mehr vom Gleichen nicht selten als zentrale Maxime des künstlerischen Outputs dient, ist es mitunter schwierig herauszustechen. Geschweige denn, nachhaltig zu beeindrucken. Wie man es trotzdem schafft, zeigen Fu Manchu auf “The Return Of Tomorrow”. Dafür brauchen die Kalifornier nicht viel und vor allem nicht viel Neues: Bass, Fuzz und Massen an Riffs bilden auch auf dem mittlerweile 13. Album in der Geschichte von Fu Manchu das musikalische Fundament der Band um Sänger und Gitarrist Scott Hill. Dass sich die Band 2024 jedoch anders als andere Stoner-Rock-Legenden nicht in öder Selbstreferentialität verliert, ist vor allem dem vorzüglichen Songwriting geschuldet. Das Quartett aus Orange County, Kalifornien balanciert wie selbstverständlich auf der Schnittkante zwischen Groove und Heaviness, feiert das eigene Standing als Genre-Primus und macht “The Return Of Tomorrow” somit nicht nur zu einem der Album-Highlights des Jahres. Es ist auch Beweis der eigenen ungebrochenen Relevanz im mittlerweile 39. Jahr des Bandbestehens.
Marcel Buchwald


38

Knocked Loose You Won't Go Before You're Supposed To

VÖ: 10. Mai | Label: Pure Noise
Knocked Loose - You Won't Go Before You're Supposed To

Mit klarer Kante strecken Knocked Loose auf “You Won’t Go Before You’re Supposed To” in zehn Songs alles nieder. Dass die Band aus Kentucky die Quintessenz einer guten Hardcore-Platte schon seit einigen Jahren verinnerlicht hat, ist bekannt, ihr drittes Album verfügt aber über die optimale Mischung aus brutaler Härte und dem nötigen Biss beim Songwriting. Das polarisiert einige Monate nach der Veröffentlichung sogar die breite Masse, als Knocked Loose gemeinsam mit Poppy ihren Song “Suffocate” im Rahmen von “Jimmy Kimmel Live” im US-Fernsehen spielen – das gemeine Publikum fordert eine Entschuldigung, die Hardcore-Community lacht sich ins Fäustchen. Massentauglich geben sich Knocked Loose schließlich keinesfalls, setzen innerhalb ihres Genrerahmens aber neue Maßstäbe dafür, was eine gute Platte beinhalten sollte. Ob Blastbeats, die pure Aggression von Frontmann Bryan Garris oder emotionalere Momente, die von Feature-Gast Chris Motionless geliefert werden, Stillhalten fällt während der 27-minütigen Laufzeit von “You Won’t Go Before You’re Supposed To” schwer. Der Weg in Richtung des nächsten Moshpits scheint weitaus verlockender.
Nicola Drilling


37

Weite Oase

VÖ: 22. November | Label: Stickman
Weite - Oase

Es gibt Stimmen, die behaupten, Post-Rock, Post-Metal und Konsorten seien tot. Oder sie finden die instrumentalen Breitwandepen zu artsy, zu prätentiös, zu viel Lärm um nichts. Es stimmt schon, dass es immer schwieriger wird, dem Genre noch etwas abzuringen. Andererseits möchte man diese Leute als wohlmeinender Fan manchmal wahlweise auf den Mond schießen, denn auf dessen Rückseite scheinen sie zu wohnen, oder eben zum Pelagic Fest, wo Bands wie And So I Watch You From Afar all die Vorbehalte spektakulär entkräften. Bei Weite handelt es sich um eine dieser Bands, die auch bei Pelagic oder Dunk! gut aufgehoben wären, es sind wohl ihre Entspanntheit und der psychedelische, kosmische Touch ihrer Stücke, weshalb sie zu Stickman passen – und natürlich, dass Schlagzeuger Nick DiSalvo mit Elder und Delving dort veröffentlicht. Aber um ihn geht es bei Weite nicht. Es geht um Raum, dessen Deutung und darum, darin Platz und melodische Anknüpfungspunkte zu schaffen für die Zuhörenden, die, zugegeben, von anderen Post-Rock-Bands gerne mal im Stich gelassen werden. Es geht darum, einen Ort in der Leere mit Leben zu füllen. So einen Ort nennt man: Oase.
Martin Burger


36

Hammerhead Nachdenken über Deutschland

VÖ: 9. Februar | Label: Holy Goat
Hammerhead - Nachdenken über Deutschland

Nachdenken über Deutschland? Stand jetzt, zwischen Remigrationsplänen oder dem geplanten Abbau des Sozialstaats, lieber nicht. Hammerhead machen das Gedankenspiel auf dem gleichnamigen Album, 26 Jahre nach der bislang letzten Platte in voller Länge, trotzdem mit. Dass dabei kein Popalbum rauskommt, war klar. Vielmehr kanalisiert die Band ihre Wut auf Autokultur, die Neue Rechte, Kriegstreiberei und den sogenannten “aktuellen Zeitgeist” in 14 Songs, von denen nur vier die Zwei-Minuten-Marke knacken. Die Stücke selbst schwanken zwischen Midtempo-Stampfern wie “Spaß und Politik”, Doubletime-Schlagzeug-Brechern wie “Alle pissen an den Dom” und Blastbeat-Exkursen wie in “Ich bin noch ganz der Alte”. Klassischer Hardcore-Punk eben, mit Kante, Aggression und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie man ihn eher aus den 80ern und 90ern kennt. Hammerhead verwehren sich modernen Genre-Strömungen – und das hat seinen Reiz. Sowohl für diejenigen, die mit kompromisslosem Hardcore aufgewachsen sind, als auch für nachwachsende Generationen, die wissen wollen, wo deutschsprachiger Hardcore zwischen Provokation und Angepisstsein seine Wurzeln hat.
Florian Zandt


35

Primal Scream Come Ahead

VÖ: 8. November | Label: BMG
Primal Scream - Come Ahead

Wenn nach 40 Sekunden ein Synthesizer fiept und einer der tanzbarsten Beats des Jahres einsetzt, hat man eine Sorge weniger. “Come Ahead” dockt bei “XTRMNTR” und “Screamadelica” und nicht an der langatmigen Rolling Stones-Phase von Primal Scream an. Die Stimmung im Opener “Ready To Go Home” ist gelöst. Wie sich Gillespie und ein Gospelchor die Bälle zuspielen, macht Spaß, der Bass pumpt, das Schlagzeug schiebt. Alles scheint bereit für eine unbeschwert durchtanzte Nacht, bis man realisiert, dass Gillespie mit diesem Song seinen sterbenden Vater loslässt. Euphorischer und angstfreier ist dieses Jahr niemand dem Tod eines geliebten Menschen begegnet. Diese Doppeldeutigkeit setzt den Ton für die zehn weiteren Songs. Wie einst Heaven 17 mit “Fascist Groove Thang” verkleiden Primal Scream ihre politische Botschaft musikalisch und erreichen so noch mehr Durchschlagskraft. “Deep Dark Waters” etwa ist gleichermaßen Abrechnung mit jenen Kräften, die den Brexit betrieben haben, wie Erinnerung, aus der Geschichte zu lernen, sonst wiederholt sie sich: “Shadows from the past/ Cancelling the future/ We thought we’d seen the last/ Of the Euro high class butchers”.
Florian Schneider


34

Chelsea Wolfe She Reaches Out To She Reaches Out To She

VÖ: 9. Februar | Label: Concord
Chelsea Wolfe - She Reaches Out To She Reaches Out To She

Chelsea Wolfes Alben sind Messen der dunklen Sorte, ihre Konzerte sowieso. Als selbsternannte Hexe mit veritabler Alkoholsucht scheuen ihre Songs seit jeher das Tageslicht wie der Teufel das Weihwasser. Während die meisten ihrer Alben von ängstlicher Zurückhaltung geprägt sind, gibt “She Reaches Out To She Reaches Out To She” mit verzerrten Gitarrenschichten, Drum-Pads, Elektronik und Klavier nun allerdings eine selbstbewusste Mischung von Wolfes metallischer Melancholie zum Besten. Ob das damit zu tun hat, dass es der Kalifornierin 2021 gelingt, mit dem Trinken aufzuhören, bleibt spekulativ. Trotzdem korreliert diese nüchterne Erkenntnis mit der zweifellosen Katharsis dieser Platte, die sich von ihrem akustischen Vorgänger “Birth Of Violence” von 2019 schon im Ansatz abhebt. In Songs wie “House Of Self-Undoing” thematisiert sie ihren jahrelangen Rausch und resümiert in “The Liminal”: “All you ever wanted was the liminal/ All you left behind was your exoskeleton”. Nach dem eigenen Großreinemachen glaubt man schließlich in dem wohl nicht zufällig als “Place In The Sun” betitelten Song ein paar Lichtstrahlen erkennen zu können.
Daniel Thomas


33

Beatsteaks Please

VÖ: 28. Juni | Label: Warner
Beatsteaks - Please

Kammerjäger fürs Gewohnheitstier: Der Vorgänger “Yours” markiert das vorläufige Ende des Kreativgespanns Beatsteaks und Produzent Moses Schneider. Auf Bromance-Ebene mag es wundervoll sein, dass man gegenseitig seine Sätze beendet und maximale Vertrautheit herrscht, für die Inspiration hat das aber auch eine verkümmernde Wirkung. Mit angstschweißnassen Händen und Produzent Olaf Opal an ihrer Seite stellen sich die fünf Berliner auf Please einem neuen Kapitel. Auf dessen erster Seite “Goodbye” fliegen einem direkt druckvoll-sexy Bässe entgegen, weiter hinten wird empfohlen, das euphorische “Against All Logic” auf keinen Fall ohne Tanzschuhe zu betreten, und nur einen Song weiter liegt in “Love Like That” so viel Liebe in der Luft, dass man einen kurzen Moment braucht, um das folgende “The Lunatics” als Fun-Boy-Three-Cover zu identifizieren. Ein Angstmoment, sich mit dieser Coverversion direkt an einen von Opals Lieblingssongs zu wagen, aber auch hier hätte der Song die Band ohne ihren neuen Produzenten gar nicht erst inspiriert. Am Ende war es die richtige Entscheidung, der “Magic Feel” ist weiterhin intakt, es brauchte nur einen neuen Impuls.
Juliane Kehr


32

Destroy Boys Funeral Soundtrack #4

VÖ: 9. August | Label: Hopeless
Destroy Boys - Funeral Soundtrack #4

Auf ihrem vierten Album laden Destroy Boys zur Beerdigung ihrer Vergangenheit. Im Vergleich zum Sound ihres Debüts klingt die Band aus Sacramento erwachsener und widmet sich queer-feministischen Themen, ohne ihre in den vergangenen Jahren geschaffene Identität aus den Augen zu verlieren. Die Thematik liegt auf der Hand: Die Band um Alexis Roditis ist sauer auf die Umstände, in denen weiblich gelesene und nicht binäre Personen leben müssen. Schon der erste Satz von “Bad Guy” bringt ihre Wut auf den Punkt: “I wanna spit in your face”. Später dann in “You Hear Yes” lassen sie auch ihrem Hass gegenüber Männern, die ihre Machtposition ausnutzen, gemeinsam mit Scowl und Mannequin Pussy freien Lauf. Etwas weiter weg von ihren musikalischen Wurzeln, dafür näher an ihre familiären Wurzeln wagen sie sich mit dem spanischen Song “Amor Divino”. Dabei bleibt Punk-gemäß der Großteil der Songs bei einer Laufzeit von unter drei Minuten und wird immer wieder mit Hardcore-Elementen (“Should’ve Been Me”) und dem ein oder anderen Pop-versierten Durchatmen (“Plucked”) versehen. Die Botschaft von “Funeral Soundtrack #4” kommt an und bleibt direkt im Ohr.
Nicola Drilling


31

Soft Play Heavy Jelly

VÖ: 19. Juli | Label: BMG
Soft Play - Heavy Jelly

“‘Cause of you Punk’s dead”, zitieren Soft Play (früher Slaves) in “Punk’s Dead” einen der vielen Hasskommentare nach ihrer Umbenennung. Wie viel Laurie Vincent und Isaac Holman von den Vorwürfen halten, sich auf dem Altar der Wokeness geopfert zu haben? Sie lassen kurzerhand Robbie Williams – ja, der “Angels”-Sänger und Ex-Take-That-Mitglied – die Bridge des Songs übernehmen. “Heavy Jelly” ist für alle, die sich nicht von linken Idealen abschrecken lassen, wegen solcher ursympathischen Aktionen ein großer Spaß. Weil Soft Play zwischen absoluten Quatschsongs wie “Worms On Tarmac”, in dem sie aus der Perspektive eines Wurms von den Anfängen der Erdgeschichte singen, bis zu tosendem Krach über Ungerechtigkeiten und Mental Health alles können. Und weil sie sich auf “Heavy Jelly” mehr denn je dem Nu Metal der 00er Jahre öffnen. So stark, dass “Act Violently” auch eine verschollene B-Seite von “Toxicity” sein könnte. Holman spuckt und gellt, wütet und sorgt sich, zudem hat er für das vierte Album der Band die tanzbarsten Beats der alternativen Jahrescharts parat. Hit-verdächtig klingt das meist, lässig auch. Tot aber so gar nicht. Sorry.
Julia Köhler


30

Pearl Jam Dark Matter

VÖ: 19. April | Label: Monkeywrench
Pearl Jam - Dark Matter

Mit “Dark Matter” endet ein Running Gag. Streng genommen wartet man seit Ende der 90er, seit “Yield”, auf ein Album, auf dem Pearl Jam mal wieder Zähne zeigen. Nicht hier und da, sondern überall. Vorabsingles, die einen das glauben ließen, gab es seitdem ständig. Doch die zugehörigen Alben lösten das Versprechen niemals ein. So ist auch bei “Dark Matter” vorerst Skepsis angesagt, als die erste Single des gleichnamigen Albums – Pearl Jams zwölftem – im Februar die Muskeln spielen lässt. Und dann kommt die Platte, das Ende des Running Gags. Hart geprügeltes Schlagzeug, Metal-Riffs, Eddie Vedders grollende Stimme, die manche Wörter mehr ausspuckt als singt. Wut! Lärm! Drama! Rohe Emotionen auf Albumlänge. Als wollten Pearl Jam den Verlust ihrer Freunde aus den gemeinsamen Grunge-Heydays kompensieren, klingen sie auf “Dark Matter” mitunter mehr nach Soundgarden als sich selbst. Das Artwork: wieder ein Debakel, aber geschenkt. Die Welt ist nicht besser geworden, seit man sich diese Wiederauferstehung von Pearl Jam erstmals gewünscht hat. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang. Harte Musik für miese Zeiten. So gesehen kann man sich aufs nächste Album freuen.
Dennis Plauk


29

Mdou Moctar Funeral For Justice

VÖ: 3. Mai | Label: Matador
Mdou Moctar - Funeral For Justice

Wie wichtig sind Worte? Wer nicht die Tuareg-Sprache spricht, in der Mdou Moctar singt, versteht nicht viel von dem, was der nigrische Sänger mitteilen möchte. Dabei geht es ihm um eine ganze Menge. “Funeral For Justice” handelt nicht von Boy-meets-girl und auch nicht davon, wie schwer es ist, sich in hiesigen In-Vierteln von seinen weniger coolen Mitmenschen abzugrenzen, sondern von aktueller Geopolitik und ihren Auswirkungen auf die Verhältnisse vor Ort. Vor Ort liegen Niger, Mali und Algerien, in den Nachrichten vor allem wegen islamistischer Terrorgruppen und der Unfähigkeit der ehemaligen Kolonialherren, die Gegend zu befrieden. Trotzdem wird auch getanzt in der Wüste, auf eine Weise, mit der jeder etwas anfangen kann. Das liegt nicht zuletzt an der Instrumentierung. Der Tuareg-Blues baut in erster Linie auf eine entfesselte E-Gitarre, kombiniert mit einheimischen Rhythmen, nochmals kombiniert mit der Idee, dass Musik eine globale Sprache ist. Das vermittelt sich auch in Stücken wie “Sousoume Tamacheq” oder “Modern Slaves”, die gleichzeitig lebensbejahend und konfrontativ sind. Und daran erinnern: This is not entertainment.
Markus Hockenbrink


28

Kim Deal Nobody Loves You More

VÖ: 22. November | Label: 4AD
Kim Deal - Nobody Loves You More

So erstaunlich es ist, dass Kim Deal erst 2024 ein Soloalbum herausbringt, so nachvollziehbar ist es auch. Deal fühlt sich allein nicht wohl, hat immer in Bands – Pixies, The Breeders, The Amps – gespielt, von ein paar Solo-Singles abgesehen. Und selbst die entstanden mit der Unterstützung befreundeter Musiker:innen. Auch auf “Nobody Loves You More” spielen viele gute Bekannte mit, unter anderen Fay Milton und Ayse Hassan (Savages) sowie Raymond McGinley von Teenage Fanclub, produziert hat teilweise noch Steve Albini. Es passt zu Deals höchst sympathischem Slackertum, dass einige Songs schon mehrere Jahre alt sind: “Are You Mine?” etwa, eine zärtliche Erinnerung an Deals tote Mutter, stammt aus den frühen 2010er Jahren, die Urversion von “Coast” entstand bereits 2000. Dementsprechend klingt “Nobody Loves You More” stellenweise nostalgisch und ein bisschen wehmütig, aber es ist auch Platz für energetische Powerstücke wie “Disobedience” und “Big Ben Beat”, die natürlich an die Breeders erinnern. Wie könnten sie auch nicht, schließlich sind es Deals Stimme und Gitarrenspiel, die ihre früheren Bands und ihre jetzige Solo-Inkarnation prägen.
Christina Mohr


27

Fidlar Surviving The Dream

VÖ: 20. September | Label: Diggers Factory
Fidlar - Surviving The Dream

Jedes Lebenzeichen von Fidlar ist ein gutes Zeichen, denn es beweist, dass Zac Carper noch lebt. Von Anfang an macht er in den Texten seiner Songs keinen Hehl daraus, dass er es permanent mit Substanzen aller Art übertreibt. Das ändert sich auch auf “Surviving The Dream” nicht. Mag sein, dass da Koketterie mitschwingt, aber Carper hat gewiss seine Probleme, und die reichen ihm für die Inhalte seiner mal sonnigen, mal zotigen, mal rotzigen Songs. Von denen gab es seit dem meisterhaft eklektischen “Almost Free” von 2019 eine Menge. In Form von EPs, Tapes, Downloads, Standalone-Singles und Coverversionen von Limp Bizkit bis Tom Petty. Jedes Häppchen von Fidlar ist ein gutes Häppchen. Aber: 13 Songs am Stück sind besser. Denn noch immer ist die zwischenzeitlich vom Quartett zum Trio geschrumpfte Band darauf erpicht, alles zu verwursten, worauf sie Bock hat: Surf, Punk, Power Pop, Garage Rock, Slacker-Indie… Nichts davon geht in die Hose, das meiste wird zum Hit. Mal krakeelend, mal versöhnlich. Den Weg, den Fidlar bei der Veröffentlichung einschlagen, ist jedoch – nun ja – interessant: Physisch gibt es “Surviving The Dream” erst ab Ende Januar 2025.
Jan Schwarzkamp


26

Pissed Jeans Half Divorced

VÖ: 1. März | Label: Sub Pop
Pissed Jeans - Half Divorced

Die großen politischen Manifeste überlassen Pissed Jeans auch mit ihrem sechsten Album anderen. Matt Korvette hat sieben Jahre nach “Why Love Now”, auf dem er vor allem Sexismus, Patriarchat und Schönheitsideale sezierte, ganz andere Probleme: Anfang 40, “Half Divorced”, immer noch im Großraumbüro und, wie es sich für einen anständigen US-Bürger gehört, bis in die Haarspitzen verschuldet – ach, geht gar nicht, sind eh schon alle Haare ausgefallen. Nur konsequent, dass seine vor Aggression überschäumende Antwort auf all den Scheiß um ihn herum zum bisher witzigsten Album der Noisepunks aus Allentown, Pennsylvania wird. So verlässt sich Korvette als hoffnungsloser Romantiker in “Anti-Sapio” etwa lieber auf seinen Geruchssinn als auf den Intellekt seines Gegenübers, in “Helicopter Parent” wachsen seine Mikroaggressionen über Reihenhauseltern ins Maxiformat und in “Every­where Is Bad” frohlockt er mit der Erkenntnis, dass eigentlich jeder Ort im ganzen Universum irgendwie für den Arsch ist. “I’m sorry if that makes you sad.” Kopf hoch, der komplett abrasive Anti-Song “Junktime” und das fast schon poppige “Moving On” sind dafür Songs des Jahres.
Jonas Silbermann-Schön


25

Kim Gordon The Collective

VÖ: 8. März | Label: Matador
Kim Gordon - The Collective

“Männer!” Das ist der erste Gedanke von Ex-Kanzlerin Angela Merkel zum Streit zwischen Olaf Scholz und Christian Lindner. Vermutlich hat Merkel zuvor nicht “I’m A Man” von Kim Gordon gehört, als ihr das in den Kopf kommt. Beide sind Boomerinnen, weshalb sie aus erster Hand wissen, wie uneinsichtig ihre Generation ist, wenn es um toxische Männlichkeit geht. “Don’t call me toxic/ Just ’cause I like your butt”, singt Gordon in “I’m A Man”, und lediglich die verzerrte Gitarre erinnert noch an jene Karriere, die sie mit Sonic Youth hatte. Für ihr zweites Soloalbum hat sich Gordon stattdessen noch tiefer in Trap eingegraben. Überall auf diesem Album brummt und fiept, kratzt und schabt es, während Gordon ihre Texte aufs Nötigste reduziert. Wenn es sein muss, reicht ihr eine Einkaufsliste als Text wie im grandiosen Opener “Bye Bye”. Mit etwas Fantasie lässt sich der Song aber auch als Schlussstrich unter eine Beziehung lesen. Er beschreibt dann den Moment, wenn man seine Sieben­­sachen zusammenrafft und partout nicht wiederkommen möchte. Dass “The Collective” zudem die Fähigkeit besitzt, Ablehnung zu provozieren, macht diese Platte nur noch besser.
Florian Schneider


24

Iedereen Iedereen

VÖ: 23. Februar | Label: Glitterhouse
Iedereen - Iedereen

Als Duo hat man es nicht immer leicht, scheitert entweder an sich selbst wie Japandroids oder spielt live gar nicht zu zweit, weil man nur im Studio so richtig fett klingt. Iedereen umgehen mit ihrem Wahnsinnsdebüt direkt beides. Ron Huefnagels und Tom Sinke sind unzertrennliche Sandkastenfreunde, haben die schwerfällige Bandwerdung schon überlebt, und die Frage mit dem Sound stellt sich gar nicht: Live verausgaben sich die beiden dermaßen, dass sie gefährlich nah an der Implosion stehen. Ihre Vehemenz auf der Bühne wohnt auch dem Album inne. Schon im Opener gehen Iedereen wortwörtlich fast KO, oder wollen das einem zumindest weismachen, während sie Garage Rock mit hyperaktiven Riffs wie von Gang Of Four oder Wipers durcheinanderwirbeln und liebevoll mit dem Idles-Vorschlaghammer draufhauen. Darüber schwebt der Geist von Rio Reiser, der geschmackssicher den gefrusteten modernen Mann an der Nase herumführt. Explizit im hittigen “Chauvi”. Oder eben abstrakter in “Autofahren”, einem Plädoyer fürs Tempolimit, inklusive Gendersternchen und Mini-Zitat von Bowies “Heroes”. Grenzenloser Spaß, wie ein Trip am Schnäppchentag zu Albert Heijn.
Jonas Silbermann-Schön


23

Linkin Park From Zero

VÖ: 15. November | Label: Warner
Linkin Park - From Zero

Linkin Park hatten es nie leicht in der Musikpresse, auch und insbesondere in diesem Magazin. Selbst ein Kunstwerk wie “A Thousand Suns” (2010) erntete bei VISIONS lediglich ein kühles “Respekt”. Es ging um unterstellte Rückgratlosigkeit im Musikgeschäft, aber vor allem um Soundfragen. Denn, nicht missverstehen, Linkin Park haben auch eine Menge Gefälliges, Oberflächliches fabriziert. Dafür konnte man sie kritisieren. Loben muss man sie dafür, dass sie mit ihrem Stilmix etliche Fans meist grundverschiedener Genres zusammenbringen. Dass sie nie aufgehört haben, ihre Grenzen auszuloten und dabei immer nach sich klangen. Wenn Metal dabei herauskam oder Pop in Großbuchstaben: bitte sehr. Linkin Park haben mit dem tragischen Tod von Sänger Chester Bennington erlebt, woran viele große Bands zerbrochen sind. Sie trauerten, hatten auch den Abgang von Drummer Rob Bourdon zu verkraften – und haben sich mit Colin Brittain und Emily Armstrong erfolgreich reanimiert. Sie sind nicht wie ausgewechselt, sie haben ihre Identität be- und erhalten. Nicht nur darum ist “From Zero” eines unserer 50 Alben des Jahres. Es enthält auch ziemlich viele ziemlich gute Songs.
Martin Burger


22

And So I Watch You From Afar Megafauna

VÖ: 9. August | Label: Pelagic
And So I Watch You From Afar - Megafauna

Mit “Megafauna” veröffentlichen And So I Watch You From Afar einen etwas verspäteten Liebesbrief an die Menschen und Orte, mit denen und an denen sie gemeinsam durch die Pandemie gegangen sind. Im Gegensatz zum Vorgänger “Jettison” (2022) handelt es sich nämlich erst bei der im August veröffentlichten Platte um ihr persönliches Corona-Baby. Für ihr mittlerweile siebtes Album ist die Band aus Belfast zu ihren musikalischen Wurzeln zurückgekehrt und hat die Songs innerhalb von gerade einmal einer Woche eingespielt. Zwischen den Zeilen schwingt ein Stück Melancholie zwischen allem Fuzz und Math-Rock-Gezeter mit, schon nach den ersten Takten des Openers “North Coast Megafauna” dürfte sich bei regelmäßigen Hörer:innen der Band aber schon ein Gefühl von Heimat einstellen. Dennoch bleibt der ungewohnte, fast schon positiv-verspielte Unterton von “Megafauna” nicht auf der Strecke, insbesondere in “Mother Belfast, Pt 2”, auch jazzige Momente lassen sich etwa in “Years Ago” finden. Kurz bevor die Aufmerksamkeitsspanne für Instrumentalalben dann an ihre Grenzen kommt, ist nach 43 Minuten auch schon Schluss. Wieder mal haben die Nordiren alles richtig gemacht.
Nicola Drilling


21

Coogans Bluff Balada

VÖ: 26. Januar | Label: Noisolution
Coogans Bluff - Balada

Auf Coogans Bluff ist Verlass. Längst über Stoner-Zirkel hinaus bekannt, fordert sich die Band mit jeder Platte aufs Neue heraus. Die Jam-Freunde sind mit ihrer Bläsersektion symbiotisch verschmolzen, verbinden Classic Rock mit Elementen aus Funk, Soul und Jazz. Mit “Balada” nehmen Coogans Bluff nach den drei gelungenen Alben “Gettin’ Dizzy” (2014), “Flying To The Stars” (2016) und “Metronopolis” (2020) weiterhin eine Ausnahmestellung in der heimischen Rockmusikszene ein. Das ist Fusion, aber in sexy und tanzbar, wie der smoothe Titelsong mit Clemens Marasus’ Kopfstimme beweist, und nicht bloß Angeberei. Es ist das Werk von Könnern mit dem Willen, Songs zu schreiben, die auch ohne Musikstudium funktionieren. Und sie klingen wahnsinnig gut. Aufgenommen in professioneller DIY-Manier in Schlagzeuger Charlie Paschens Studio in Leipzig. Für das herzzerreißende “Farewell” haben sie sich sogar echte Streicher gegönnt, um die A-Seite mit einem hochdramatischen Crescendo ausklingen zu lassen. Und es ist auch eine Kunst, ein Cover so einzubinden, dass es organisch wirkt. Mit “One More Time” von Joe Jackson gelingt das Coogans Bluff bravourös.
Jan Schwarzkamp


20

Shellac To All Trains

VÖ: 17. Mai | Label: Touch And Go
Shellac - To All Trains

Ja, Steve Albinis unerwarteter und verfrühter Tod in diesem Jahr spielt hier mit rein, auch wenn er das nicht sollte. Es geht gar nicht anders, nicht bei einem Plattentitel, der Abreise und Abschied verheißt, wenngleich unbeabsichtigt. Nicht bei einem Song wie “I Don’t Fear Hell”, der dieses letzte Shellac-Album auch noch beschließt und bei dem man unweigerlich das Gefühl hat, dass Albini zur Abwechslung nicht in einen Charakter schlüpft wie in “Prayer To God” von “1000 Hurts” (2000). Oder von einem Charakter singt wie im vorletzten “To All Trains”-Song “Scabby The Rat”. Keine Angst vor der Hölle, das beschreibt Albini und seine Band mit Bassist Bob Weston und Drummer Todd Trainer denkbar zutreffend als Prototypen der unabhängigen Rockmusik, es beschreibt Albinis oftmals berechtigtes Granteln gegen das Musikbusiness. Vor allem, zum wiederholten Male und zu unguter Letzt, beschreibt es dieses Album. Dieses kurzweilige, reduzierte, hochdynamische, eigentümliche Noiserock-Album, das bei allem Understatement in den Credits eben doch groß klingt und deshalb allem Artverwandtem eine Nasenlänge voraus ist. Und scheiße noch mal, es tut weh.
Martin Burger


19

24/7 Diva Heaven Gift

VÖ: 11. Oktober | Label: Noisolution
24/7 Diva Heaven - Gift

Diva Heaven is a place on earth! Immer wieder erstaunlich, wie viele Arschtritte in zweieinhalb Minuten passen. Wer nur noch einen Rocksong für den Rest des Jahres hören will, der oder die greife zu “Rat Race” – als hätten sich Amy Taylor und die Cosmic Psychos auf eine Kreidler Florett geschwungen, um nach Berlin zu brettern und ein Dutzend Garagen in Schutt und Asche zu legen. 24/7 Diva Heaven haben es mit ihrem zweiten Album geschafft, gleich mehrere Evolutionsstufen auf einmal zu nehmen. Das Noise-Feuer brennt immer noch so gleißend hell wie auf dem 2021 erschienenen Debüt Stress, aber da sind auch unüberhörbare Pop-Partikel in ihrem Sound, die den Arrangements immer wieder Überraschungsmomente hinzufügen. Das grandiose “These Days” mit Arnim Teutoburg-Weiß auf dem Sozius, dieses tigerhaft Pirschende in “Born To Get Bored” oder “Suck It Up”, so rotzig, dass anarchischer Auswurf förmlich aus den Boxen dringt. Das alles und der gesamte Rest des Albums lassen nur einen Schluss zu, was die fulminant feministische Perspektive für die Zukunft von 24/7 Diva Heaven angeht: “L.O.V.E. Forever”. Und jetzt alle: Alerta, Alerta, Romantica Forever!
Ingo Scheel


18

Vennart Forgiveness & The Grain

VÖ: 2. Februar | Label: Eigenvertrieb
Vennart - Forgiveness & The Grain

Mit dem vierten Vennart-Album schließt sich ein Kreis. Auf dem Oceansize-Debüt “Effloresce” (2003) hat Mike Vennart persönlich und kaum verklausuliert getextet. In jedem weiteren Album, ob von Oceansize, British Theatre, Empire State Bastard oder solo, steckt auch genug von ihm, doch eine so klare Sicht wie damals erlaubt keines davon. Nichts gegen anspruchsvolle Songtexte – es gibt Gründe, warum VISIONS Vennarts exzentrisches zweites Soloalbum “To Cure A Blizzard Upon A Plastic Sea” 2018 dem Heft beigelegt hat. Dass er sich auf “Forgiveness & The Grain” wieder öffnet, hat trotzdem eine eigene Qualität. Die Platte drückt und dröhnt, wütend und roh, in “Three Syllables” wie im mächtigen “Seventy Six”. Aber Vennart erzählt in “The Japanese No” auch einfühlsam von seinem Verhältnis zu seinem Sohn und beendet in “R U The Future??” in klaren Worten, obgleich sanft, eine Freundschaft – da kann er die Vergebung im Albumtitel selbst nicht leisten. Über Musikalität abseits von Selbstzweck, mühelose Genre-Fluidität, Herz ohne Kitsch und kompromisslose Unabhängigkeit müssen hier wir gar nicht mehr groß reden, die sind Grundcharakteristiken von Vennarts Kunst.
Martin Burger


17

Torres What An Enormous Room

VÖ: 26. Januar | Label: Merge
Torres - What An Enormous Room

In die Breite statt nach vorn: Torres gibt ihrem charakteristischen Sound Raum, weiter aufzublühen. Wie einfach wäre es gewesen, nochmal so eine druckvolle Platte wie das gefeierte “Thirstier” zu machen. Doch Stillstand ist nicht der Stil der non-binären Singer/Songwriter:in. Stattdessen kommt in Songs wie “I Got The Fear” eine nachdenkliche Stimmung auf, zu einem eindringlichen Drumbeat und Zeilen wie “Though my usual tricks aren’t working/ And our only world is burning/ And even what is only real in my head/ Destroys me, are we all doomed/ To fulfill this prophecy?”. In “Ugly Mystery” webt sie wabernde Shoegaze-Schichten zu einem schwerelosen Klanggewebe zusammen und rüttelt direkt anschließend im selbstbewussten “Collect” zu groben Gitarreneffekten schon wieder an diesem meditativen Zustand. Erwartbar und in Stein gemeißelt, ist hier gar nichts. Spätestens, wenn sie im wogenden “Jerk Into Joy” energisch staunt “What an enormous room/ Look at all the dancing I can do!” wird klar, warum die zehn Songs so farbenfroh wachsen und gedeihen: Torres lässt Platz für Verspieltheit, Hoffnung, aber auch Wut und Zweifel, ohne etwas vorzuschreiben.
Juliane Kehr


16

Kettcar Gute Laune ungerecht verteilt

VÖ: 5. April | Label: Grand Hotel van Cleef
Kettcar - Gute Laune ungerecht verteilt

Auch 2024 eröffnen Kettcar ihr Album mit einem der stärksten Songs: “Auch für mich 6. Stunde” setzt den altbekannten Lehrer:innen-Spruch mit dem aktuellen Überdruss an schlechten Nachrichten und einer damit oft einhergehenden Gleichgültigkeit in Bezug: “Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot.” Wer kennt es nicht? Eine Lösung können Kettcar selbstredend nicht bieten, aber sie regen und stoßen an – so stark und so pointiert, dass man ihre Songs tatsächlich im Schulunterricht analysieren könnte. Sei es das nach vorne preschende “München” über Alltagsrassismus oder “Doug & Florence”, das unter anderem ein Herz für Paketboten hat, die jetzt zur Weihnachtszeit sicher in den Chor einstimmen möchten: “Paketzusteller of the world unite/ Unite and take over”. Bei den vielen guten Songtexten, für die nicht nur Frontmann Marcus Wiebusch verantwortlich ist, sollte man aber nicht übersehen, wie brillant Gute Laune ungerecht verteilt auch musikalisch ist: Melodiöse Akzente, druckvolle Elemente und sogar Groove oder Aggressionen sind perfekt ausbalanciert in den zwölf Songs, die das Zeitgeschehen gran­dios und unterhaltsam dokumentieren.
Matthias Möde


15

Nick Cave & The Bad Seeds Wild God

VÖ: 30. August | Label: Bad Seed
Nick Cave & The Bad Seeds - Wild God

Es endet, wie es beginnt, mit einem Motiv, das sich seit jeher durch Nick Caves Texte zieht: mal verschlammt, dann ans Ufer rollend, wo die Steine die See treffen oder Kylie Minogue eine Rose zwischen den Zähnen trägt – mit der universellen Kraft des Wassers. “Song Of The Lake” eröffnet den Cave’schen Gottesdienst mit Streichern, Chören und Sprechgesang, demgegenüber steht “As The Waters Cover The Sea” als fragiles Finale samt Gospel-Besteck. Um Gnade ging es bei Cave schon vor über 35 Jahren, man denke an das ikonische “The Mercy Seat”, doch die Vorzeichen sind längst andere, das schicksalsschwere Biografische ist an die Stelle eines lyrischen Ichs getreten. Fünf Jahre nach dem in sich gekehrten “Ghosteen” öffnet Cave mit “Wild God” nun wieder die Arme. Es ist die Hoffnung auf das Licht am Ende des Tunnels, die sich in “Long Dark Night” Bahn bricht – so universell und kraftvoll, wie die Shows, die Cave in diesem Jahr auf der “Wild God”-Tour spielte. Ein Album, wie der Soundtrack des Lebens, die Botschaft schmerzhaft-schön: Rechne mit dem Schlimmsten ebenso wie mit dem Morgen danach, auch wenn die Nacht noch so lang und finster ist. Amen!
Ingo Scheel


14

Touché Amoré Spiral In A Straight Line

VÖ: 11. Oktober | Label: Rise
Touché Amoré - Spiral In A Straight Line

Wie geht man zielsicher geradeaus, wenn sich in einem alles dreht und zusammenzieht? Sollte man überhaupt? Die Antwort fällt rockiger aus als zuletzt. Ein beckenlastiger Auftakt im Opener “Nobody’s” läutet die traditionelle halbe Stunde ein, die der Band einmal mehr reicht, um einen emotionalen Post-Hardcore-Sog zu entfesseln. Dazu stellt Jeremy Bolm schneidende Fragen wie “Is it enough/ To call it off/ And chalk it up to sometimes things don’t make sense?” Hierin unterscheiden sich Touché Amoré auch auf ihrem sechsten Album von vielen Genre-Kollegen: Jedes Wort trifft einen Nerv, weil es genau da steht, wo es stehen muss. Im folgenden “Disasters” strudeln die Gitarrenakkorde nach unten, wo neben einem Snarewirbel schon wieder verbale Peitschenschläge wie “The convenience of selective memory/ What I would give to pick and choose” warten. So geht es weiter über große Melodien und einen fast poppigen Bass in “Hal Ashby” bis zum epischen Hardcore-Abgang “Goodbye For Now”, in dem Julien Baker die hallende Sirene gibt – ein lapidarer letzter Songtitel im Vergleich zu dem Gefühlsaufruhr, den “Spiral In A Straight Line” hinterlässt.
Juliane Kehr


13

Idles Tangk

VÖ: 16. Februar | Label: Partisan
Idles - Tangk

Konsolidierung gibt es im Post-Brexit-Großbritannien reichlich, Grund genug für Idles, mit jedem neuen Album eine mittelschwere Revolution zu wagen, klanglich oder zumindest inhaltlich. Die auf ihrem fünften Album fällt größer als je zuvor aus und steht gleichzeitig für das Schaffen des Post-Punk-Flaggschiffs. “Tangk” reißt mit einem lautlosen Knall den monumentalen Brachialsound ein, den sich Idles erarbeitet haben, und vertieft, was bisher nur zwischen den Zeilen stattfand: Joe Talbots Liebe zu Gospel, Soul und HipHop – und vor allem Mark Bowens Verehrung für Sunn O))) und Aphex Twin. Dass der Paradigmenwechsel auch so dicht, verzerrt und harmonisch klingen kann, liegt an der kon­genialen Produktion von Bowen, Kenny Beats und Nigel Godrich, der schon mit Radiohead Alternative Rock neu definiert hat und nun hilft, die Identität der Band transzendieren zu lassen. Einzig Talbots oft gesungenen statt gebellten Liebesbekenntnisse an seine Tochter, sich selbst und alle um ihn herum, lassen jenen Biss ver­missen, der Idles eigentlich innewohnt. Aber vielleicht ist etwas mehr Liebe in diesen Tagen nicht die schlechteste Botschaft.
Jonas Silbermann-Schön


12

The Smile Cutouts

VÖ: 4. Oktober | Label: XL
The Smile - Cutouts

Sind The Smile nun die Reinkarnation von Radiohead? Nein. Trotzdem hat diese Behauptung ihre Berechtigung, denn die Stimmung, die Thom Yorke, Jonny Greenwood und Tom Skinner auf ihrem dritten Album beschwören, entsteht nicht einfach so. Sie ist eine Art Heiliger Gral, eine privilegierte Verschmelzung von Bandnamen und Stimmungsbild, den viele mit bestimmten Songs von Yorkes und Greenwoods anderer Band verbinden. Dank Schlagzeuger Skinner, der sein ganzes Know-how aus der brummenden Jazz-Szene Londons und von Bands wie Sons Of Kemet mitbringt, rücken bei The Smile Jazzkomponenten ins Scheinwerferlicht. Diese Mischung ist für “Cutouts” sehr viel entscheidender als die Tatsache, dass Yorkes Stimme nun mal klingt, wie sie klingt: Songs wie “Zero Sum” scheinen besessen vom Geist Bob Mintzers, Chaos und dessen Auflösung gehen Hand in Hand, zunächst ist unklar, wer wann die Führung übernimmt. “Tiptoe” besticht mit einem minima­listischen, zugleich schwerwiegenden und erhebenden Barjazz-Vibe, wie man ihn in alten New Yorker Kellerclubs findet, gepaart mit dichten Streicherelementen. Mit all dem entfalten The Smile ihren ganz eigenen Zauber.
Juliane Kehr


11

Die Nerven Wir waren hier

VÖ: 13. September | Label: Glitterhouse
Die Nerven - Wir waren hier

Zwischen Post-Punk und Indierock hatten Die Nerven ihren Sound bereits mit dem bislang letzten, nach der Band benannten Album (2022) perfektioniert, für den Mainstream klingen sie nach wie vor zu speziell, vielleicht auch zu verkopft. Für ihr sechstes Album drückt die Band – vielleicht auch deshalb – auf Reset und fängt wieder bei null an, bekommt so den Kopf frei und zimmert dann trotzdem innerhalb eines Monats die zehn neuen “Wir waren hier”-Songs zusammen. Die live aufgenommenen Songs scheppern hin und wieder wunderbar und haben die nötige Wucht, um etwa zeit­geistig bittere Texte wie in “Das Glas zerbricht und ich gleich mit” mit der nötigen Dringlichkeit zu transportieren: “Das Meer färbt sich rot/ Hauptsache uns geht es gut […] Wir nehmen die letzten Stunden fette Jahre gerne mit”. Ihre Impulsivität verlieren Die Nerven auch in ruhigeren Songs nicht, viel mehr beweisen sie, dass zwischen Tocotronic und Muff Potter in der aktuellen Version reichlich Platz ist für eine Band, die den Mut für wavige Keyboards, schneidende Gitarren, proggiges Schlagzeug und pointierte Texte hat.
Matthias Möde


10

The Black Keys Ohio Players

VÖ: 5. April | Label: Nonesuch
The Black Keys - Ohio Players

Man kann sich ausrechnen, dass zwischenmenschliche Konflikte in einem Duo stärker ins Gewicht fallen als in einer vier- oder fünfköpfigen Band. Dan Auerbach und Patrick Carney hatten zuletzt einige davon. So heftige, dass zeitweise die Zukunft der Black Keys auf dem Spiel stand. Die Kurve haben sie schon vor “Dropout Boogie” gekriegt, dem 2022er-Vorgänger ihres zwölften Albums “Ohio Players”. Der Schlüssel war Spontaneität. Eine Qualität, die sie laut eigener Aussage über die Jahre verloren, während sie sich von einer Garage-Rock-Band, die jeden Hinterhofclub der westlichen Hemisphäre zu kennen schien, in einen Stadion-Act verwandelten. Nicht kommerziell, aber kreativ erfolgte damals der Reboot: Songwriting ohne Scheuklappen, Tempo im Studio, ein paar prominente Gastmusiker. Für “Ohio Players” haben sie sich wieder mehr Zeit gelassen, man hört es dem Album an. Vielfältiger und verwinkelter klang die Musik der beiden nie. Die Black Keys feiern ihre wiederbelebte Freundschaft mit einem Album, das die Essenz ihres gemeinsamen musikalischen Weges abbildet, von Garage- bis Blues Rock, von Soul bis Songs auf Basis von Field Recordings. Teilweise sind sie mit Unterstützung eingespielt, etwa von Beck, Noel Gallagher oder den Memphis-Rappern Lil Noid und Juicy J, mit deren Engagement Auerbach und Carney an ihren HipHop-Abstecher auf “Blakroc” (2009) erinnern. Wenige Songs von “Ohio Players” springen einen direkt an. Zumal die Black Keys in dieser Hinsicht mit “El Camino” (2011) längst das ultimative Hitalbum hatten. Dort hing das “Gold On The Ceiling”, buchstäblich, auf Ohio Players muss man danach schürfen. Belohnt wird es allemal, auch in den Texten Auerbachs, in denen er die Flucht nach vorne antritt: “Oft kamen die Worte einfach so aus mir heraus”, erzählt er im VISIONS-Interview und schwärmt vom “Gefühl, raus­zugehen und das Leben zu genießen.” Die langen Jahre des Rückzugs ins Eigenbrötlerische sind für die Black Keys vorerst vorbei. Aus “Ohio Players” spricht der pure Optimismus.
Dennis Plauk


9

High Vis Guided Tour

VÖ: 18. Oktober | Label: Dais
High Vis - Guided Tour

Erlebt man High Vis aus London live, was man unbedingt tun sollte, lernt man Sänger und Shouter Graham Sayle als einen fassungslosen Menschen kennen. Als jemanden, der auf der Bühne sagt, er habe jetzt keinen richtigen Job mehr. Denn das hier sei jetzt seine Arbeit: einer Band vorzustehen. Als erzeuge diese Tatsache bei ihm Schuldgefühle, haut seine Band auch auf ihrem dritten Album neue Songs für die Arbeiterklasse raus. Hymnen der Hoffnung, entstanden in den Vorstadtruinen eines beinahe gescheiterten Sozialstaats. In Vierteln, die von der Politik nur noch dann besucht werden, wenn jemand mitkommt, der sie führt: “Guided Tour”. Das Besondere an High Vis ist, dass sie ihre Hardcore-Wurzeln in keinem Moment verleugnen, sich aber immer weiter öffnen, neue Stile aufnehmen, mit der Haltung einer neugierigen Band. “Guided Tour” bietet Britpop mit Groove, wie er Anfang der 90er in Manchester gespielt wurde und im Titelstück zu hören ist. Bietet Shoegaze- und Wave-Gitarren, die an Bands wie The Chameleons, The Sound manchmal sogar an die Psychedelic-Goths The Mission erinnern. Und bietet mit der Single “Mind’s A Lie” erstmals auch Electropop, mit schönen Grüßen an die Working-Class-Kollegen von den Sleaford Mods. Bei den High-Vis-Fans mit Hardcore-Vergangenheit besonders beliebt sind die Shout-out-Songs der Band. Von denen gibt es auf “Guided Tour” eigentlich nur einen: “Drop Me Out”, gleich an zweiter Stelle. Der ist auch super, doch ist es eine gute Idee, im weiteren Verlauf des Albums die Stimmung zu wechseln, das Tempo zu drosseln. Was jedoch nicht auf Kosten der Energie geht: Solange Sayle etwas zu sagen hat, geht’s hoch her. Um diesen Mann zum Schweigen zu bringen, bräuchte es eine ganze Armee. Sayle kommt aus dem Nordwesten Englands, die Eltern malochten, er bekam trotzdem nichts und sollte immer schön die Schnauze halten. Das hat er nun lange genug gemacht: “Guided Tour” ist ein kraftvolles Manifest dafür, Wut zu artikulieren, aber die Hoffnung zu behalten.
André Boße


8

Sprints Letter To Self

VÖ: 5. Januar | Label: City Slang
Sprints - Letter To Self

Zwei EPs gab es von Sprints als Vorbereitung, mit ihrem Debütalbum lässt die junge Band aus Dublin knapp drei Jahre später ihr Post-Punk-Feuerwerk endlich explodieren. Mit einer Menge Wut im Bauch schlagen sich Sprints auf elf Songs durch die Tücken, die das Leben so mit sich bringt. Dabei gestalten sie ihre Musik so treibend, dass zwischen den Zeilen kaum Zeit zum Durchatmen bleibt. Auch thematisch geht “Letter To Self” tief: Schon im Opener “Ticking” wird die Frage gestellt, ob und vor allem wie sich das Leben überhaupt lebenswert gestalten lässt. Später lässt sich Frontfrau Karla Chubb dann über Misogynie in “Adore Adore Adore” aus, weiter widmet sie sich dem Thema im zynischen “Up And Comer”. Spätestens zur Mitte des Albums wird es richtig düster, wenn Chubb in “Can’t Get Enough Of It” feststellt: “This is a living nightmare and I am living so scared and I can’t sleep and I can’t leave.” Ihre tiefe Verzweiflung zieht sich durch das gesamte Album. Mal sprechen Sprints über Suizidgedanken wie in “Shadow Of A Doubt”, mal werden die mentalen Probleme etwas allgemeiner gefasst wie in “A Wreck (A Mess)”. Trotz aller Wut und Frustration über das Leben und die Gesellschaft, ist “Letter To Self” aber keine düstere Abhandlung, eher schwingt zwischen der Post-Punk-Lethargie und dem Garage-Rock-Wahnsinn etwas so Erfrischendes mit, dass man sich nur schwer losreißen kann. Ausschlaggebend dafür ist vor allem die breite gesangliche Palette von Chubb, die sich von monotonem Sprechgesang bis zum wilden Geschrei spannt und den Songs noch mehr Leben einhaucht. Immerhin finden Sprints im titelgebenden und letzten Song des Albums noch ein wenig Optimismus in all der Misere, wenn es heißt: “Now I’ll find a way/ Any habit can be broken/ Any night can become day”. Wieder einmal beweist sich, dass Dublin ein gutes Pflaster für Post-Punk ist. Nach The Murder Capital und Fontaines D.C. kommt auch die nächste gute Band, die man im Auge behalten sollte, aus der irischen Hauptstadt.
Nicola Drilling


7

Bad Nerves Still Nervous

VÖ: 31. Mai | Label: Suburban
Bad Nerves - Still Nervous

“Still Nervous”: Dass Bad Nerves das seit ihrer Debütsingle “Wasted Days” von 2016 seit mittlerweile acht Jahren sind, hat noch nicht jeder mitbekommen. Aber die Band aus London arbeitet kontinuierlich daran, es nachhaltig zu ändern. Von Anfang an ist bei ihnen alles da, was nun auch “Still Nervous” auszeichnet: ein Hang zu kurzen Songs, die meist nicht die Drei-Minuten-Grenze überschreiten, eine Vorliebe für hohes Tempo und eine Wagenladung an Hooks. Schon 2023 haben Bad Nerves ihr zweites Album angeteast. Ausgerechnet mit den zwei wildesten Songs von “Still Nervous”: dem sich überschlagenden, krakeelenden “USA” und dem Turbo-Stakkato-Punk von “Antidote”. Es zeugt vom stürmischen Selbstbewusstsein dieser fünf Typen, die auf dem Cover und der Bühne auftreten wie eine coole Gang, die beiden Songs im Verbund mit dem ähnlich schnellen, aber melodischeren “Don’t Stop” direkt am Anfang abzufeuern. Ab dem fünften Song, dem power-poppigen “Plastic Rebel”, nehmen sie das Tempo ein wenig raus und machen Platz für Hooks, trauen sich sogar, sich vier Minuten Zeit für Television zu nehmen. Es liegt am zeitlosen Mix von Bad Nerves, die gar keinen Hehl daraus machen, wie sehr sie die Ramones, Undertones, Nerves, “Singles Going Steady”-Buzzcocks und The Strokes verehren, dass das nicht in die Hose – sprich: skinny Jeans – geht. Dass das Konzept dieser Heldenverehrung aufgeht, dafür gibt es immer mehr Beweise. Nachdem die Coronapause halbwegs ausgesessen war, sind Bad Nerves seit August 2021 unentwegt auf Tour. Erst mal mit Shows an jedem dicken Baum in Großbritannien, 2023 als US-Support für Royal Blood und im April 2024 als Support vor ausverkauften Häusern für Nothing But Thieves. Keine offensichtliche Kombination, die jedoch funktioniert, weil Bad Nerves das Publikum mit Charme, Coolness und einer Nonstop-Salve an Hits um den Finger wickeln können. 2025 dann auf dem Hurricane und Southside, als Support für Weezer und Green Day. Wie sollen sie da nicht still nervous sein?
Jan Schwarzkamp


6

Beth Gibbons Lives Outgrown

VÖ: 17. Mai | Label: Domino
Beth Gibbons - Lives Outgrown

Am Ende zwitschern ein paar Vögel. Der Wechsel von Tag und Nacht, von Leben und Tod kann von Neuem beginnen. Aber vielleicht betrachtet man ihn nach den zehn Songs auf “Lives Outgrown” in neuem Licht. Beth Gibbons hat wie keine Künstlerin neben ihr das Prinzip der Verknappung verinnerlicht. Wenn die Portishead-Sängerin aus der Deckung kommt, dann hat sie etwas zu sagen. “Tell Me Who You Are Today” fragt sie im ersten Song – und die Antwort ist vermutlich bei jedem neuerlichen Hören dieser Platte eine andere. Denn “Lives Outgrown” lebt, verändert sich, nimmt immer wieder neue Formen an und bietet mit der einzigartigen Stimme von Gibbons etwas, woran man sich trotzdem festhalten und anlehnen kann. Im Vergleich zum im gleichen Monat neuaufgelegten Portishead-Livealbum aus New York kommt man zum Schluss, dass der kammermusikalische Folk- und Singer/Songwriter-Sound auf “Lives Outgrown” zu Gibbons besser passt als die Beat-Schleifen von Adrian Utley und Geoff Barrow. Zudem schreibt Gibbons das Erbe von Talk Talk und dem viel zu früh verstorbenen Mark Hollis fort; erneut arbeitet sie mit einem ehemaligen Mitglied der Post-Rock-Vorfahren zusammen. Diesmal ist es Schlagzeuger Lee Harris. Der sorgt für das sanfte Pluckern, das etwa einen Song wie “Burden Of Life” vorantreibt, zu dem Gibbons die opulenten Streicher und Bläser gleich selbst arrangiert hat. “The burden of life/ Just won’t leave us alone”, singt sie da, und man kann die Last auf den Schultern förmlich spüren, die einem an miesen Tag das Aufstehen schwer macht. Oder die Kraft raubt, nach einem Verlust weiterzumachen. Zu Beginn von “Lost Changes” zitiert Gibbons in ihrer Gesangsmelodie auf eigene Weise “Drive” von R.E.M., bevor der Song in einen Refrain ausbricht, der zu den schönsten des Albums gehört. Er bereitet einen schon mal auf die Vögel am Ende vor. Aber wenn man die Platte ein weiteres Mal umdreht, kann schon wieder ein anderer Moment dieses wundersamen Albums der beste sein. Das macht große Werke aus.
Florian Schneider


5

The Cure Songs Of A Lost World

VÖ: 1. November | Label: Polydor
The Cure - Songs Of A Lost World

Da ist es, das 14. Studioalbum, von dem Robert Smith schon so lange spricht und das trotzdem erst 16 Jahre nach dem wankelmütigen “4:13 Dream” das Licht der Welt erblickt. Schwankend sind auch die Erwartungen daran: Erwartet man besser gar nichts, denn was soll noch kommen, nach unzähligen Meisterwerken und einem egalen 13. Album? Oder erwartet man lieber alles und noch mehr, weil man weiß, wozu Smith oft genug schon fähig war in seiner Rolle als Songwriter und Sänger. Mit dem Opener “Alone” spannen The Cure uns zunächst ganze 3:21 Minuten auf die Folter. So weit, so sphärisch, aber wo bleibt sie denn nun, diese makellos junggebliebene Stimme, die keineswegs so klingt, als hätte sie schon tausende Konzerte mit je circa drei Stunden Spielzeit erlebt. “This is the end”, singt Smith schließlich und setzt damit den letzten Hinweis in Szene, worum es auf diesem Album gehen soll: Das Ende aller Dinge, die Schwere des Verlusts, der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit. Themen also, die man lieber vor sich herschiebt, als sie detailliert zu erörtern und in denen man zuallerletzt innere Ruhe und Schönheit suchen würde. Mit dieser Platte jedoch kann man sich auf all das einlassen: Die einstigen Wave-Ikonen vereinen in Songs wie dem cineastischen “And Nothing Is Forever”, dem poppigen “A Fragile Thing” oder dem in psychedelische Gitarren abdriftenden “Warsong” all ihre Stärken. Jeder Song entfaltet sich in seinem eigenen Tempo, was im abschließenden “Endsong” dann auch mal fast elf Minuten dauern kann. Hektik kennt dieses Album nicht, als würde es einem in seiner Funktion als tiefschwarzer Gefühlsmentor permanent zuflüstern “Nur ruhig, junger Hörer, vertrau dem Prozess.” Exakt so verhält es sich auch mit der eigenen Trauer, von der Smith in “I Can Never Say Goodbye” berichtet: Beschleunigen oder überspringen kann man da nichts. Was auch immer man von “Songs Of A Lost World” erwartet hat: The Cure haben einmal mehr ein emotional vielschichtiges, zeitloses Meisterwerk geschaffen.
Juliane Kehr


4

Metz Up On Gravity Hill

VÖ: 12. April | Label: Sub Pop
Metz - Up On Gravity Hill

Als einen “Neuanfang” preist Alex Edkins Metz’ erstes Album nach dem Lockdown und den nun wieder größer angelegten Touren an. “Abenteuerlustiger und selbstbewusster” denn je fühle sich die Band, so der Sänger und Gitarrist, und nach Edkins’ Alleingang als Weird Nightmare scheint der Mut zu Melodien nun auch seine Hauptband vollends zu durchdringen. Tatsächlich hätte “Up On Gravity Hill” das Zeug, ein neues Kapitel der kanadischen Noisepunks zu begründen: Frust, Erschöpfung und Zerrissenheit hatten Metz zuvor meist einfach mit der Planierraupe dem Boden gleich gemacht, zuletzt mit erstaunlichen Hit-Ambitionen und “Bleach”-Flair auf “Atlas Vending”, davor noch mit deutlichem Hang zum Hardcore der SST-Schule. Nun findet Edkins organisch Platz für Hooks, Melodien und Popmomente, mit seinem fast zärtlich ächzenden Gesang, bevor er das Ganze mit Stacheldraht einwickelt und von der brachialen Rhythmusmaschine seiner Kollegen plattwalzen lässt. Etwa “Entwined (Street Light Buzz)”, was erst so klingt, als würde Edkins die Saiten seiner Gitarre mit einem Rasiermesser neuverdrahten, und dann plötzlich doch erstaunlich viel Eingängigkeit und Ruhe im Chaos findet. Der Song ist aber vor allem eine böse Vorahnung von Edkins zwiespältigem Verhältnis zu seiner Rolle als dauertourender Familienvater. Noch mutiger fällt der zweigeteilte Opener “No Reservation/Love Comes Crashing” aus. Zwischen Noise-Kaskaden platzieren Metz tatsächlich Glockenspiel und Violinen von Owen Pallet, der sonst Streicherarrangements für Arcade Fire, The National, Robbie Williams oder Taylor Swift schreibt. Dass “Up On Gravity Hill” bei all den großen Ambitionen und der gelungenen Weiterentwicklung des Trademark-Sounds nun zum vorläufigen Schlusskapitel und Edkins’ Duett mit Amber Webber von Black Mountain in “Light Your Way Home” zum Schwanengesang von Metz wird, ist doppelt bitter. Einziger Trost: Sollten Metz ihre “Pause auf unbestimmte Zeit” nie beenden, es wäre ein Abschied mit einem ihrer besten Alben.
Jonas Silbermann-Schön


3

Jack White No Name

VÖ: 19. Juli | Label: Third Man
Jack White - No Name

Um so einen Stunt durchzuziehen, braucht es die Möglichkeiten, das Equipment und die Infrastruktur. Und den Wunsch, überraschen zu wollen. Überrascht hat Jack White in seiner Karriere schon öfter. Etwa, als er “Consolers Of The Lonely”, das zweite Album der Raconteurs, ohne Ankündigung 2008 veröffentlichte. Oder als er nur ein Jahr später die Supergroup The Dead Weather gründete. Oder mit Alicia Keys einen James-Bond-Song schrieb. Oder Neil Young in einem telefonzellengroßen Studio in Whites Plattenladen das Coveralbum “A Letter Home” aufnehmen ließ. Jack White ist und – das beweist “No Name” – bleibt ein musikalischer Stuntman. Doch ein Stuntman ist nur so gut, wie das Team um ihn herum, das dafür sorgt, dass er sich nicht das Genick bricht. Das Team sind seine Kollegen bei Third Man Records, dem Presswerk, dem Studio und den Läden in Nashville, Detroit und London. Die Angestellten verschenken am 19. Juli eine White-Label-Copy, auf die in blauen Lettern “NO NAME” gestempelt ist, an jeden, der an besagtem Freitag bei Third Man einkauft. Wer oder was hinter “NO NAME” steckt, bleibt nur kurz ein Mysterium: Jack White. Genaugenommen ist es sein sechstes Soloalbum. Das 2022er-Doppel “Fear Of The Dawn” und “Entering Heaven Alive” war gut, aber letzteres eben akustisch und introspektiv. “No Name” wiederum stellt die Rückkehr zu alten Stärken dar: Er feuert aus allen Rohren. White hat solo nie so sehr nach den White Stripes geklungen wie hier. Wobei solo eigentlich nicht recht passt, denn White hat eine Band aus – unter anderem – Schlagzeuger Patrick Keeler (The Raconteurs), Ehefrau Olivia Jean und sogar seiner 18-jährigen Tochter Scarlett am Bass um sich versammelt. Sie assistieren White dabei, Songs zwischen Garage Rock und Blues, zwischen Led Zeppelin und Stooges zu vertonen, die derart live klingen, als würde man im Studio mit ihnen in einem Raum sein. Roh, rau, rootsig. Mag sein, dass das musikalisch altmodisch ist – der Twist ist, wie White diese Geschichte verpackt.
Jan Schwarzkamp


2

Amyl And The Sniffers Cartoon Darkness

VÖ: 25. Oktober | Label: Rough Trade
Amyl And The Sniffers - Cartoon Darkness

Mit nur zwei Alben sind Amyl And The Sniffers von einer Band für versiffte Pub-Bühnen zum hallenfüllenden Act gewachsen. Ihr rasanter Aufstieg mit herrlich pöbelendem Garagepunk ist immer noch überraschend. “Cartoon Darkness” befördert Amyl And The Sniffers die Karriereleiter nochmal deutlich weiter rauf. Die vielleicht größte Leistung dabei: eine bahnbrechende musikalische Entwicklung oder ein Makeover à la Fontaines D.C. brauchen sie nicht. Die mittlerweile auf Los Angeles und Australien aufgeteilte Band ändert kaum was an Auftreten und Attitüde, sondern lässt ordentlich die Muskeln spielen, während sie der nahenden Apokalypse ins Gesicht rotzt und literweise Schampus kippt. Für den fetten Sound sorgt Produzent Nick Launay, der sich mit Idles und Gang Of Four genauso gut auskennt wie mit australischen Legenden wie INXS oder Midnight Oil. Zu denen dürften sich Amy Taylor und ihre Gang bald auch zählen, vor allem die unaufhaltsame Energie, die die Sängerin an den Tag legt, macht es möglich. Allen voran in “Jerkin'” als ausgestrecktem Mittelfinger gegen alles und jeden, der Taylor in die Quere kommt. Das Groove-Monster “U Should Not Be Doing That” ist der Beweis, dass sie sich von nichts und niemandem etwas sagen lässt und gefälligst so knappe Klamotten trägt, wie sie will (“Tiny Bikini”). Ihre Selbstermächtigung geht auch mit Humor zusammen: Das halbgerappte “Me And The Girls” beginnt und endet als Saufgelage an der Flughafenbar. Allen CDU-Kanzlerkandidaten bleibt beim Hören das Lachen im Halse stecken, da es Taylor & Co. eigentlich um straffreie Abtreibungen geht. Nur eine Frage in “Do It Do It” bleibt offen: “When you get to the mountaintop/ Will you put all the snow up your nose?” Angesichts einer komplett ausverkauften Europatour, inklusive 10.000er Shows, und den nächsten großen Konzerten bereits im Kalender, bleibt abzuwarten, wie sie der Höhenluft trotzen und ob sie auch weiterhin ihre Working-Class-Workouts der Extraklasse unverstellt auf die Bühne bringen.
Jonas Silbermann-Schön


1

Fontaines D.C. Romance

VÖ: 23. August | Label: XL
Fontaines D.C. - Romance

Nach drei Alben auf sehr hohem Level standen die Wetten nicht schlecht, dass Fontaines D.C. mit ihrer vierten Platte enttäuschen würden. Ist ja auch nur eine normale Band, oder? Oder nicht. “Romance” setzt die Reihe fort. Meisterwerk Nummer vier. Woran liegt’s? Nicht am Cover. Wobei, vielleicht braucht diese Platte genau dieses Cover. Diesen heulenden Ballon in Herzform, kombiniert mit dem Albumtitel in gotischer Schrift. Das Bild wirkt wie eine Karikatur von Romantik. Wie eine Albtraumversion dieses Sehnsuchtszustands. Die elf Songs korrespondieren mit diesem Design. Fontaines D.C. entwickeln eine Welt, in der Romantik etwas ist, das man sehen und spüren kann, aber nie erreichen wird. Ein unzugänglicher Sehnsuchtsort. Nicht greifbar, fassbar. Wie der Mensch auf diese Erkenntnis reagiert? Er gerät in Panik, “Starburster” erzählt davon. Er versucht es mit körperlicher Leidenschaft oder Nostalgie – davon handeln die Songs “Desire” und “Favourite”. Als Sänger und Texter, der das Schreiben sehr ernst nimmt, prägt Grian Chatten die Band. Aber Fontaines D.C. sind kein Podest für ihren Sänger. Die Band funktioniert so gut, weil zwischen den Fünfen eine ständige Kommunikation statt­findet. Eine Kommunikation, bei der die Funken fliegen. “Romance” schwebt schon deshalb meilenweit über den vielen anderen Post-Punk-Alben, weil die Musik von Fontaines D.C. keine Routine kennt. Erzählten die ersten beiden Alben von Dublin und dem Weg da raus und das dritte vom Leben in der irischen Diaspora, handelt “Romance” von der Welt, von universellen Gefühlen. Die Band genießt es in vollen Zügen, mit großer Geste davon erzählen zu können. Vom Leben in der Moderne und von Träumen, ob vom “Motorcycle Boy” oder, wie bei “Sundowner”, von der Rückkehr eines geliebten Menschen. Der Soundtrack zu diesen Worten: Alternative Rock und Post-Punk, Britpop und Shoe­gaze, Folkrock und Electro, Industrial und Ballade. So viel also, dass man behaupten darf: Fontaines D.C. sind spätestens mit dieser Platte ein Genre für sich.
André Boße


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

Gespenstisch, beinahe erschreckend

Conor, noch vier Gigs, dann ist für euch Weihnachtspause. Nach einem wochenlangen Ritt durch halb Europa mit fast täglich einer Show. Wie fühlt sich die Aussicht auf diese Auszeit an?
Conor Curley: Ganz gut. Wir sind ziemlich müde. Die Shows sind super, wir genießen das. Aber ich freue mich auf diese Auszeit, um an etwas anderes zu denken.

Wenn eine Band im Spätherbst unterwegs ist, sieht man kaum Tageslicht.
Das stimmt. Daher waren unsere Termine Mitte November in Deutschland gut. Das Wetter war sonnig, in den Städten wurden die ersten Weihnachtsmärkte aufgebaut. Was für zusätzliches Licht sorgte. Das hat mir gut gefallen.

Du hast auf “Romance” deine Premiere als Sänger gegeben, das Stück “Sundowner” ist allabendlich Teil der Setlist. Genießt du den Moment, wenn du mitten in der Show einen Song lang im Mittelpunkt stehst?
Als wir anfingen, ihn zu spielen, war ich sehr nervös. Ich hatte in dieser Band noch nie gesungen. Früher schon, als ich Teenager war. Aber das war vor 50 Leuten. Jetzt sind es bis zu 10.000, und es brauchte ein bisschen Zeit, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Aber jetzt genieße ich es. Der Song hat meine Persönlichkeit geformt. Von der Konzeption übers Singen auf dem ersten Demo und später im Studio bis zur Performance, mit den richtigen Emotionen, dem richtigen Charakter. Es hat großen Spaß gemacht, mich in dieser Intensität diesem Stück zu widmen.

Klingt, als hättest du als Sänger Feuer gefangen.
Ja, die gute Erfahrung mit “Sundowner” hat mich dazu gebracht, mehr singen zu wollen. Nicht unbedingt im Rahmen dieser Band. Sondern generell. Es bereitet mir viel Spaß, Musik zu entwickeln, für Gitarre oder Keyboards, Schlagzeugparts. Zu singen, ist aber eine andere Sache. Es zieht dich noch tiefer in den Song, ist aber auch anstrengend. Mein höchster Respekt gilt unserem Sänger Grian, der Abend für Abend mit großer Zuverlässigkeit eineinhalb Stunden lang unsere Songs singt. Da sind einige dabei, die wirklich anspruchsvoll sind. Songs wie “Starburster” oder “Romance” lassen sich nicht einfach so dahinsingen. Diesen einen Song zu singen, hat meinen Respekt vor seiner Leistung noch erhöht.

Das Album ist jetzt einige Monate draußen, was gefällt dir rückblickend am besten daran?
Erstens fühlt es sich immer noch gut an, diese Lieder zu spielen. Das ist wichtig. Zweitens habe ich das Gefühl, dass die neueren Klänge und wohl auch die knackigere Produktion bei vielen jüngeren Leuten, die nach guter alternativer Rockmusik suchen, gut ankommt.

Knackigere Produktion heißt für dich?
Dass die Songs problemlos im Radio laufen können. Dass sie das dafür nötige Volumen haben.

Was für das Album spricht: Ihr eröffnet eure Shows mit dem Titelstück, der letzte Song des Hauptsets ist “Favourite”, die letzte Zugabe “Starburster”. Dass ausschließlich neue Songs diese drei bedeutsamsten Slots besetzen, ist ungewöhnlich.
Bei “Favourite” überrascht uns das nicht. Uns war gleich klar, dass wir hier einen „Leute-auf-die-Schuler-heben“-Song haben. Sommerliche Indie-Euphorie. Wir schreiben gerne Songs dieser Art, sie liegen uns im Blut. Was jedoch bei “Starburster” abgeht, ist unglaublich. Ich habe noch nie gesehen, dass sich die Massen zu unserer Musik so bewegen, so verrückt werden. In Irland und Großbritannien haben wir bei den Shows grüne Sturmhauben verteilt. Auch der2r grüne Trainingsanzug, den Grian im Video trägt, ist zu haben. Die Leute ziehen sich das Zeug an, setzen sich die Sturmhauben auf – und performen den Song in der Masse auf ihre Art. Von oben auf der Bühne aus betrachtet sieht das irre aus. Es ist gespenstisch, beinahe erschreckend.

Habt ihr die Liveverwertung der Songs beim Komponieren und der Aufnahme gleich mitbedacht?
Früher ja, ausgerechnet bei diesem Album jedoch nicht. Umso schöner, dass es dennoch so gut funktioniert. Wir haben vor Beginn der Arbeit an “Romance” die Regel über Bord geworfen, darüber nachzudenken, wie diese Stück live ankommen würden, wie wir sie spielen könnten.  Wir dachten uns: Wen kümmert das schon, lasst uns einfach das Album machen, das wir machen wollen – den Rest werden wir später herausfinden.

Für was steht “Romance” für dich, also der Begriff der Romantik?
Grundlage der Romantik ist die Erkenntnis eines Schreckens. Eines modernen Schreckens. Die Erkenntnis, dass wir im absoluten Überfluss leben und alles, was wir vermeintlich haben wollen, mit der Fingerspitze berühren können. Dazu die Erkenntnis, dass uns das in gewisser Weise krank macht. Im Zentrum dieses Schreckens bleibt jedoch die Möglichkeit, eine wahre Liebe zu etwas oder jemandem zu empfinden. Angesiedelt ist diese Möglichkeit in einem Raum außerhalb der giftigen Sphäre. Es ist ein sicherer Ort, von dem wir glauben, dass er existiert – aber nicht wissen, wie wir dorthin gelangen.

Ein fiktionaler Ort in einer realen Welt.
Ja, und genau diese Idee, nach der das Album “Romance” ein fiktionaler Ort ist, hat dazu geführt, dass unsere Kreativität grenzenlos sein durfte. Wir haben mit diesem Album eine Welt erschaffen. Eine Welt, die nach Schönheit in der Dunkelheit sucht. So beginnt ja auch der Titelsong: “Into the darkness again/ In with the pigs in the pen/ God knows I love you”. In unseren Songs suchen wir nach der Menschlichkeit innerhalb des toxischen, uns krank machenden Elends, und ich glaube, dass viele Leute sich dieser Suche anschließen möchten. Das Thema ist universell, weshalb sich so viele Menschen in unserer Musik wiederfinden. Grian schreibt keine simplen Liebeslieder, er hat keine einfachen Botschaften, und auch unsere Musik ist kein Easy Listening. Aber gerade deshalb passt sie in die Zeit, in der wir aktuell leben.

Ist dieses Suchen nach der Schönheit im Dunklen ein typisch irischer Ansatz?
Ich glaube nicht, nein. “Romance” ist für uns eine Abkehr vom Irisch-sein. Wir haben bewusst den Einfluss der irischen Kultur runtergedimmt. Das gelingt natürlich nie ganz, klar, aber wir wollten eben auch nicht nur die Jungs sein, die immer irisches Zeug machen. Es hat uns auch großen Spaß gemacht, unsere Klamotten so zu ändern, dass wir nicht mehr wie irische Jungs aussehen.

Und die Frisuren teilweise auch.
Exakt.

Damit beginnt also eure post-irische Phase.
Ja, wir sind jetzt New Romantics. (lacht)

Wer ist dein Lieblingsromantiker?
Wim Wenders. Kein Romantiker der alten Schule, aber jemand, der unglaublich romantische Filme dreht. Sein aktueller Film “Perfect Days” ist toll; mein absolutes Lieblingswerk von ihm ist aber “Der Himmel über Berlin”. Ich bin auf den Film erst gekommen, weil in ihm die Band Crime & The City Solution einen Auftritt hat und den Song “Six Bells Chime” spielt. Mit dabei ist Rowland S. Howard, mein Lieblingsgitarrist und leider schon verstorben. Ich sah die Perfomance der Band in einem Youtube-Video und wusste gar nicht, dass sie aus einem Spielfilm stammt. Ich hielt es für ein fantastisches Musikvideo. Vom Film erfuhr ich erst beim Lesen der Kommentare unter dem Clip. Ich war damals gerade aus Nordamerika zurückgekommen, litt unter Jetlag, lag um vier Uhr morgens wach und dachte mir: Schaust du dir eben den Film an. Und er hat mich umgehauen. Diese Poesie, diese Dialoge. Die Idee, dass Engel den Gedanken der Menschen zuhören und sie bei den Dingen beobachten, die sie in der geteilten Stadt Berlin tun. Dazu die Vorstellung, dass das Göttliche unbedingt Mensch werden will, um Liebe und Schmerz zu empfinden. Ich finde, es gibt nichts Romantischeres als diese Geschichte. Wenders hat eine unglaublich große Vorstellungskraft, und er ist in der Lage, sie in gewaltige Bilder und Dialoge umzusetzen. Für mich ist er eine große Inspiration für meine Kunst geworden. Es wird Zeit, dass ich ihn auch mal im Kino sehe. Und ich muss ihn unbedingt zusammen mit Grian schauen!

Es könnte also sein, dass eure nächste Platte von Berlin beeinflusst sein wird.
Es wäre nicht die erste.

Bevor eure Tour 2025 in Asien und Südamerika weitergeht, hast du Anfang 2025 ein paar Tage frei. Wir wirst du sie nutzen?
Ich freue mich darauf, mich für ein paar Wochen ins ländliche Irland zu verziehen, dorthin, wo mich keine Menschenseele kennt. Um dort meine Musik zu entwickeln. Ich habe eine Menge Ideen. Ob daraus einmal Sachen für Fontaines D.C. entstehen oder es der Beginn eines anderen Projekts sein wird, weiß ich noch nicht. Und es kümmert mich auch zunächst einmal nicht.

Wie gelingt es euch als Band, auf Tour eine Art von Heimatgefühl aufzubauen?
Auf dieser Tour haben wir eine Dartscheibe dabei. Ein paar Pfeile zu werfen, ist sehr meditativ.

Wer ist der beste Dartspieler in der Band?
Das bin ich. Ohne wirklich gut zu sein. Aber ich steigere mich. Noch bin ich vom perfekten Spiel weit entfernt, sprich, in neun Würfen von 501 Punkten auf die Null zu kommen. Mal sehen, wie das nach der Tour aussieht.

Und wenn es mit dem berühmtem “Neundarter” klappt?
Dann siehst du mich triumphierend auf Social Media!


Jahresrückblick 2024
Schönheit in der Dunkelheit

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
  2. Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
  3. Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
  4. Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
  5. Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
  6. Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
  7. Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
  8. Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
  9. Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
  10. Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
  11. Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«

VISIONS ON INSTAGRAM

ABONNIERE UNSEREN NEWSLETTER

[newsletter2go form_type=subscribe]