50VÖ: 10. Mai | Label: End Hits
Das zehnte Album von Hot Water Music zum 30-jährigen Bandjubiläum zeigt, was für einen respektablen und vorbildhaften Status die Punk-Veteranen genießen: Thrice, The Interrupters und Dallas Green von Alexisonfire geben sich auf “Vows” die Ehre. “Fences” erinnert an den hymnischen Alternative-Sound von “To Be Everywhere Is To Be Nowhere” (2016), während Green das emotionale “After The Impossible” mit seiner zarten Stimme veredelt. Der Opener “Menace” ist aus eigener Kraft ein waschechter Hit: Gitarrist Chris Cresswell, der mittlerweile fester Teil der Band ist, verleiht dem Refrain einen kratzigen, hymnischen Anstrich. “Touch The Sun” klingt sogar wie ein Flatliners-Song, während Frontmann Chuck Ragan in “Searching For Light” und “Remnants” seine warme Whiskeystimme glänzen lässt. Mit “Vows” haben Hot Water Music sich nicht nur durch ihre Gäste ein Geschenk gemacht. Das Album zeigt die Band aus Gainesville auch so stark und leidenschaftlich, wie man es sich als Fan nur wünschen kann. Im letzten Song “Much Love” heißt es entsprechend inbrünstig und herzerwärmend: “So much in life won’t stay the same/ But this right here will never change.”
Vivien Stellmach
49VÖ: 11. Oktober | Label: The Flenser
Wenn man Chat Pile selbst glauben möchte, dreht sich ihr Album “Cool World” um “Unterdrückung, Verzweiflung und Unwohlsein”. Nur diesmal nicht auf der persönlichen, sondern der globalen Ebene. Ihr bedrohlicher Sludge-Grunge-Noise-Mix passt perfekt zu diesem Konzept und verstört vom ersten Song “I Am Dog Now” an: vom Maschinenmenschen-Groove, den Sänger Raygun Bush mit kehligem Gekeife überzuckert, über das völlig neben der Spur fahrende Geschrei im Mittelteil bis zum Outro, in der sich Bushs Stimme vor Aussichtslosigkeit überschlägt. Selbst wenn er sich an normalem Gesang versucht, bleibt “Cool World” unbehaglich und düster. So wie im Goth-Grunge “Camcorder”, dem schleppenden “Milk Of Human Kindness” oder dem nach verzweifelteren Drug Church klingenden “Masc”. Klar ist es heutzutage wichtiger denn je, sich die Hoffnung zu bewahren, wo es nur geht. Die Welt ist weiß Gott schlimm genug. Aber manchmal muss man sich auch den Raum geben, für eine halbe Stunde bis Stunde in die Dunkelheit abzutauchen. Dafür ist “Cool World” der perfekte Soundtrack, der seinen Genremix exzellent ausbalanciert und gleichzeitig ausgeklügelt und roh klingt.
Florian Zandt
48
48VÖ: 19. Januar | Label: Sub Pop
Experimentierfreude steht auch auf dem dritten Album des französischen Trios groß auf der Visitenkarte. Zusammengehalten von einem futuristischen Gesamtkonzept spielt die Band aus Toulouse sich auf “Ilion” erneut nach vorne im Bereich der High-Information-Musik. Treibendes Schlagzeug und dichte Riff-Texturen schichten überwältigende Klangwände auf, vor denen Bassist Rémi Fossat Pick-schreddernd Skalen abfeuert – die kann er sich nur durch einen Deal mit dem Teufel verdient haben. Sein Bruder Jean webt mit effektbeladener Gitarre, einem Synthesizer und seinen kehligen Screams Klangflächen, die im Zweifel lieber verstören als stilsicher vom Erbe des Krautrock zu zehren. In Prog-Brocken wie dem zwölfminütigen “The Words That Have Never Been Heard” bleiben Slift so eher künstlerischer Radikalität verbunden statt wie eine Generation von Neo-Proggern zitatsicher Musikgeschichte der 70er zu erzählen. “Ilion” wird schnell zum Gift, wenn es als Nebenbei-Soundtrack konsumiert wird. Wer sich der Platte aber wie einem gefährlichen Treibstoffgemisch nähert, findet hier den Sprit für eine facettenreiche Reise durch andere Musikuniversen.
Martin Iordanidis
47VÖ: 2. August | Label: BMG
Auf “Birthday” verabschieden sich Blues Pills vom selbst verordneten Diktat, so retro wie möglich zu klingen. Immerhin hat das schwedische Quartett seinen Retrosound vorher über drei Alben lang bis zum Exzess gefeiert. Ihr neues Soundkleid webt mit Freddy Alexander ein Produzent, der eher dem Pop zugewandt ist als dem Rock. Sängerin Elin Larsson denkt aber auch auf dem Hochglanzpapier von “Birthday” nicht daran, ihre Stimme glattzuschmirgeln. Kompakte Dreiminüter wie “Don’t You Love It” oder “Bad Choices” zeigen die Popgenetik der Band und kitzeln jenes Hitpotenzial heraus, das sich nach Jahren auf Tour entwickeln konnte. Gitarrist Zack Anderson steuert lieber Hooklines für den Hintergrund bei, statt wie auf dem Vorgängeralbum “Holy Moly!” in überlange Improvisationen abzutauchen. “Birthday” ist reduziert und konzentriert im besten Sinne. Durch die lichten Arrangements und das von Grund auf bereinigte Klangbild entstehen Räume, die Larsson in “Top Of The Sky” mit fantastischem Crooning auszufüllen weiß. Ihre erste Schwangerschaft funktioniert so auch als ästhetisches Zentrum eines charttauglichen Albums perfekt.
Martin Iordanidis
46VÖ: 4. Oktober | Label: Century Media
Das zweite Album von Fever 333 erhöht den HipHop-Anteil im Crossover-Sound aus Rap, Hardcore und Metal. Frontmann Jason Butler hat “Darker White” zusammen mit den neuen Mitgliedern Thomas Pridgen (Ex-The Mars Volta), April Kai und Brandon David (Ex-Therefore I Am) geschrieben und aufgenommen. Songs wie “Murderer” und “Nosebleeds” lassen den aktivistischen und kritischen Geist des Debüts “Strength In Numb333rs” (2019) aufleben. Die Band beschäftigt sich mit dem Leben von People of Color in den USA. “$wing” dreht sich um deren Ausbeutung in der Sportindustrie, im Opener “New West Order” geht es um Butlers Jugend und fehlende Diversität in der Rockmusik. “No Hostages” ist einer der besten Songs: Die Hymne driftet im Refrain in Metalcore-Gefilde ab und stellt den Rassismus im US-Justizsystem an den Pranger. In “Bull & A Bullet” sorgen Soul-Elemente und Sprechgesang für Abwechslung, während “Tourist” auch mit Funk und R&B experimentiert – stimmlich verfolgt Butler hier einen ähnlichen Stil wie Kendrick Lamar. “Darker White” braucht dieses Energielevel auch nicht bis zum Schluss aufrechtzuhalten, um eines der besten Crossover-Alben des Jahres zu sein.
Vivien Stellmach
45VÖ: 19. April | Label: Pure Noise
Als passionierter Marathonläufer versteht Dylan Baldi das Prinzip Ausdauer – ein Prinzip, das er auch konsequent auf seine Band Cloud Nothings überträgt. “Final Summer” profitiert von der Möglichkeit, sich jahrzehntelang frei zu entfalten, während lautere, ähnlich gelagerte Bands im Rampenlicht stehen. Beharrlichkeit zeigt sich sowohl in den hartnäckig lebensbejahenden Texten als auch in der steten Weiterentwicklung des Gitarrensounds und Zusammenspiels. “Final Summer” überzeugt vor allem mit Baldis gutem Gespür für Gegensätze: Die scheinbare Unvereinbarkeit von rauer Energie und melancholischer Harmonie wird zur treibenden Kraft und entfaltet eine fesselnde Spannung. Ausschweifende Texte und verwinkelte Songstrukturen sind für diesen Sprint ins Herz nicht nötig. Die Gitarren weisen jedem Song – schneidend, luftig oder transparent – den besten Weg, treiben das Schlagzeug souverän vor sich her, führen den Bass an der Leine. Cloud Nothings verewigen ein bitter-süßes Lebensgefühl, wie der Geruch, der entsteht, wenn Regen im August auf den trockenen Boden fällt. Aber auch im Winter bietet sich “Final Summer” als warmer Zufluchtsort an.
Nadine Schmidt
44Big Special Postindustrial Hometown Blues
VÖ: 10. Mai | Label: So
Das Cover lügt: Auf ihrem Debüt zeigen Big Special, dass britischer Post-Punk aus der Working Class über mehr Schattierungen verfügt als Grautöne. Klar, stilprägende Bands wie Idles und Shame stecken im Herz der Musik von Sänger Joe Hicklin und Schlagzeuger Callum Moloney, ihre Geschichten aus den englischen West Midlands öffnen die Perspektive musikalisch und inhaltlich aber für mehr. Von der Hoffnung, all dem zu entkommen, und sanften Bläsern (“DiG!”) über dichtes Storytelling vor pochenden Synthies (“Broadcast: Time Away”) bis zum Siedepunkt zwischen Soul und Punk (“This Here Ain’t Water”) ist das Feld geöffnet. Gemeinsam taumelt das Duo durch die Gassen, mal mit übersteuerter Punkwut, mal mit Sprechgesang zu flackerndem Synthie-Beat zwischen Deadletter und Sleaford Mods, zuletzt aber auch versöhnlich in mit Bläsern untermalten Storytelling-Momenten. So exzentrisch und beißend wie auf der Single “Shithouse” klingen Big Special auf dieser Platte selten. Stattdessen schlummert Zuversicht unter einem Morast aus Mental-Health-Problemen, Klassenkampf und Verwahrlosung. Selten wurde diese Zuversicht 2024 so vielschichtig skizziert.
Julia Köhler
43VÖ: 1. März | Label: Epitaph
Mit “I Got Heaven” veröffentlichen Mannequin Pussy im März 2024 ihr widersprüchlichstes und gleichzeitig interessantestes Album. Die zehn Songs setzen die Hörer:innen heftigen Wechselbädern der Emotionen aus, musikalisch wird der Bogen von wütendem Hardcore-Punk bis lieblichem Indiepop weit gespannt – ohne zu reißen. Der Vergleich mit Holes Klassiker “Live Through This” ist gerechtfertigt, gelingt es den vier aus Philadelphia doch wie einst Courtney Love, die Paradoxien aus weiblichem Begehren, Hass, Lust und Sehnsucht zu thematisieren. Fast jede Zeile dieses Albums ist Warnung und Aufforderung zugleich: “Tell me what you need”, schreit Marisa Dabice im hart rockenden, gerade mal anderthalbminütigen “Aching”. “I Don’t Know You” ließe sich hingegen als romantisches Liebeslied voller Selbstzweifel verstehen, schraubte sich nicht diese gewaltig dröhnende Gitarrenwand in den so sanft und zärtlich beginnenden Shoegaze-Sound. Ihre offen gezeigte Verletzlichkeit, die die Musik von Mannequin Pussy schon immer so persönlich und eindringlich machte, nutzt die Band auf “I Got Heaven” für unerwartete Wendungen. Es bleibt spannend bei Mannequin Pussy.
Christina Mohr
42VÖ: 19. April | Label: MNRK Heavy
Ein Vierteljahrhundert Scheiße fressen und in Gold umwandeln: High On Fire sind einfach nicht kaputtzukriegen. Natürlich nicht, denn kaputt genug sind sie von Natur aus. Entgegen allen Ungemachs gesundheitlicher Art und bei aller personellen Dynamik der vergangenen Jahre ballen Sänger und Gitarrist Matt Pike, Bassist Jeff Matz und der Neuzugang am Schlagzeug, Coady Willis, die Fäuste und erschaffen mit “Cometh The Storm” ein Album, wie es archetypischer für diese Band nicht sein könnte. Alle Parameter werden abgerufen, alle Schlüsselelemente bedient, alle High-On-Fire-Momente genüsslich zelebriert. Genauso muss es sein. Die Innovation liegt hier in der nie endenden Gegenwart des Riffmonuments, im zeitlosen Zauber des Getöses. Produzent Kurt Ballou gelingt es, die knorrige und dabei wild lodernde Macht des wohl ultimativen Power Trios des Sludge herauszuarbeiten und fast schon körperlich greifbar zu machen: dreckig und wuchtig, als stünde die Band auf der Bühne, und dennoch schillernd. Durchzogen von orientalischen Ziselierungen stellt der Brocken “Cometh The Storm” somit ein Highlight einer hoffentlich noch lange währenden Karriere dar.
Ulf Imwiehe
41VÖ: 4. Oktober | Label: Rough Trade
Ex-Black Midi-Gitarrist Geordie Greep feiert mit seinem Soloeinstand eine so farbenfrohe wie blutrünstige Kirmes des Unmöglichen. Nach dem Ende seiner Experimental-Rock-Band vernetzt Greep mit neuer Beinfreiheit die klassische Rockbesetzung in wieselflinken Stücken mit der einer Bigband. Er wechselt die Szenerie zwischen Jazzkeller, Prog-Schuppen und Strandparty schneller als die Klamotten. Für sein hanebüchenes Unterfangen schart er ein Team aus 30 Leuten um sich, die es jeder Wette zum Trotz schaffen, dass die Songs die Oberhand über die Komplexität behalten. Greeps Stimme erinnert inmitten der Virtuosität mehr denn je an Fish von Marillion. Als hätten sich die Prog-Veteranen in Funk verliebt und einen Liter Espresso getankt. Wobei sich Vergleiche an dieser Stelle eigentlich verbieten, lässt die musikalische Spannweite von Progrock, Jazz, Ausdruckstanz zu lateinamerikanischen Rhythmen bis zu Funk und Yacht Rock kaum etwas aus. Dass “The New Sound” trotzdem so frisch und unterhaltsam geraten ist, gleicht einer Unmöglichkeit, die Greep 2024 nicht nur seiner Konkurrenz, sondern vor allem seiner einstigen Hauptband voraushat.
Daniel Thomas
40VÖ: 13. September | Label: Ipecac
Schon super, dass The Jesus Lizard nicht dort anknüpfen, wo sie vor 26 Jahren aufgehört haben. Natürlich ist “Blue” (1998) nicht so schlimm, wie viele behaupten, aber eben auch nix, wofür man damals eine Postkarte nach Hause geschrieben hätte. Außerdem: 26 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Chicagos Noiserock-Primaten addieren sich: “Hide & Seek”, “Falling Down” und “Moto (R)” explodieren mit Punkrock-Energie, “Alexis Feels Sick” mit der Lizenz zum Nerven sägen, und was Duane Denison in Grind mit seiner Gitarre anstellt, grenzt an Irrsinn. Überhaupt schimmern immer wieder Tomahawk‘sche Sollbruchstellen durch das überraschend musikalische Comeback, ehe David Yow zwischen Vorstadtpsycho, creepy Uncle, Nervensäge und dem besten Punk-Frontmann der Welt alles ausleuchtet – mit dem Flammenwerfer. Am Ende bleiben The Jesus Lizard die einzige Band der Welt, die in Kunst fassen kann, wie es sich wohl anfühlt, ausgerechnet in einer vollgepissten Rastplatztoilette festzustellen, dass man Löcher in den Schuhsohlen hat. Muss man wollen, klar. Aber das, so viel Nostalgie muss auch erlaubt sein, ist der Kern von Yow & Co.: The Jesus Lizard muss man wollen.
Michael Setzer
39Fu Manchu The Return Of Tomorrow
VÖ: 14. Juni | Label: At The Dojo
In einem Genre wie Stoner Rock, in dem Wiederholung und Reduktion zur Kunstform erhoben werden und mehr vom Gleichen nicht selten als zentrale Maxime des künstlerischen Outputs dient, ist es mitunter schwierig herauszustechen. Geschweige denn, nachhaltig zu beeindrucken. Wie man es trotzdem schafft, zeigen Fu Manchu auf “The Return Of Tomorrow”. Dafür brauchen die Kalifornier nicht viel und vor allem nicht viel Neues: Bass, Fuzz und Massen an Riffs bilden auch auf dem mittlerweile 13. Album in der Geschichte von Fu Manchu das musikalische Fundament der Band um Sänger und Gitarrist Scott Hill. Dass sich die Band 2024 jedoch anders als andere Stoner-Rock-Legenden nicht in öder Selbstreferentialität verliert, ist vor allem dem vorzüglichen Songwriting geschuldet. Das Quartett aus Orange County, Kalifornien balanciert wie selbstverständlich auf der Schnittkante zwischen Groove und Heaviness, feiert das eigene Standing als Genre-Primus und macht “The Return Of Tomorrow” somit nicht nur zu einem der Album-Highlights des Jahres. Es ist auch Beweis der eigenen ungebrochenen Relevanz im mittlerweile 39. Jahr des Bandbestehens.
Marcel Buchwald
38Knocked Loose You Won't Go Before You're Supposed To
VÖ: 10. Mai | Label: Pure Noise
Mit klarer Kante strecken Knocked Loose auf “You Won’t Go Before You’re Supposed To” in zehn Songs alles nieder. Dass die Band aus Kentucky die Quintessenz einer guten Hardcore-Platte schon seit einigen Jahren verinnerlicht hat, ist bekannt, ihr drittes Album verfügt aber über die optimale Mischung aus brutaler Härte und dem nötigen Biss beim Songwriting. Das polarisiert einige Monate nach der Veröffentlichung sogar die breite Masse, als Knocked Loose gemeinsam mit Poppy ihren Song “Suffocate” im Rahmen von “Jimmy Kimmel Live” im US-Fernsehen spielen – das gemeine Publikum fordert eine Entschuldigung, die Hardcore-Community lacht sich ins Fäustchen. Massentauglich geben sich Knocked Loose schließlich keinesfalls, setzen innerhalb ihres Genrerahmens aber neue Maßstäbe dafür, was eine gute Platte beinhalten sollte. Ob Blastbeats, die pure Aggression von Frontmann Bryan Garris oder emotionalere Momente, die von Feature-Gast Chris Motionless geliefert werden, Stillhalten fällt während der 27-minütigen Laufzeit von “You Won’t Go Before You’re Supposed To” schwer. Der Weg in Richtung des nächsten Moshpits scheint weitaus verlockender.
Nicola Drilling
37VÖ: 22. November | Label: Stickman
Es gibt Stimmen, die behaupten, Post-Rock, Post-Metal und Konsorten seien tot. Oder sie finden die instrumentalen Breitwandepen zu artsy, zu prätentiös, zu viel Lärm um nichts. Es stimmt schon, dass es immer schwieriger wird, dem Genre noch etwas abzuringen. Andererseits möchte man diese Leute als wohlmeinender Fan manchmal wahlweise auf den Mond schießen, denn auf dessen Rückseite scheinen sie zu wohnen, oder eben zum Pelagic Fest, wo Bands wie And So I Watch You From Afar all die Vorbehalte spektakulär entkräften. Bei Weite handelt es sich um eine dieser Bands, die auch bei Pelagic oder Dunk! gut aufgehoben wären, es sind wohl ihre Entspanntheit und der psychedelische, kosmische Touch ihrer Stücke, weshalb sie zu Stickman passen – und natürlich, dass Schlagzeuger Nick DiSalvo mit Elder und Delving dort veröffentlicht. Aber um ihn geht es bei Weite nicht. Es geht um Raum, dessen Deutung und darum, darin Platz und melodische Anknüpfungspunkte zu schaffen für die Zuhörenden, die, zugegeben, von anderen Post-Rock-Bands gerne mal im Stich gelassen werden. Es geht darum, einen Ort in der Leere mit Leben zu füllen. So einen Ort nennt man: Oase.
Martin Burger
36Hammerhead Nachdenken über Deutschland
VÖ: 9. Februar | Label: Holy Goat
Nachdenken über Deutschland? Stand jetzt, zwischen Remigrationsplänen oder dem geplanten Abbau des Sozialstaats, lieber nicht. Hammerhead machen das Gedankenspiel auf dem gleichnamigen Album, 26 Jahre nach der bislang letzten Platte in voller Länge, trotzdem mit. Dass dabei kein Popalbum rauskommt, war klar. Vielmehr kanalisiert die Band ihre Wut auf Autokultur, die Neue Rechte, Kriegstreiberei und den sogenannten “aktuellen Zeitgeist” in 14 Songs, von denen nur vier die Zwei-Minuten-Marke knacken. Die Stücke selbst schwanken zwischen Midtempo-Stampfern wie “Spaß und Politik”, Doubletime-Schlagzeug-Brechern wie “Alle pissen an den Dom” und Blastbeat-Exkursen wie in “Ich bin noch ganz der Alte”. Klassischer Hardcore-Punk eben, mit Kante, Aggression und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie man ihn eher aus den 80ern und 90ern kennt. Hammerhead verwehren sich modernen Genre-Strömungen – und das hat seinen Reiz. Sowohl für diejenigen, die mit kompromisslosem Hardcore aufgewachsen sind, als auch für nachwachsende Generationen, die wissen wollen, wo deutschsprachiger Hardcore zwischen Provokation und Angepisstsein seine Wurzeln hat.
Florian Zandt
35VÖ: 8. November | Label: BMG
Wenn nach 40 Sekunden ein Synthesizer fiept und einer der tanzbarsten Beats des Jahres einsetzt, hat man eine Sorge weniger. “Come Ahead” dockt bei “XTRMNTR” und “Screamadelica” und nicht an der langatmigen Rolling Stones-Phase von Primal Scream an. Die Stimmung im Opener “Ready To Go Home” ist gelöst. Wie sich Gillespie und ein Gospelchor die Bälle zuspielen, macht Spaß, der Bass pumpt, das Schlagzeug schiebt. Alles scheint bereit für eine unbeschwert durchtanzte Nacht, bis man realisiert, dass Gillespie mit diesem Song seinen sterbenden Vater loslässt. Euphorischer und angstfreier ist dieses Jahr niemand dem Tod eines geliebten Menschen begegnet. Diese Doppeldeutigkeit setzt den Ton für die zehn weiteren Songs. Wie einst Heaven 17 mit “Fascist Groove Thang” verkleiden Primal Scream ihre politische Botschaft musikalisch und erreichen so noch mehr Durchschlagskraft. “Deep Dark Waters” etwa ist gleichermaßen Abrechnung mit jenen Kräften, die den Brexit betrieben haben, wie Erinnerung, aus der Geschichte zu lernen, sonst wiederholt sie sich: “Shadows from the past/ Cancelling the future/ We thought we’d seen the last/ Of the Euro high class butchers”.
Florian Schneider
34Chelsea Wolfe She Reaches Out To She Reaches Out To She
VÖ: 9. Februar | Label: Concord
Chelsea Wolfes Alben sind Messen der dunklen Sorte, ihre Konzerte sowieso. Als selbsternannte Hexe mit veritabler Alkoholsucht scheuen ihre Songs seit jeher das Tageslicht wie der Teufel das Weihwasser. Während die meisten ihrer Alben von ängstlicher Zurückhaltung geprägt sind, gibt “She Reaches Out To She Reaches Out To She” mit verzerrten Gitarrenschichten, Drum-Pads, Elektronik und Klavier nun allerdings eine selbstbewusste Mischung von Wolfes metallischer Melancholie zum Besten. Ob das damit zu tun hat, dass es der Kalifornierin 2021 gelingt, mit dem Trinken aufzuhören, bleibt spekulativ. Trotzdem korreliert diese nüchterne Erkenntnis mit der zweifellosen Katharsis dieser Platte, die sich von ihrem akustischen Vorgänger “Birth Of Violence” von 2019 schon im Ansatz abhebt. In Songs wie “House Of Self-Undoing” thematisiert sie ihren jahrelangen Rausch und resümiert in “The Liminal”: “All you ever wanted was the liminal/ All you left behind was your exoskeleton”. Nach dem eigenen Großreinemachen glaubt man schließlich in dem wohl nicht zufällig als “Place In The Sun” betitelten Song ein paar Lichtstrahlen erkennen zu können.
Daniel Thomas
33VÖ: 28. Juni | Label: Warner
Kammerjäger fürs Gewohnheitstier: Der Vorgänger “Yours” markiert das vorläufige Ende des Kreativgespanns Beatsteaks und Produzent Moses Schneider. Auf Bromance-Ebene mag es wundervoll sein, dass man gegenseitig seine Sätze beendet und maximale Vertrautheit herrscht, für die Inspiration hat das aber auch eine verkümmernde Wirkung. Mit angstschweißnassen Händen und Produzent Olaf Opal an ihrer Seite stellen sich die fünf Berliner auf Please einem neuen Kapitel. Auf dessen erster Seite “Goodbye” fliegen einem direkt druckvoll-sexy Bässe entgegen, weiter hinten wird empfohlen, das euphorische “Against All Logic” auf keinen Fall ohne Tanzschuhe zu betreten, und nur einen Song weiter liegt in “Love Like That” so viel Liebe in der Luft, dass man einen kurzen Moment braucht, um das folgende “The Lunatics” als Fun-Boy-Three-Cover zu identifizieren. Ein Angstmoment, sich mit dieser Coverversion direkt an einen von Opals Lieblingssongs zu wagen, aber auch hier hätte der Song die Band ohne ihren neuen Produzenten gar nicht erst inspiriert. Am Ende war es die richtige Entscheidung, der “Magic Feel” ist weiterhin intakt, es brauchte nur einen neuen Impuls.
Juliane Kehr
32VÖ: 9. August | Label: Hopeless
Auf ihrem vierten Album laden Destroy Boys zur Beerdigung ihrer Vergangenheit. Im Vergleich zum Sound ihres Debüts klingt die Band aus Sacramento erwachsener und widmet sich queer-feministischen Themen, ohne ihre in den vergangenen Jahren geschaffene Identität aus den Augen zu verlieren. Die Thematik liegt auf der Hand: Die Band um Alexis Roditis ist sauer auf die Umstände, in denen weiblich gelesene und nicht binäre Personen leben müssen. Schon der erste Satz von “Bad Guy” bringt ihre Wut auf den Punkt: “I wanna spit in your face”. Später dann in “You Hear Yes” lassen sie auch ihrem Hass gegenüber Männern, die ihre Machtposition ausnutzen, gemeinsam mit Scowl und Mannequin Pussy freien Lauf. Etwas weiter weg von ihren musikalischen Wurzeln, dafür näher an ihre familiären Wurzeln wagen sie sich mit dem spanischen Song “Amor Divino”. Dabei bleibt Punk-gemäß der Großteil der Songs bei einer Laufzeit von unter drei Minuten und wird immer wieder mit Hardcore-Elementen (“Should’ve Been Me”) und dem ein oder anderen Pop-versierten Durchatmen (“Plucked”) versehen. Die Botschaft von “Funeral Soundtrack #4” kommt an und bleibt direkt im Ohr.
Nicola Drilling
31VÖ: 19. Juli | Label: BMG
“‘Cause of you Punk’s dead”, zitieren Soft Play (früher Slaves) in “Punk’s Dead” einen der vielen Hasskommentare nach ihrer Umbenennung. Wie viel Laurie Vincent und Isaac Holman von den Vorwürfen halten, sich auf dem Altar der Wokeness geopfert zu haben? Sie lassen kurzerhand Robbie Williams – ja, der “Angels”-Sänger und Ex-Take-That-Mitglied – die Bridge des Songs übernehmen. “Heavy Jelly” ist für alle, die sich nicht von linken Idealen abschrecken lassen, wegen solcher ursympathischen Aktionen ein großer Spaß. Weil Soft Play zwischen absoluten Quatschsongs wie “Worms On Tarmac”, in dem sie aus der Perspektive eines Wurms von den Anfängen der Erdgeschichte singen, bis zu tosendem Krach über Ungerechtigkeiten und Mental Health alles können. Und weil sie sich auf “Heavy Jelly” mehr denn je dem Nu Metal der 00er Jahre öffnen. So stark, dass “Act Violently” auch eine verschollene B-Seite von “Toxicity” sein könnte. Holman spuckt und gellt, wütet und sorgt sich, zudem hat er für das vierte Album der Band die tanzbarsten Beats der alternativen Jahrescharts parat. Hit-verdächtig klingt das meist, lässig auch. Tot aber so gar nicht. Sorry.
Julia Köhler
30VÖ: 19. April | Label: Monkeywrench
Mit “Dark Matter” endet ein Running Gag. Streng genommen wartet man seit Ende der 90er, seit “Yield”, auf ein Album, auf dem Pearl Jam mal wieder Zähne zeigen. Nicht hier und da, sondern überall. Vorabsingles, die einen das glauben ließen, gab es seitdem ständig. Doch die zugehörigen Alben lösten das Versprechen niemals ein. So ist auch bei “Dark Matter” vorerst Skepsis angesagt, als die erste Single des gleichnamigen Albums – Pearl Jams zwölftem – im Februar die Muskeln spielen lässt. Und dann kommt die Platte, das Ende des Running Gags. Hart geprügeltes Schlagzeug, Metal-Riffs, Eddie Vedders grollende Stimme, die manche Wörter mehr ausspuckt als singt. Wut! Lärm! Drama! Rohe Emotionen auf Albumlänge. Als wollten Pearl Jam den Verlust ihrer Freunde aus den gemeinsamen Grunge-Heydays kompensieren, klingen sie auf “Dark Matter” mitunter mehr nach Soundgarden als sich selbst. Das Artwork: wieder ein Debakel, aber geschenkt. Die Welt ist nicht besser geworden, seit man sich diese Wiederauferstehung von Pearl Jam erstmals gewünscht hat. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang. Harte Musik für miese Zeiten. So gesehen kann man sich aufs nächste Album freuen.
Dennis Plauk
29VÖ: 3. Mai | Label: Matador
Wie wichtig sind Worte? Wer nicht die Tuareg-Sprache spricht, in der Mdou Moctar singt, versteht nicht viel von dem, was der nigrische Sänger mitteilen möchte. Dabei geht es ihm um eine ganze Menge. “Funeral For Justice” handelt nicht von Boy-meets-girl und auch nicht davon, wie schwer es ist, sich in hiesigen In-Vierteln von seinen weniger coolen Mitmenschen abzugrenzen, sondern von aktueller Geopolitik und ihren Auswirkungen auf die Verhältnisse vor Ort. Vor Ort liegen Niger, Mali und Algerien, in den Nachrichten vor allem wegen islamistischer Terrorgruppen und der Unfähigkeit der ehemaligen Kolonialherren, die Gegend zu befrieden. Trotzdem wird auch getanzt in der Wüste, auf eine Weise, mit der jeder etwas anfangen kann. Das liegt nicht zuletzt an der Instrumentierung. Der Tuareg-Blues baut in erster Linie auf eine entfesselte E-Gitarre, kombiniert mit einheimischen Rhythmen, nochmals kombiniert mit der Idee, dass Musik eine globale Sprache ist. Das vermittelt sich auch in Stücken wie “Sousoume Tamacheq” oder “Modern Slaves”, die gleichzeitig lebensbejahend und konfrontativ sind. Und daran erinnern: This is not entertainment.
Markus Hockenbrink
28Kim Deal Nobody Loves You More
VÖ: 22. November | Label: 4AD
So erstaunlich es ist, dass Kim Deal erst 2024 ein Soloalbum herausbringt, so nachvollziehbar ist es auch. Deal fühlt sich allein nicht wohl, hat immer in Bands – Pixies, The Breeders, The Amps – gespielt, von ein paar Solo-Singles abgesehen. Und selbst die entstanden mit der Unterstützung befreundeter Musiker:innen. Auch auf “Nobody Loves You More” spielen viele gute Bekannte mit, unter anderen Fay Milton und Ayse Hassan (Savages) sowie Raymond McGinley von Teenage Fanclub, produziert hat teilweise noch Steve Albini. Es passt zu Deals höchst sympathischem Slackertum, dass einige Songs schon mehrere Jahre alt sind: “Are You Mine?” etwa, eine zärtliche Erinnerung an Deals tote Mutter, stammt aus den frühen 2010er Jahren, die Urversion von “Coast” entstand bereits 2000. Dementsprechend klingt “Nobody Loves You More” stellenweise nostalgisch und ein bisschen wehmütig, aber es ist auch Platz für energetische Powerstücke wie “Disobedience” und “Big Ben Beat”, die natürlich an die Breeders erinnern. Wie könnten sie auch nicht, schließlich sind es Deals Stimme und Gitarrenspiel, die ihre früheren Bands und ihre jetzige Solo-Inkarnation prägen.
Christina Mohr
27Fidlar Surviving The Dream
VÖ: 20. September | Label: Diggers Factory
Jedes Lebenzeichen von Fidlar ist ein gutes Zeichen, denn es beweist, dass Zac Carper noch lebt. Von Anfang an macht er in den Texten seiner Songs keinen Hehl daraus, dass er es permanent mit Substanzen aller Art übertreibt. Das ändert sich auch auf “Surviving The Dream” nicht. Mag sein, dass da Koketterie mitschwingt, aber Carper hat gewiss seine Probleme, und die reichen ihm für die Inhalte seiner mal sonnigen, mal zotigen, mal rotzigen Songs. Von denen gab es seit dem meisterhaft eklektischen “Almost Free” von 2019 eine Menge. In Form von EPs, Tapes, Downloads, Standalone-Singles und Coverversionen von Limp Bizkit bis Tom Petty. Jedes Häppchen von Fidlar ist ein gutes Häppchen. Aber: 13 Songs am Stück sind besser. Denn noch immer ist die zwischenzeitlich vom Quartett zum Trio geschrumpfte Band darauf erpicht, alles zu verwursten, worauf sie Bock hat: Surf, Punk, Power Pop, Garage Rock, Slacker-Indie… Nichts davon geht in die Hose, das meiste wird zum Hit. Mal krakeelend, mal versöhnlich. Den Weg, den Fidlar bei der Veröffentlichung einschlagen, ist jedoch – nun ja – interessant: Physisch gibt es “Surviving The Dream” erst ab Ende Januar 2025.
Jan Schwarzkamp
26VÖ: 1. März | Label: Sub Pop
Die großen politischen Manifeste überlassen Pissed Jeans auch mit ihrem sechsten Album anderen. Matt Korvette hat sieben Jahre nach “Why Love Now”, auf dem er vor allem Sexismus, Patriarchat und Schönheitsideale sezierte, ganz andere Probleme: Anfang 40, “Half Divorced”, immer noch im Großraumbüro und, wie es sich für einen anständigen US-Bürger gehört, bis in die Haarspitzen verschuldet – ach, geht gar nicht, sind eh schon alle Haare ausgefallen. Nur konsequent, dass seine vor Aggression überschäumende Antwort auf all den Scheiß um ihn herum zum bisher witzigsten Album der Noisepunks aus Allentown, Pennsylvania wird. So verlässt sich Korvette als hoffnungsloser Romantiker in “Anti-Sapio” etwa lieber auf seinen Geruchssinn als auf den Intellekt seines Gegenübers, in “Helicopter Parent” wachsen seine Mikroaggressionen über Reihenhauseltern ins Maxiformat und in “Everywhere Is Bad” frohlockt er mit der Erkenntnis, dass eigentlich jeder Ort im ganzen Universum irgendwie für den Arsch ist. “I’m sorry if that makes you sad.” Kopf hoch, der komplett abrasive Anti-Song “Junktime” und das fast schon poppige “Moving On” sind dafür Songs des Jahres.
Jonas Silbermann-Schön
25VÖ: 8. März | Label: Matador
“Männer!” Das ist der erste Gedanke von Ex-Kanzlerin Angela Merkel zum Streit zwischen Olaf Scholz und Christian Lindner. Vermutlich hat Merkel zuvor nicht “I’m A Man” von Kim Gordon gehört, als ihr das in den Kopf kommt. Beide sind Boomerinnen, weshalb sie aus erster Hand wissen, wie uneinsichtig ihre Generation ist, wenn es um toxische Männlichkeit geht. “Don’t call me toxic/ Just ’cause I like your butt”, singt Gordon in “I’m A Man”, und lediglich die verzerrte Gitarre erinnert noch an jene Karriere, die sie mit Sonic Youth hatte. Für ihr zweites Soloalbum hat sich Gordon stattdessen noch tiefer in Trap eingegraben. Überall auf diesem Album brummt und fiept, kratzt und schabt es, während Gordon ihre Texte aufs Nötigste reduziert. Wenn es sein muss, reicht ihr eine Einkaufsliste als Text wie im grandiosen Opener “Bye Bye”. Mit etwas Fantasie lässt sich der Song aber auch als Schlussstrich unter eine Beziehung lesen. Er beschreibt dann den Moment, wenn man seine Siebensachen zusammenrafft und partout nicht wiederkommen möchte. Dass “The Collective” zudem die Fähigkeit besitzt, Ablehnung zu provozieren, macht diese Platte nur noch besser.
Florian Schneider
24VÖ: 23. Februar | Label: Glitterhouse
Als Duo hat man es nicht immer leicht, scheitert entweder an sich selbst wie Japandroids oder spielt live gar nicht zu zweit, weil man nur im Studio so richtig fett klingt. Iedereen umgehen mit ihrem Wahnsinnsdebüt direkt beides. Ron Huefnagels und Tom Sinke sind unzertrennliche Sandkastenfreunde, haben die schwerfällige Bandwerdung schon überlebt, und die Frage mit dem Sound stellt sich gar nicht: Live verausgaben sich die beiden dermaßen, dass sie gefährlich nah an der Implosion stehen. Ihre Vehemenz auf der Bühne wohnt auch dem Album inne. Schon im Opener gehen Iedereen wortwörtlich fast KO, oder wollen das einem zumindest weismachen, während sie Garage Rock mit hyperaktiven Riffs wie von Gang Of Four oder Wipers durcheinanderwirbeln und liebevoll mit dem Idles-Vorschlaghammer draufhauen. Darüber schwebt der Geist von Rio Reiser, der geschmackssicher den gefrusteten modernen Mann an der Nase herumführt. Explizit im hittigen “Chauvi”. Oder eben abstrakter in “Autofahren”, einem Plädoyer fürs Tempolimit, inklusive Gendersternchen und Mini-Zitat von Bowies “Heroes”. Grenzenloser Spaß, wie ein Trip am Schnäppchentag zu Albert Heijn.
Jonas Silbermann-Schön
23VÖ: 15. November | Label: Warner
Linkin Park hatten es nie leicht in der Musikpresse, auch und insbesondere in diesem Magazin. Selbst ein Kunstwerk wie “A Thousand Suns” (2010) erntete bei VISIONS lediglich ein kühles “Respekt”. Es ging um unterstellte Rückgratlosigkeit im Musikgeschäft, aber vor allem um Soundfragen. Denn, nicht missverstehen, Linkin Park haben auch eine Menge Gefälliges, Oberflächliches fabriziert. Dafür konnte man sie kritisieren. Loben muss man sie dafür, dass sie mit ihrem Stilmix etliche Fans meist grundverschiedener Genres zusammenbringen. Dass sie nie aufgehört haben, ihre Grenzen auszuloten und dabei immer nach sich klangen. Wenn Metal dabei herauskam oder Pop in Großbuchstaben: bitte sehr. Linkin Park haben mit dem tragischen Tod von Sänger Chester Bennington erlebt, woran viele große Bands zerbrochen sind. Sie trauerten, hatten auch den Abgang von Drummer Rob Bourdon zu verkraften – und haben sich mit Colin Brittain und Emily Armstrong erfolgreich reanimiert. Sie sind nicht wie ausgewechselt, sie haben ihre Identität be- und erhalten. Nicht nur darum ist “From Zero” eines unserer 50 Alben des Jahres. Es enthält auch ziemlich viele ziemlich gute Songs.
Martin Burger
22VÖ: 9. August | Label: Pelagic
Mit “Megafauna” veröffentlichen And So I Watch You From Afar einen etwas verspäteten Liebesbrief an die Menschen und Orte, mit denen und an denen sie gemeinsam durch die Pandemie gegangen sind. Im Gegensatz zum Vorgänger “Jettison” (2022) handelt es sich nämlich erst bei der im August veröffentlichten Platte um ihr persönliches Corona-Baby. Für ihr mittlerweile siebtes Album ist die Band aus Belfast zu ihren musikalischen Wurzeln zurückgekehrt und hat die Songs innerhalb von gerade einmal einer Woche eingespielt. Zwischen den Zeilen schwingt ein Stück Melancholie zwischen allem Fuzz und Math-Rock-Gezeter mit, schon nach den ersten Takten des Openers “North Coast Megafauna” dürfte sich bei regelmäßigen Hörer:innen der Band aber schon ein Gefühl von Heimat einstellen. Dennoch bleibt der ungewohnte, fast schon positiv-verspielte Unterton von “Megafauna” nicht auf der Strecke, insbesondere in “Mother Belfast, Pt 2”, auch jazzige Momente lassen sich etwa in “Years Ago” finden. Kurz bevor die Aufmerksamkeitsspanne für Instrumentalalben dann an ihre Grenzen kommt, ist nach 43 Minuten auch schon Schluss. Wieder mal haben die Nordiren alles richtig gemacht.
Nicola Drilling
21VÖ: 26. Januar | Label: Noisolution
Auf Coogans Bluff ist Verlass. Längst über Stoner-Zirkel hinaus bekannt, fordert sich die Band mit jeder Platte aufs Neue heraus. Die Jam-Freunde sind mit ihrer Bläsersektion symbiotisch verschmolzen, verbinden Classic Rock mit Elementen aus Funk, Soul und Jazz. Mit “Balada” nehmen Coogans Bluff nach den drei gelungenen Alben “Gettin’ Dizzy” (2014), “Flying To The Stars” (2016) und “Metronopolis” (2020) weiterhin eine Ausnahmestellung in der heimischen Rockmusikszene ein. Das ist Fusion, aber in sexy und tanzbar, wie der smoothe Titelsong mit Clemens Marasus’ Kopfstimme beweist, und nicht bloß Angeberei. Es ist das Werk von Könnern mit dem Willen, Songs zu schreiben, die auch ohne Musikstudium funktionieren. Und sie klingen wahnsinnig gut. Aufgenommen in professioneller DIY-Manier in Schlagzeuger Charlie Paschens Studio in Leipzig. Für das herzzerreißende “Farewell” haben sie sich sogar echte Streicher gegönnt, um die A-Seite mit einem hochdramatischen Crescendo ausklingen zu lassen. Und es ist auch eine Kunst, ein Cover so einzubinden, dass es organisch wirkt. Mit “One More Time” von Joe Jackson gelingt das Coogans Bluff bravourös.
Jan Schwarzkamp
20VÖ: 17. Mai | Label: Touch And Go
Ja, Steve Albinis unerwarteter und verfrühter Tod in diesem Jahr spielt hier mit rein, auch wenn er das nicht sollte. Es geht gar nicht anders, nicht bei einem Plattentitel, der Abreise und Abschied verheißt, wenngleich unbeabsichtigt. Nicht bei einem Song wie “I Don’t Fear Hell”, der dieses letzte Shellac-Album auch noch beschließt und bei dem man unweigerlich das Gefühl hat, dass Albini zur Abwechslung nicht in einen Charakter schlüpft wie in “Prayer To God” von “1000 Hurts” (2000). Oder von einem Charakter singt wie im vorletzten “To All Trains”-Song “Scabby The Rat”. Keine Angst vor der Hölle, das beschreibt Albini und seine Band mit Bassist Bob Weston und Drummer Todd Trainer denkbar zutreffend als Prototypen der unabhängigen Rockmusik, es beschreibt Albinis oftmals berechtigtes Granteln gegen das Musikbusiness. Vor allem, zum wiederholten Male und zu unguter Letzt, beschreibt es dieses Album. Dieses kurzweilige, reduzierte, hochdynamische, eigentümliche Noiserock-Album, das bei allem Understatement in den Credits eben doch groß klingt und deshalb allem Artverwandtem eine Nasenlänge voraus ist. Und scheiße noch mal, es tut weh.
Martin Burger
19VÖ: 11. Oktober | Label: Noisolution
Diva Heaven is a place on earth! Immer wieder erstaunlich, wie viele Arschtritte in zweieinhalb Minuten passen. Wer nur noch einen Rocksong für den Rest des Jahres hören will, der oder die greife zu “Rat Race” – als hätten sich Amy Taylor und die Cosmic Psychos auf eine Kreidler Florett geschwungen, um nach Berlin zu brettern und ein Dutzend Garagen in Schutt und Asche zu legen. 24/7 Diva Heaven haben es mit ihrem zweiten Album geschafft, gleich mehrere Evolutionsstufen auf einmal zu nehmen. Das Noise-Feuer brennt immer noch so gleißend hell wie auf dem 2021 erschienenen Debüt Stress, aber da sind auch unüberhörbare Pop-Partikel in ihrem Sound, die den Arrangements immer wieder Überraschungsmomente hinzufügen. Das grandiose “These Days” mit Arnim Teutoburg-Weiß auf dem Sozius, dieses tigerhaft Pirschende in “Born To Get Bored” oder “Suck It Up”, so rotzig, dass anarchischer Auswurf förmlich aus den Boxen dringt. Das alles und der gesamte Rest des Albums lassen nur einen Schluss zu, was die fulminant feministische Perspektive für die Zukunft von 24/7 Diva Heaven angeht: “L.O.V.E. Forever”. Und jetzt alle: Alerta, Alerta, Romantica Forever!
Ingo Scheel
18Vennart Forgiveness & The Grain
VÖ: 2. Februar | Label: Eigenvertrieb
Mit dem vierten Vennart-Album schließt sich ein Kreis. Auf dem Oceansize-Debüt “Effloresce” (2003) hat Mike Vennart persönlich und kaum verklausuliert getextet. In jedem weiteren Album, ob von Oceansize, British Theatre, Empire State Bastard oder solo, steckt auch genug von ihm, doch eine so klare Sicht wie damals erlaubt keines davon. Nichts gegen anspruchsvolle Songtexte – es gibt Gründe, warum VISIONS Vennarts exzentrisches zweites Soloalbum “To Cure A Blizzard Upon A Plastic Sea” 2018 dem Heft beigelegt hat. Dass er sich auf “Forgiveness & The Grain” wieder öffnet, hat trotzdem eine eigene Qualität. Die Platte drückt und dröhnt, wütend und roh, in “Three Syllables” wie im mächtigen “Seventy Six”. Aber Vennart erzählt in “The Japanese No” auch einfühlsam von seinem Verhältnis zu seinem Sohn und beendet in “R U The Future??” in klaren Worten, obgleich sanft, eine Freundschaft – da kann er die Vergebung im Albumtitel selbst nicht leisten. Über Musikalität abseits von Selbstzweck, mühelose Genre-Fluidität, Herz ohne Kitsch und kompromisslose Unabhängigkeit müssen hier wir gar nicht mehr groß reden, die sind Grundcharakteristiken von Vennarts Kunst.
Martin Burger
17Torres What An Enormous Room
VÖ: 26. Januar | Label: Merge
In die Breite statt nach vorn: Torres gibt ihrem charakteristischen Sound Raum, weiter aufzublühen. Wie einfach wäre es gewesen, nochmal so eine druckvolle Platte wie das gefeierte “Thirstier” zu machen. Doch Stillstand ist nicht der Stil der non-binären Singer/Songwriter:in. Stattdessen kommt in Songs wie “I Got The Fear” eine nachdenkliche Stimmung auf, zu einem eindringlichen Drumbeat und Zeilen wie “Though my usual tricks aren’t working/ And our only world is burning/ And even what is only real in my head/ Destroys me, are we all doomed/ To fulfill this prophecy?”. In “Ugly Mystery” webt sie wabernde Shoegaze-Schichten zu einem schwerelosen Klanggewebe zusammen und rüttelt direkt anschließend im selbstbewussten “Collect” zu groben Gitarreneffekten schon wieder an diesem meditativen Zustand. Erwartbar und in Stein gemeißelt, ist hier gar nichts. Spätestens, wenn sie im wogenden “Jerk Into Joy” energisch staunt “What an enormous room/ Look at all the dancing I can do!” wird klar, warum die zehn Songs so farbenfroh wachsen und gedeihen: Torres lässt Platz für Verspieltheit, Hoffnung, aber auch Wut und Zweifel, ohne etwas vorzuschreiben.
Juliane Kehr
16Kettcar Gute Laune ungerecht verteilt
VÖ: 5. April | Label: Grand Hotel van Cleef
Auch 2024 eröffnen Kettcar ihr Album mit einem der stärksten Songs: “Auch für mich 6. Stunde” setzt den altbekannten Lehrer:innen-Spruch mit dem aktuellen Überdruss an schlechten Nachrichten und einer damit oft einhergehenden Gleichgültigkeit in Bezug: “Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot.” Wer kennt es nicht? Eine Lösung können Kettcar selbstredend nicht bieten, aber sie regen und stoßen an – so stark und so pointiert, dass man ihre Songs tatsächlich im Schulunterricht analysieren könnte. Sei es das nach vorne preschende “München” über Alltagsrassismus oder “Doug & Florence”, das unter anderem ein Herz für Paketboten hat, die jetzt zur Weihnachtszeit sicher in den Chor einstimmen möchten: “Paketzusteller of the world unite/ Unite and take over”. Bei den vielen guten Songtexten, für die nicht nur Frontmann Marcus Wiebusch verantwortlich ist, sollte man aber nicht übersehen, wie brillant Gute Laune ungerecht verteilt auch musikalisch ist: Melodiöse Akzente, druckvolle Elemente und sogar Groove oder Aggressionen sind perfekt ausbalanciert in den zwölf Songs, die das Zeitgeschehen grandios und unterhaltsam dokumentieren.
Matthias Möde
15VÖ: 30. August | Label: Bad Seed
Es endet, wie es beginnt, mit einem Motiv, das sich seit jeher durch Nick Caves Texte zieht: mal verschlammt, dann ans Ufer rollend, wo die Steine die See treffen oder Kylie Minogue eine Rose zwischen den Zähnen trägt – mit der universellen Kraft des Wassers. “Song Of The Lake” eröffnet den Cave’schen Gottesdienst mit Streichern, Chören und Sprechgesang, demgegenüber steht “As The Waters Cover The Sea” als fragiles Finale samt Gospel-Besteck. Um Gnade ging es bei Cave schon vor über 35 Jahren, man denke an das ikonische “The Mercy Seat”, doch die Vorzeichen sind längst andere, das schicksalsschwere Biografische ist an die Stelle eines lyrischen Ichs getreten. Fünf Jahre nach dem in sich gekehrten “Ghosteen” öffnet Cave mit “Wild God” nun wieder die Arme. Es ist die Hoffnung auf das Licht am Ende des Tunnels, die sich in “Long Dark Night” Bahn bricht – so universell und kraftvoll, wie die Shows, die Cave in diesem Jahr auf der “Wild God”-Tour spielte. Ein Album, wie der Soundtrack des Lebens, die Botschaft schmerzhaft-schön: Rechne mit dem Schlimmsten ebenso wie mit dem Morgen danach, auch wenn die Nacht noch so lang und finster ist. Amen!
Ingo Scheel
14Touché Amoré Spiral In A Straight Line
VÖ: 11. Oktober | Label: Rise
Wie geht man zielsicher geradeaus, wenn sich in einem alles dreht und zusammenzieht? Sollte man überhaupt? Die Antwort fällt rockiger aus als zuletzt. Ein beckenlastiger Auftakt im Opener “Nobody’s” läutet die traditionelle halbe Stunde ein, die der Band einmal mehr reicht, um einen emotionalen Post-Hardcore-Sog zu entfesseln. Dazu stellt Jeremy Bolm schneidende Fragen wie “Is it enough/ To call it off/ And chalk it up to sometimes things don’t make sense?” Hierin unterscheiden sich Touché Amoré auch auf ihrem sechsten Album von vielen Genre-Kollegen: Jedes Wort trifft einen Nerv, weil es genau da steht, wo es stehen muss. Im folgenden “Disasters” strudeln die Gitarrenakkorde nach unten, wo neben einem Snarewirbel schon wieder verbale Peitschenschläge wie “The convenience of selective memory/ What I would give to pick and choose” warten. So geht es weiter über große Melodien und einen fast poppigen Bass in “Hal Ashby” bis zum epischen Hardcore-Abgang “Goodbye For Now”, in dem Julien Baker die hallende Sirene gibt – ein lapidarer letzter Songtitel im Vergleich zu dem Gefühlsaufruhr, den “Spiral In A Straight Line” hinterlässt.
Juliane Kehr
13VÖ: 16. Februar | Label: Partisan
Konsolidierung gibt es im Post-Brexit-Großbritannien reichlich, Grund genug für Idles, mit jedem neuen Album eine mittelschwere Revolution zu wagen, klanglich oder zumindest inhaltlich. Die auf ihrem fünften Album fällt größer als je zuvor aus und steht gleichzeitig für das Schaffen des Post-Punk-Flaggschiffs. “Tangk” reißt mit einem lautlosen Knall den monumentalen Brachialsound ein, den sich Idles erarbeitet haben, und vertieft, was bisher nur zwischen den Zeilen stattfand: Joe Talbots Liebe zu Gospel, Soul und HipHop – und vor allem Mark Bowens Verehrung für Sunn O))) und Aphex Twin. Dass der Paradigmenwechsel auch so dicht, verzerrt und harmonisch klingen kann, liegt an der kongenialen Produktion von Bowen, Kenny Beats und Nigel Godrich, der schon mit Radiohead Alternative Rock neu definiert hat und nun hilft, die Identität der Band transzendieren zu lassen. Einzig Talbots oft gesungenen statt gebellten Liebesbekenntnisse an seine Tochter, sich selbst und alle um ihn herum, lassen jenen Biss vermissen, der Idles eigentlich innewohnt. Aber vielleicht ist etwas mehr Liebe in diesen Tagen nicht die schlechteste Botschaft.
Jonas Silbermann-Schön
12VÖ: 4. Oktober | Label: XL
Sind The Smile nun die Reinkarnation von Radiohead? Nein. Trotzdem hat diese Behauptung ihre Berechtigung, denn die Stimmung, die Thom Yorke, Jonny Greenwood und Tom Skinner auf ihrem dritten Album beschwören, entsteht nicht einfach so. Sie ist eine Art Heiliger Gral, eine privilegierte Verschmelzung von Bandnamen und Stimmungsbild, den viele mit bestimmten Songs von Yorkes und Greenwoods anderer Band verbinden. Dank Schlagzeuger Skinner, der sein ganzes Know-how aus der brummenden Jazz-Szene Londons und von Bands wie Sons Of Kemet mitbringt, rücken bei The Smile Jazzkomponenten ins Scheinwerferlicht. Diese Mischung ist für “Cutouts” sehr viel entscheidender als die Tatsache, dass Yorkes Stimme nun mal klingt, wie sie klingt: Songs wie “Zero Sum” scheinen besessen vom Geist Bob Mintzers, Chaos und dessen Auflösung gehen Hand in Hand, zunächst ist unklar, wer wann die Führung übernimmt. “Tiptoe” besticht mit einem minimalistischen, zugleich schwerwiegenden und erhebenden Barjazz-Vibe, wie man ihn in alten New Yorker Kellerclubs findet, gepaart mit dichten Streicherelementen. Mit all dem entfalten The Smile ihren ganz eigenen Zauber.
Juliane Kehr
11VÖ: 13. September | Label: Glitterhouse
Zwischen Post-Punk und Indierock hatten Die Nerven ihren Sound bereits mit dem bislang letzten, nach der Band benannten Album (2022) perfektioniert, für den Mainstream klingen sie nach wie vor zu speziell, vielleicht auch zu verkopft. Für ihr sechstes Album drückt die Band – vielleicht auch deshalb – auf Reset und fängt wieder bei null an, bekommt so den Kopf frei und zimmert dann trotzdem innerhalb eines Monats die zehn neuen “Wir waren hier”-Songs zusammen. Die live aufgenommenen Songs scheppern hin und wieder wunderbar und haben die nötige Wucht, um etwa zeitgeistig bittere Texte wie in “Das Glas zerbricht und ich gleich mit” mit der nötigen Dringlichkeit zu transportieren: “Das Meer färbt sich rot/ Hauptsache uns geht es gut […] Wir nehmen die letzten Stunden fette Jahre gerne mit”. Ihre Impulsivität verlieren Die Nerven auch in ruhigeren Songs nicht, viel mehr beweisen sie, dass zwischen Tocotronic und Muff Potter in der aktuellen Version reichlich Platz ist für eine Band, die den Mut für wavige Keyboards, schneidende Gitarren, proggiges Schlagzeug und pointierte Texte hat.
Matthias Möde
10VÖ: 5. April | Label: Nonesuch
Man kann sich ausrechnen, dass zwischenmenschliche Konflikte in einem Duo stärker ins Gewicht fallen als in einer vier- oder fünfköpfigen Band. Dan Auerbach und Patrick Carney hatten zuletzt einige davon. So heftige, dass zeitweise die Zukunft der Black Keys auf dem Spiel stand. Die Kurve haben sie schon vor “Dropout Boogie” gekriegt, dem 2022er-Vorgänger ihres zwölften Albums “Ohio Players”. Der Schlüssel war Spontaneität. Eine Qualität, die sie laut eigener Aussage über die Jahre verloren, während sie sich von einer Garage-Rock-Band, die jeden Hinterhofclub der westlichen Hemisphäre zu kennen schien, in einen Stadion-Act verwandelten. Nicht kommerziell, aber kreativ erfolgte damals der Reboot: Songwriting ohne Scheuklappen, Tempo im Studio, ein paar prominente Gastmusiker. Für “Ohio Players” haben sie sich wieder mehr Zeit gelassen, man hört es dem Album an. Vielfältiger und verwinkelter klang die Musik der beiden nie. Die Black Keys feiern ihre wiederbelebte Freundschaft mit einem Album, das die Essenz ihres gemeinsamen musikalischen Weges abbildet, von Garage- bis Blues Rock, von Soul bis Songs auf Basis von Field Recordings. Teilweise sind sie mit Unterstützung eingespielt, etwa von Beck, Noel Gallagher oder den Memphis-Rappern Lil Noid und Juicy J, mit deren Engagement Auerbach und Carney an ihren HipHop-Abstecher auf “Blakroc” (2009) erinnern. Wenige Songs von “Ohio Players” springen einen direkt an. Zumal die Black Keys in dieser Hinsicht mit “El Camino” (2011) längst das ultimative Hitalbum hatten. Dort hing das “Gold On The Ceiling”, buchstäblich, auf Ohio Players muss man danach schürfen. Belohnt wird es allemal, auch in den Texten Auerbachs, in denen er die Flucht nach vorne antritt: “Oft kamen die Worte einfach so aus mir heraus”, erzählt er im VISIONS-Interview und schwärmt vom “Gefühl, rauszugehen und das Leben zu genießen.” Die langen Jahre des Rückzugs ins Eigenbrötlerische sind für die Black Keys vorerst vorbei. Aus “Ohio Players” spricht der pure Optimismus.
Dennis Plauk
9VÖ: 18. Oktober | Label: Dais
Erlebt man High Vis aus London live, was man unbedingt tun sollte, lernt man Sänger und Shouter Graham Sayle als einen fassungslosen Menschen kennen. Als jemanden, der auf der Bühne sagt, er habe jetzt keinen richtigen Job mehr. Denn das hier sei jetzt seine Arbeit: einer Band vorzustehen. Als erzeuge diese Tatsache bei ihm Schuldgefühle, haut seine Band auch auf ihrem dritten Album neue Songs für die Arbeiterklasse raus. Hymnen der Hoffnung, entstanden in den Vorstadtruinen eines beinahe gescheiterten Sozialstaats. In Vierteln, die von der Politik nur noch dann besucht werden, wenn jemand mitkommt, der sie führt: “Guided Tour”. Das Besondere an High Vis ist, dass sie ihre Hardcore-Wurzeln in keinem Moment verleugnen, sich aber immer weiter öffnen, neue Stile aufnehmen, mit der Haltung einer neugierigen Band. “Guided Tour” bietet Britpop mit Groove, wie er Anfang der 90er in Manchester gespielt wurde und im Titelstück zu hören ist. Bietet Shoegaze- und Wave-Gitarren, die an Bands wie The Chameleons, The Sound manchmal sogar an die Psychedelic-Goths The Mission erinnern. Und bietet mit der Single “Mind’s A Lie” erstmals auch Electropop, mit schönen Grüßen an die Working-Class-Kollegen von den Sleaford Mods. Bei den High-Vis-Fans mit Hardcore-Vergangenheit besonders beliebt sind die Shout-out-Songs der Band. Von denen gibt es auf “Guided Tour” eigentlich nur einen: “Drop Me Out”, gleich an zweiter Stelle. Der ist auch super, doch ist es eine gute Idee, im weiteren Verlauf des Albums die Stimmung zu wechseln, das Tempo zu drosseln. Was jedoch nicht auf Kosten der Energie geht: Solange Sayle etwas zu sagen hat, geht’s hoch her. Um diesen Mann zum Schweigen zu bringen, bräuchte es eine ganze Armee. Sayle kommt aus dem Nordwesten Englands, die Eltern malochten, er bekam trotzdem nichts und sollte immer schön die Schnauze halten. Das hat er nun lange genug gemacht: “Guided Tour” ist ein kraftvolles Manifest dafür, Wut zu artikulieren, aber die Hoffnung zu behalten.
André Boße
8Sprints Letter To Self
VÖ: 5. Januar | Label: City Slang
Zwei EPs gab es von Sprints als Vorbereitung, mit ihrem Debütalbum lässt die junge Band aus Dublin knapp drei Jahre später ihr Post-Punk-Feuerwerk endlich explodieren. Mit einer Menge Wut im Bauch schlagen sich Sprints auf elf Songs durch die Tücken, die das Leben so mit sich bringt. Dabei gestalten sie ihre Musik so treibend, dass zwischen den Zeilen kaum Zeit zum Durchatmen bleibt. Auch thematisch geht “Letter To Self” tief: Schon im Opener “Ticking” wird die Frage gestellt, ob und vor allem wie sich das Leben überhaupt lebenswert gestalten lässt. Später lässt sich Frontfrau Karla Chubb dann über Misogynie in “Adore Adore Adore” aus, weiter widmet sie sich dem Thema im zynischen “Up And Comer”. Spätestens zur Mitte des Albums wird es richtig düster, wenn Chubb in “Can’t Get Enough Of It” feststellt: “This is a living nightmare and I am living so scared and I can’t sleep and I can’t leave.” Ihre tiefe Verzweiflung zieht sich durch das gesamte Album. Mal sprechen Sprints über Suizidgedanken wie in “Shadow Of A Doubt”, mal werden die mentalen Probleme etwas allgemeiner gefasst wie in “A Wreck (A Mess)”. Trotz aller Wut und Frustration über das Leben und die Gesellschaft, ist “Letter To Self” aber keine düstere Abhandlung, eher schwingt zwischen der Post-Punk-Lethargie und dem Garage-Rock-Wahnsinn etwas so Erfrischendes mit, dass man sich nur schwer losreißen kann. Ausschlaggebend dafür ist vor allem die breite gesangliche Palette von Chubb, die sich von monotonem Sprechgesang bis zum wilden Geschrei spannt und den Songs noch mehr Leben einhaucht. Immerhin finden Sprints im titelgebenden und letzten Song des Albums noch ein wenig Optimismus in all der Misere, wenn es heißt: “Now I’ll find a way/ Any habit can be broken/ Any night can become day”. Wieder einmal beweist sich, dass Dublin ein gutes Pflaster für Post-Punk ist. Nach The Murder Capital und Fontaines D.C. kommt auch die nächste gute Band, die man im Auge behalten sollte, aus der irischen Hauptstadt.
Nicola Drilling
7VÖ: 31. Mai | Label: Suburban
“Still Nervous”: Dass Bad Nerves das seit ihrer Debütsingle “Wasted Days” von 2016 seit mittlerweile acht Jahren sind, hat noch nicht jeder mitbekommen. Aber die Band aus London arbeitet kontinuierlich daran, es nachhaltig zu ändern. Von Anfang an ist bei ihnen alles da, was nun auch “Still Nervous” auszeichnet: ein Hang zu kurzen Songs, die meist nicht die Drei-Minuten-Grenze überschreiten, eine Vorliebe für hohes Tempo und eine Wagenladung an Hooks. Schon 2023 haben Bad Nerves ihr zweites Album angeteast. Ausgerechnet mit den zwei wildesten Songs von “Still Nervous”: dem sich überschlagenden, krakeelenden “USA” und dem Turbo-Stakkato-Punk von “Antidote”. Es zeugt vom stürmischen Selbstbewusstsein dieser fünf Typen, die auf dem Cover und der Bühne auftreten wie eine coole Gang, die beiden Songs im Verbund mit dem ähnlich schnellen, aber melodischeren “Don’t Stop” direkt am Anfang abzufeuern. Ab dem fünften Song, dem power-poppigen “Plastic Rebel”, nehmen sie das Tempo ein wenig raus und machen Platz für Hooks, trauen sich sogar, sich vier Minuten Zeit für Television zu nehmen. Es liegt am zeitlosen Mix von Bad Nerves, die gar keinen Hehl daraus machen, wie sehr sie die Ramones, Undertones, Nerves, “Singles Going Steady”-Buzzcocks und The Strokes verehren, dass das nicht in die Hose – sprich: skinny Jeans – geht. Dass das Konzept dieser Heldenverehrung aufgeht, dafür gibt es immer mehr Beweise. Nachdem die Coronapause halbwegs ausgesessen war, sind Bad Nerves seit August 2021 unentwegt auf Tour. Erst mal mit Shows an jedem dicken Baum in Großbritannien, 2023 als US-Support für Royal Blood und im April 2024 als Support vor ausverkauften Häusern für Nothing But Thieves. Keine offensichtliche Kombination, die jedoch funktioniert, weil Bad Nerves das Publikum mit Charme, Coolness und einer Nonstop-Salve an Hits um den Finger wickeln können. 2025 dann auf dem Hurricane und Southside, als Support für Weezer und Green Day. Wie sollen sie da nicht still nervous sein?
Jan Schwarzkamp
6VÖ: 17. Mai | Label: Domino
Am Ende zwitschern ein paar Vögel. Der Wechsel von Tag und Nacht, von Leben und Tod kann von Neuem beginnen. Aber vielleicht betrachtet man ihn nach den zehn Songs auf “Lives Outgrown” in neuem Licht. Beth Gibbons hat wie keine Künstlerin neben ihr das Prinzip der Verknappung verinnerlicht. Wenn die Portishead-Sängerin aus der Deckung kommt, dann hat sie etwas zu sagen. “Tell Me Who You Are Today” fragt sie im ersten Song – und die Antwort ist vermutlich bei jedem neuerlichen Hören dieser Platte eine andere. Denn “Lives Outgrown” lebt, verändert sich, nimmt immer wieder neue Formen an und bietet mit der einzigartigen Stimme von Gibbons etwas, woran man sich trotzdem festhalten und anlehnen kann. Im Vergleich zum im gleichen Monat neuaufgelegten Portishead-Livealbum aus New York kommt man zum Schluss, dass der kammermusikalische Folk- und Singer/Songwriter-Sound auf “Lives Outgrown” zu Gibbons besser passt als die Beat-Schleifen von Adrian Utley und Geoff Barrow. Zudem schreibt Gibbons das Erbe von Talk Talk und dem viel zu früh verstorbenen Mark Hollis fort; erneut arbeitet sie mit einem ehemaligen Mitglied der Post-Rock-Vorfahren zusammen. Diesmal ist es Schlagzeuger Lee Harris. Der sorgt für das sanfte Pluckern, das etwa einen Song wie “Burden Of Life” vorantreibt, zu dem Gibbons die opulenten Streicher und Bläser gleich selbst arrangiert hat. “The burden of life/ Just won’t leave us alone”, singt sie da, und man kann die Last auf den Schultern förmlich spüren, die einem an miesen Tag das Aufstehen schwer macht. Oder die Kraft raubt, nach einem Verlust weiterzumachen. Zu Beginn von “Lost Changes” zitiert Gibbons in ihrer Gesangsmelodie auf eigene Weise “Drive” von R.E.M., bevor der Song in einen Refrain ausbricht, der zu den schönsten des Albums gehört. Er bereitet einen schon mal auf die Vögel am Ende vor. Aber wenn man die Platte ein weiteres Mal umdreht, kann schon wieder ein anderer Moment dieses wundersamen Albums der beste sein. Das macht große Werke aus.
Florian Schneider
5The Cure Songs Of A Lost World
VÖ: 1. November | Label: Polydor
Da ist es, das 14. Studioalbum, von dem Robert Smith schon so lange spricht und das trotzdem erst 16 Jahre nach dem wankelmütigen “4:13 Dream” das Licht der Welt erblickt. Schwankend sind auch die Erwartungen daran: Erwartet man besser gar nichts, denn was soll noch kommen, nach unzähligen Meisterwerken und einem egalen 13. Album? Oder erwartet man lieber alles und noch mehr, weil man weiß, wozu Smith oft genug schon fähig war in seiner Rolle als Songwriter und Sänger. Mit dem Opener “Alone” spannen The Cure uns zunächst ganze 3:21 Minuten auf die Folter. So weit, so sphärisch, aber wo bleibt sie denn nun, diese makellos junggebliebene Stimme, die keineswegs so klingt, als hätte sie schon tausende Konzerte mit je circa drei Stunden Spielzeit erlebt. “This is the end”, singt Smith schließlich und setzt damit den letzten Hinweis in Szene, worum es auf diesem Album gehen soll: Das Ende aller Dinge, die Schwere des Verlusts, der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit. Themen also, die man lieber vor sich herschiebt, als sie detailliert zu erörtern und in denen man zuallerletzt innere Ruhe und Schönheit suchen würde. Mit dieser Platte jedoch kann man sich auf all das einlassen: Die einstigen Wave-Ikonen vereinen in Songs wie dem cineastischen “And Nothing Is Forever”, dem poppigen “A Fragile Thing” oder dem in psychedelische Gitarren abdriftenden “Warsong” all ihre Stärken. Jeder Song entfaltet sich in seinem eigenen Tempo, was im abschließenden “Endsong” dann auch mal fast elf Minuten dauern kann. Hektik kennt dieses Album nicht, als würde es einem in seiner Funktion als tiefschwarzer Gefühlsmentor permanent zuflüstern “Nur ruhig, junger Hörer, vertrau dem Prozess.” Exakt so verhält es sich auch mit der eigenen Trauer, von der Smith in “I Can Never Say Goodbye” berichtet: Beschleunigen oder überspringen kann man da nichts. Was auch immer man von “Songs Of A Lost World” erwartet hat: The Cure haben einmal mehr ein emotional vielschichtiges, zeitloses Meisterwerk geschaffen.
Juliane Kehr
4Metz Up On Gravity Hill
VÖ: 12. April | Label: Sub Pop
Als einen “Neuanfang” preist Alex Edkins Metz’ erstes Album nach dem Lockdown und den nun wieder größer angelegten Touren an. “Abenteuerlustiger und selbstbewusster” denn je fühle sich die Band, so der Sänger und Gitarrist, und nach Edkins’ Alleingang als Weird Nightmare scheint der Mut zu Melodien nun auch seine Hauptband vollends zu durchdringen. Tatsächlich hätte “Up On Gravity Hill” das Zeug, ein neues Kapitel der kanadischen Noisepunks zu begründen: Frust, Erschöpfung und Zerrissenheit hatten Metz zuvor meist einfach mit der Planierraupe dem Boden gleich gemacht, zuletzt mit erstaunlichen Hit-Ambitionen und “Bleach”-Flair auf “Atlas Vending”, davor noch mit deutlichem Hang zum Hardcore der SST-Schule. Nun findet Edkins organisch Platz für Hooks, Melodien und Popmomente, mit seinem fast zärtlich ächzenden Gesang, bevor er das Ganze mit Stacheldraht einwickelt und von der brachialen Rhythmusmaschine seiner Kollegen plattwalzen lässt. Etwa “Entwined (Street Light Buzz)”, was erst so klingt, als würde Edkins die Saiten seiner Gitarre mit einem Rasiermesser neuverdrahten, und dann plötzlich doch erstaunlich viel Eingängigkeit und Ruhe im Chaos findet. Der Song ist aber vor allem eine böse Vorahnung von Edkins zwiespältigem Verhältnis zu seiner Rolle als dauertourender Familienvater. Noch mutiger fällt der zweigeteilte Opener “No Reservation/Love Comes Crashing” aus. Zwischen Noise-Kaskaden platzieren Metz tatsächlich Glockenspiel und Violinen von Owen Pallet, der sonst Streicherarrangements für Arcade Fire, The National, Robbie Williams oder Taylor Swift schreibt. Dass “Up On Gravity Hill” bei all den großen Ambitionen und der gelungenen Weiterentwicklung des Trademark-Sounds nun zum vorläufigen Schlusskapitel und Edkins’ Duett mit Amber Webber von Black Mountain in “Light Your Way Home” zum Schwanengesang von Metz wird, ist doppelt bitter. Einziger Trost: Sollten Metz ihre “Pause auf unbestimmte Zeit” nie beenden, es wäre ein Abschied mit einem ihrer besten Alben.
Jonas Silbermann-Schön
3VÖ: 19. Juli | Label: Third Man
Um so einen Stunt durchzuziehen, braucht es die Möglichkeiten, das Equipment und die Infrastruktur. Und den Wunsch, überraschen zu wollen. Überrascht hat Jack White in seiner Karriere schon öfter. Etwa, als er “Consolers Of The Lonely”, das zweite Album der Raconteurs, ohne Ankündigung 2008 veröffentlichte. Oder als er nur ein Jahr später die Supergroup The Dead Weather gründete. Oder mit Alicia Keys einen James-Bond-Song schrieb. Oder Neil Young in einem telefonzellengroßen Studio in Whites Plattenladen das Coveralbum “A Letter Home” aufnehmen ließ. Jack White ist und – das beweist “No Name” – bleibt ein musikalischer Stuntman. Doch ein Stuntman ist nur so gut, wie das Team um ihn herum, das dafür sorgt, dass er sich nicht das Genick bricht. Das Team sind seine Kollegen bei Third Man Records, dem Presswerk, dem Studio und den Läden in Nashville, Detroit und London. Die Angestellten verschenken am 19. Juli eine White-Label-Copy, auf die in blauen Lettern “NO NAME” gestempelt ist, an jeden, der an besagtem Freitag bei Third Man einkauft. Wer oder was hinter “NO NAME” steckt, bleibt nur kurz ein Mysterium: Jack White. Genaugenommen ist es sein sechstes Soloalbum. Das 2022er-Doppel “Fear Of The Dawn” und “Entering Heaven Alive” war gut, aber letzteres eben akustisch und introspektiv. “No Name” wiederum stellt die Rückkehr zu alten Stärken dar: Er feuert aus allen Rohren. White hat solo nie so sehr nach den White Stripes geklungen wie hier. Wobei solo eigentlich nicht recht passt, denn White hat eine Band aus – unter anderem – Schlagzeuger Patrick Keeler (The Raconteurs), Ehefrau Olivia Jean und sogar seiner 18-jährigen Tochter Scarlett am Bass um sich versammelt. Sie assistieren White dabei, Songs zwischen Garage Rock und Blues, zwischen Led Zeppelin und Stooges zu vertonen, die derart live klingen, als würde man im Studio mit ihnen in einem Raum sein. Roh, rau, rootsig. Mag sein, dass das musikalisch altmodisch ist – der Twist ist, wie White diese Geschichte verpackt.
Jan Schwarzkamp
2VÖ: 25. Oktober | Label: Rough Trade
Mit nur zwei Alben sind Amyl And The Sniffers von einer Band für versiffte Pub-Bühnen zum hallenfüllenden Act gewachsen. Ihr rasanter Aufstieg mit herrlich pöbelendem Garagepunk ist immer noch überraschend. “Cartoon Darkness” befördert Amyl And The Sniffers die Karriereleiter nochmal deutlich weiter rauf. Die vielleicht größte Leistung dabei: eine bahnbrechende musikalische Entwicklung oder ein Makeover à la Fontaines D.C. brauchen sie nicht. Die mittlerweile auf Los Angeles und Australien aufgeteilte Band ändert kaum was an Auftreten und Attitüde, sondern lässt ordentlich die Muskeln spielen, während sie der nahenden Apokalypse ins Gesicht rotzt und literweise Schampus kippt. Für den fetten Sound sorgt Produzent Nick Launay, der sich mit Idles und Gang Of Four genauso gut auskennt wie mit australischen Legenden wie INXS oder Midnight Oil. Zu denen dürften sich Amy Taylor und ihre Gang bald auch zählen, vor allem die unaufhaltsame Energie, die die Sängerin an den Tag legt, macht es möglich. Allen voran in “Jerkin'” als ausgestrecktem Mittelfinger gegen alles und jeden, der Taylor in die Quere kommt. Das Groove-Monster “U Should Not Be Doing That” ist der Beweis, dass sie sich von nichts und niemandem etwas sagen lässt und gefälligst so knappe Klamotten trägt, wie sie will (“Tiny Bikini”). Ihre Selbstermächtigung geht auch mit Humor zusammen: Das halbgerappte “Me And The Girls” beginnt und endet als Saufgelage an der Flughafenbar. Allen CDU-Kanzlerkandidaten bleibt beim Hören das Lachen im Halse stecken, da es Taylor & Co. eigentlich um straffreie Abtreibungen geht. Nur eine Frage in “Do It Do It” bleibt offen: “When you get to the mountaintop/ Will you put all the snow up your nose?” Angesichts einer komplett ausverkauften Europatour, inklusive 10.000er Shows, und den nächsten großen Konzerten bereits im Kalender, bleibt abzuwarten, wie sie der Höhenluft trotzen und ob sie auch weiterhin ihre Working-Class-Workouts der Extraklasse unverstellt auf die Bühne bringen.
Jonas Silbermann-Schön
1VÖ: 23. August | Label: XL
Nach drei Alben auf sehr hohem Level standen die Wetten nicht schlecht, dass Fontaines D.C. mit ihrer vierten Platte enttäuschen würden. Ist ja auch nur eine normale Band, oder? Oder nicht. “Romance” setzt die Reihe fort. Meisterwerk Nummer vier. Woran liegt’s? Nicht am Cover. Wobei, vielleicht braucht diese Platte genau dieses Cover. Diesen heulenden Ballon in Herzform, kombiniert mit dem Albumtitel in gotischer Schrift. Das Bild wirkt wie eine Karikatur von Romantik. Wie eine Albtraumversion dieses Sehnsuchtszustands. Die elf Songs korrespondieren mit diesem Design. Fontaines D.C. entwickeln eine Welt, in der Romantik etwas ist, das man sehen und spüren kann, aber nie erreichen wird. Ein unzugänglicher Sehnsuchtsort. Nicht greifbar, fassbar. Wie der Mensch auf diese Erkenntnis reagiert? Er gerät in Panik, “Starburster” erzählt davon. Er versucht es mit körperlicher Leidenschaft oder Nostalgie – davon handeln die Songs “Desire” und “Favourite”. Als Sänger und Texter, der das Schreiben sehr ernst nimmt, prägt Grian Chatten die Band. Aber Fontaines D.C. sind kein Podest für ihren Sänger. Die Band funktioniert so gut, weil zwischen den Fünfen eine ständige Kommunikation stattfindet. Eine Kommunikation, bei der die Funken fliegen. “Romance” schwebt schon deshalb meilenweit über den vielen anderen Post-Punk-Alben, weil die Musik von Fontaines D.C. keine Routine kennt. Erzählten die ersten beiden Alben von Dublin und dem Weg da raus und das dritte vom Leben in der irischen Diaspora, handelt “Romance” von der Welt, von universellen Gefühlen. Die Band genießt es in vollen Zügen, mit großer Geste davon erzählen zu können. Vom Leben in der Moderne und von Träumen, ob vom “Motorcycle Boy” oder, wie bei “Sundowner”, von der Rückkehr eines geliebten Menschen. Der Soundtrack zu diesen Worten: Alternative Rock und Post-Punk, Britpop und Shoegaze, Folkrock und Electro, Industrial und Ballade. So viel also, dass man behaupten darf: Fontaines D.C. sind spätestens mit dieser Platte ein Genre für sich.
André Boße
Inhalt
- Jahresrückblick 2024: Die Momente des Jahres – Schlauchboot, Hiebe, Wiederwahl
- Jahresrückblick 2024: Britpop – Alte Penner, neue Stimmen
- Jahresrückblick 2024: Comebacks – Fünf sind wieder da
- Jahresrückblick 2024: Deal, Gibbons, Gordon – In der Haltung vereint
- Jahresrückblick 2024: Bandsplits – Fünf sind nicht mehr
- Jahresrückblick 2023: Steve Albini – Der Gamechanger
- Jahresrückblick 2024: Neulinge – Fünf für '25
- Jahresrückblick 2024: Die 50 Alben des Jahres – Harte Musik für harte Zeiten
- Jahresrückblick 2024: Fontaines D.C. im Interview – Gespenstisch, beinahe erschreckend
- Jahresrückblick 2024: Blinddate – »Jack White zeigt uns allen, wo wir stehen«
- Jahresrückblick 2024: By Its Cover – Fontaines D.C. - »Romance«