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    Idles
    Tangk

    VÖ: 16.02.2024 | Label: Partisan
    Text: | Erschienen in: VISIONS Nr. 372
    Platte des Monats
    Idles - Tangk

    Wenn Freude ein Akt der Rebellion ist, dann ist Liebe eine Revolution. So gesehen ist das fünfte Album von Idles ein konsequenter Schritt – insbesondere, weil es Ideen und Stile herzlichst umarmt, die bisher eher unterschwellig im Kosmos der Band aus Bristol stattfanden.

    „Liebe ist ein Willensakt – nämlich sowohl eine Absicht als auch eine Handlung“, so bell hooks. Damit liefert die 2021 verstorbene Literaturwissenschaftlerin und Feministin einen ersten Schlüssel zu „Tangk“. Wenn Sänger Joe Talbot die Liebe zum zentralen Thema erklärt, auch weil er inzwischen Vater einer Tochter ist, steckt dahinter immer noch ein wacher – und wütender – Blick auf die Gesellschaft. Das Gegenteil von Liebe ist bekanntlich Hass, der wiederum zu vielen aktuellen Entwicklungen zugrunde liegt, sei es nun dem Brexit in der Heimat der Idles oder menschenfeindlichen Deportationsgelüsten hierzulande. „No god/ No king/ I said love is the thing“, lautet daher die Devise, die „Grace“ ausgibt. Früher hätten Idles hieraus einen Fäusterecker gemacht, heute singt Talbot über zuckenden Soundflächen.

    Auch wenn die Explosion ausbleibt, wohnt dem Stück jede Menge kinetischer Energie inne, eine Qualität, die sich durch das gesamte Album zieht. Damit folgt die Band ebenfalls den Gedanken bell hooks, die konstatiert, dass Liebe immer in Bewegung ist. „Gift Horse“ stellt dafür ein besonders gutes Beispiel dar, wenn Talbot den metallisch-stolpernden Strophen einen Refrain folgen lässt, bei dem Stillhalten vollkommen unmöglich ist: „Watch my steed go far/ Look at him go!“ Selbstredend wird das „go“ so langgezogen, wie es nur geht, und am Ende ist klar: „All is love and love is all.“. Auch „Dancer“ wird seinem Titel mehr als gerecht. „Dancers, hip to hip/ Dancing cheek to cheek“, fordert Talbot zu energischem Post-Punk, während sich der Chor der Feiernden im Hintergrund wiegt. Wirklich klassische Idles-Songs sind diese beiden nicht, sofern es so etwas überhaupt gibt. Hall And Oates kommt dem noch am nächsten – und ist zugleich eine liebevolle Absage an heteronormative Standards: „It feels like Hall and Oates is playing in my ear/ Every time my man is near.“

    Mit Nigel Godrich, Haus- und Hof-Produzent von Radiohead, und Kenny Beats, seines Zeichens eben das für Idles, hat die Band ein Gespann gefunden, das ihre kreative Energie in ungeahnte Bahnen lenkt. Dadurch wird vollkommen schlüssig, dass „POP POP POP“ Talbots Liebe für HipHop nach außen kehrt und das wunderbare Wort „Freudenfreude“ enthält, während er in „Roy“ zu rollendem Schlagzeug und akzentuiert eingesetzten Gitarren dem Soul frönt. „Jungle“ hingegen bringt Punk und verquere Gitarrenrhythmen zusammen. Mit „A Gospel“ fügt sich sogar eine an Trent Reznor und Atticus Ross erinnernde Klavierballade stimmig ins Gesamtbild ein. So viel Schmerz hier auch durchklingt, ist „Tangk“ insgesamt eine positive und ja, liebevolle, Platte, die mit den denkbar schönsten Worten endet: „Who needs wings when I hear you sing.“ Wenn dann das einsame Saxofon in der Nacht jauchzt, stellt man fest, wie groß das geworden ist, was Idles mit diesem Album mit der Welt teilen.

    Das steckt drin:

    Algiers„Shook“ (2023, Matador)

    Mit ihrem Post-Punk-Gospel sind Algiers bereits seit ihrem Debüt zugleich unmittelbarer wie auch schwerer zu greifen als artverwandte Bands. Für „Shook“ entgrenzen sie ihren Sound endgültig und schaffen mit Hilfe der unterschiedlichsten Kooperationspartner:innen ein Album, dessen stetiger Fluss gleichermaßen die Geschichte Schwarzer Musik erzählt wie es die Gegenwart abbildet.

    LCD Soundsystem„Sound Of Silver“ (2007, DFA)

    In Sachen tanzbarem Punk macht James Murphy so schnell niemand etwas vor. Für das zweite Album seines LCD Soundsystem sucht das Mastermind vier Jahrzehnte Musikgeschichte ab, um den Füßen keine Ruhe zu lassen. Auch wenn „Tangk“ keine Discoplatte ist, spurlos vorbeigegangen an Idles ist sie nicht, in „Dancer“ singen Murphy und seine Kumpanin Nancy Whang sogar mit.

    Radiohead„Kid A“ (2000, Parlophone)

    Das erste Album, das Radiohead mit Unterstützung von Nigel Godrich produzieren, ist „OK Computer“ und ein Meilenstein der alternativen Rockmusik. Der Erfolg hat seinen Preis: Die Band, insbesondere Thom Yorke, fühlt sich ausgebrannt und hadert mit ihrem Schaffen. Den Ausweg findet sie in radikalen Soundexperimenten, die „Kid A“ zu einer weiteren Großtat machen.

    Zweitstimmen:

    Martin Burger: „Dem Sog eines „Joy As An Act Of Resistance“ kann selbst ich mich nicht entziehen, ansonsten bleibe ich der Idles-Skeptiker der Redaktion. Respekt dafür, dass sie viel ausprobieren, habe ich, auch bei „Tangk“ – trotzdem schlagen ihre Alben immer weniger Funken bei mir.“

    Jonas Silbermann-Schön: „Idles entkernen sich komplett und legen ihr weiches Inneres so schonungslos offen wie nie zuvor. Auch wenn die neuen Songs immer weniger Moshpits entfesseln dürften, gehe ich bei der umwerfenden Co-Produktion von Mark Bowen, Godrich und Beats bis in alle Ewigkeit mit.“

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