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Dream On

Cocteau Twins Head Over Heels

VÖ: 1983 | Label: 4AD
Cocteau Twins - Head Over Heels

“Head Over Heels” erscheint 1983 zu Halloween und klingt tatsächlich so, als wären dem Album ein paar Geister, Gespenster und Untote auf den Fersen. Die Hausband des aparten britischen Labels 4AD entstammt ursprünglich der Gothic-Szene, hat sich aber zu Zeiten ihres Meisterwerks “Heaven Or Las Vegas” vom geronnenen Blut der frühen Tage reingewaschen. Was jenes Album nicht hat, “Head Over Heels” aber dafür noch im Quadrat: mehr Hall als eine mittlere Kathedrale und Elizabeth Frasers kristalline, auf Effekt gebürstete Stimme, die durch wehende Vorhänge auf einen zuschwebt. Dass Fraser die geniale Idee hat, statt richtigen Sätzen eher Töne und Fantasiewörter zu singen, trägt zum ungreifbaren, ätherischen Sound des Albums bei, der bald nicht nur Gruftis begeistert. Mit seinem raumgreifenden Drum’n’Synth-Sound ist “Head Over Heels” einerseits ein typisches Beispiel für die Schulterpolster-Produktionsästhetik der 80er, dank seiner romantischen Klangpoesie aber auch ziemlich zeitlos.
Markus Hockenbrink


The Jesus And Mary Chain Psychocandy

VÖ: 1985 | Label: Blanco Y Negro
The Jesus And Mary Chain - Psychocandy

Alan McGee glaubt nicht, was er da hört, aber es ist eine Band ganz nach seinem Geschmack. Ein junger Schotte namens Bobby Gillespie hat ihm das Tape eines talentierten Brüderpaars gegeben, das eine neue Art von musikalischem Krawall macht. Jim und William Reed nennen sich The Jesus And Mary Chain, haben vielleicht gerade erst eine Handvoll Songs geschrieben, aber geben selbstbewusste 20-Minuten-Konzerte, als wäre danach eigentlich alles gesagt. In gewisser Weise stimmt das sogar, denn so wie die Gebrüder Reid hat noch nie jemand Lärm umdefiniert. The Jesus And Mary Chain nutzen Übersteuerung und Rückkopplungen nicht als Soundeffekte, sondern als Sounds und beschwören damit eine Erfahrung herauf, die Musikkritikern neue Formulierungen abverlangt. Wie ein “Backstein in Zuckerwatte” soll “Psychocandy” also klingen, wie das akustische Äquivalent einer stürmischen neuen Liebesbeziehung und so weiter. Verantwortlich für das entsprechende Resultat sind einerseits die flirrenden Gitarrenkaskaden (die Zuckerwatte) und andererseits die von Edelfan Gillespie eher rabiat eingespielten Drums (der Backstein). Dass dabei neben dem ästhetischen Fundament von Shoegaze auch noch drei überraschend eingängige Pop-Singles abfallen, unterstreicht die Ausnahmestellung des einflussreichen Albums. Das wird später von diversen Britpop-Großmäulern als wesentlicher Einfluss auf die eigene Großartigkeit reklamiert, wobei sich wiederum Alan McGee hervortut. Der ist da aber längst Manager der Band geworden.
Markus Hockenbrink


Galaxie 500 On Fire

VÖ: 1989 | Label: Rough Trade
Galaxie 500 - On Fire

Während britische Bands Ende der 80er wuchtige Gitarrenwälle auftürmen, schlagen Galaxie 500 an der Ostküste der USA sachtere, fragilere und vor allem verträumtere Töne an. In der Heimat gelten sie deswegen als kauzig aus der Art geschlagen, im UK setzen nach einer Tour und dem Signing bei Rough Trade aber erste Erfolge ein. Zwar sind die handwerklichen Fehler des Trios auch auf dieser zweiten und besten LP offensichtlich, besonders der Jaulgesang von Dean Wareham ist gewöhnungsbedürftig. Doch der sinnliche Reiz dieser Musik, die wie eine hallende LoFi-Version von Velvet Underground wirkt, überstrahlt das bei weitem. Galaxie 500 nehmen sich für stoische Klagelieder und gelegentlichen Gitarrenkrach alle Zeit der Welt und entfachen den vielbeschworenen Sog, gegen den die Dramatik der meisten aktuellen Dreampop-Acts wie eine flache Seifenoper wirkt. Nach der Auflösung der Band 1991 führen Low deren Stil weiter. Galaxie 500s Einfluss reicht aber bis in den heutigen Indierock und weit darüber hinaus.
Christian Steinbrink


Spacemen 3 Playing With Fire

VÖ: 1989 | Label: Rough Trade
Spacemen 3 - Playing With Fire

Pete “Sonic Boom” Kember und Jason “J Spaceman” Pierce könnten Brüder sein, gehen sich zur Zeit von “Playing With Fire” jedoch gegenseitig so auf den Sack wie die Gallaghers Jahre später. Ihre Parts nehmen die Musiker getrennt voneinander auf. Pierce singt und spielt Gitarre, Kember außerdem Synthesizer und seine neue Vox Starstream aus den 60ern mit eingebauten Effekten wie Tremolo, Delay, Fuzz und einem Percussion-Repeater. Rhythmus spielt dabei kaum eine Rolle, die Band hat keinen Schlagzeuger, lässt sich gelegentlich von einer Drum-Machine aushelfen (und vom später zu Spiritualized mitwandernden Will Carruthers am Bass). Kember, von dem sechs der neun Songs stammen, sagt, dass das hier der definierende Punkt seiner Theorien eines maximalen Minimalismus sei. Ein paar Noten reichen, denn wenn die mit zahlreichen Effekten aufgeblasen und manisch (“Revolution”) oder häufig (“How Does It Feel?”) genug wieder- holt werden, erschafft man auch genervt voneinander ein Shoegaze-Gospel-Psychedelic-Wunderwerk.
Jan Schwarzkamp


Loop A Gilded Eternity

VÖ: 1990 | Label: Situation Two
Loop - A Gilded Eternity

Das ausufernde, repetitive Element der Band ist bereits im Namen der Briten angelegt. Außergewöhnlich ist die Mischung des Sounds: Einige Gitarrenspuren klingen verwaschen, andere trocken. Das gilt auch für die größtenteils herausragenden Drums: Die Snare hat Hall, die Toms wirbeln clean, besonders gut zu hören beim rollenden Schlagzeugwunder “Arclite (Sonar)” sowie beim Hit der Platte, dem funkelnden “Afterglow”. Daher klingt “A Gilded Eternity” in seinen vielen brillanten Momenten wie ein Shoegaze-Album aus der Wüste, was zur Folge hat, dass Loop nicht so sehr Teil der britischen Shoegazer-Szene sind, sondern eher mit Alternative-Rock- und Psychedelic-Acts auf Tour gehen und von Menschen gehört werden, die bei Konzerten ihre langen Haare schütteln. Kein Wunder, dass Bandchef Richard Hampson den beachtlichen kommerziellen Erfolg dieses dritten Loop-Albums nicht genießt, sondern die Band auflöst und sich der Industrial-Metal-Band Godflesh anschließt, um neue Härtegrade zu erkunden.
André Boße


Pale Saints The Comforts Of Madness

VÖ: 1990 | Label: 4AD
Pale Saints - The Comforts Of Madness

Das Debüt der Pale Saints gehört zu den heiligen Schätzen des Shoegaze: Die Band aus Leeds verblasst darauf keineswegs, rauschhaften bis rohen Songs sei Dank. Mit einem furiosen Trommelwirbel startet “The Comforts Of Madness”, um dann in einen noisigen Melodiestrudel zu versinken, den Ian Masters mit chorartigem Gesang begleitet. Nach der Veröffentlichung steigt Meriel Bartham bei den Pale Saints ein, die zuvor Sängerin bei Lush war. An deren üppige Soundflächen erinnern auch die melancholischen Songs hier. Midtempo-Tracks wie “Sight Of You oder “You Tear The World In Two” entwickeln eine überraschende Poppigkeit und zwingende Eingängigkeit wie bei Ride oder The Charlatans. Auf dem ikonischen Label 4AD veröffentlicht, stimmen verschwommenes Artwork und verschlungene Melodiebögen perfekt überein. Produziert hat das Album Gil Norton, der davor “Doolittle” der Pixies betreute; so trifft hier ebenfalls der Wahnsinn der Welt aufeinander – in Songs voller Schönheit und Schmerz.
Kerstin Kratochwill


Ride Nowhere

VÖ: 1990 | Label: Creation
Ride - Nowhere

Wie die Wellen auf dem Albumcover umspülen einen auf “Nowhere” auch die von Ride erschaffenen Shoegaze-Sounds. Mit deren Hilfe taucht man ein ins Niemandsland der erhabenen Melodiebögen in diesen großen Songs. Das Debütalbum der Band aus Oxford trifft einen wie eine majestätische Monsterwelle, und das hat nur ein bisschen mit dem Coverbild einer solchen zu tun. Die Fotografie von Warren Bolster, bekannt für seine Skateboard- und Surfbilder, stimmt einen jedoch bereits atmosphärisch ein auf diese Erfrischung des englischen Gitarrenpop der frühen 90er: Man hört Songs, die einen Umtosen und Umarmen in ihrer melodieverliebten Mischung aus Psychedelic Pop, Indierock und Shoegaze. Als würden The Byrds zusammen mit Spacemen 3 spielen, lassen Ride unterschiedlichste Einflüsse von The Stone Roses über My Bloody Valentine bis hin zu The House Of Love unmittelbar in das Songwriting einsickern. Daraus entstehen dann hinreißende Songs wie das Beatles-esque “Seagull “oder das energetische “Polar Bear”, dessen zittriger Gitarrenbeginn wie eine Fortführung des Smiths-Klassikers “How Soon Is Now?” klingt, um dann in ein episches Noise-Meer ein- und abzutauchen. Beendet wird diese tiefgründige Ozeanreise mit dem wunderbar wehmütigen “Vapour Trail”, einem elegischemotionalen Lied samt Cello, Compression- und Chorus-Effekten, das die Essenz von Ride darstellt und einen ob solch sublimer Shoegaze-Schönheit mit Tränen der Melancholie in den Augen zurücklässt: “Tremble with a sigh, glitter in your eye”.
Kerstin Kratochwill


Chapterhouse Whirlpool

VÖ: 1991 | Label: Dedicated
Chapterhouse - Whirlpool

Chapterhouse aus Reading sind Anfang der 90er Jahre etwas später dran als Ride, Slowdive, My Bloody Valentine & Co., weshalb sie mit der Kritik leben müssen, Epigonen des Genres zu sein. Hört man das Debütalbum oberflächlich, ist da was dran: “Whirlpool” wirkt wie eine Mischung aus allem, was das 1991 noch junge Genre auszeichnet. Erst beim genauen Hinhören offenbart sich die Brillanz der Platte: “Whirlpool” ist atemberaubend gut produziert, die träumerischen Elemente, dröhnenden Gitarren und zuckersüßen Melodien finden zu einer Melange zusammen, bilden gemeinsam einen Pop-Sound mit Tiefgang. Obendrauf gibt es das wirbelnde Schlagzeug, das – und hier erweist sich das Timing als Vorteil – bereits nach Manchester schielt und sich dort einige Rave-Rhythmen abschaut, zu hören auf dem an Primal Scream erinnernden Groove-Song “Falling Down” sowie an der gnadenlos guten Single “Pearl”. Deren Gesangsmelodie kommt so leicht daher, dass man Angst hat, das Fenster zu öffnen, weil sie sonst davonfliegen könnte.
André Boße


My Bloody Valentine Loveless

VÖ: 1991 | Label: Creation
My Bloody Valentine - Loveless

Magnum Opus, Mythos, Meisterwerk: Die Superlative können für dieses Shoegaze-Monster von einem Album gar nicht groß genug sein, denn mit “Loveless” haben My Bloody Valentine komplett neue Standards in der Gitarrenmusik geschaffen. Schon die Entstehungsgeschichte des zweiten Werks der irischen Band ist filmreif: Mastermind Kevin Shields vergräbt sich für die Aufnahmen dazu regelrecht und verschleißt nicht nur 19 verschiedene Studios, sondern bringt das Label Creation an den Rand des Ruins. Nervenzusammenbrüche gibt es auch innerhalb der Band: Schlagzeuger Colm Ó Cíosóig ist nur beim mächtigen Opener “Only Shallow” in der Lage zu spielen, bei allen anderen Songs werden die Drum-Parts einfach geloopt. Überhaupt ist “Loveless” fast ein Shields-Solowerk, denn wie ein wahnhafter Wissenschaftler arbeitet er allein an den bis heute verblüffenden Effekten, die Gitarren wie neu- und fremdartige Instrumente klingen lassen. Auch Bassistin Debbie Googe sowie Sängerin und Gitarristin Bilinda Butcher sind fast nur Beiwerk. Letztere steuert mit ihrem verhuschten, verhallten und verträumten Gesang dennoch ein weiteres Instrument und essenzielles Merkmal dieses neuen Sounds bei, der mit bisherigen Hörgewohnheiten radikal bricht. Es sind Songs, die sich brutal ins Gehör schneiden, die unter Schichten von Gitarrenwänden mit überwältigenden Glide- und zittrigen Tremolo-Effekten aber wunderschöne Melodien verstecken. Es mag esoterisch klingen, aber: “Loveless” ist ein Erweckungserlebnis.
Kerstin Kratochwill


Curve Doppelgänger

VÖ: 1992 | Label: Anxious
Curve - Doppelgänger

Die unterschätzteste Band des Shoegaze: Curve sind mit ihrem Debütalbum und der darauf zu hörenden Mischung aus Industrial, Goth-Noise und Dance ihrer Zeit Anfang der 90er meilenweit voraus. Die einzigartige Stellung im Genre verdanken sie einer fast hypnotischen Herangehensweise an Musik, in der schwere Beats, schleppende Melodien und ein sirenenhafter Gesang für ungewöhnliche Tanzbarkeit sorgen. Über all den massiven Reverb- und Distortion-Orgien in den Songs thront die verlockend sinnliche, heisere Stimme von Toni Halliday, die sich im Gegensatz zu ihren Kolleginnen selbstbewusst in den Mittelpunkt der sie umtosenden psychedelischen wie noisigen Sound-Wellen stellt. Für diese ist Dean Garcia an Gitarre, Synths, Bass und Drum-Programming verantwortlich, der den Shoegaze in die Alternative-Rock-Welt bringt und mit kalten Industrial-Electro-Beats mischt. Bis heute gelten Garbage nicht zufällig als Fans der innovativen Curve, deren Reunion von vielen herbeigesehnt wird.
Kerstin Kratochwill


Albenlisten
Listen to your heart

Inhalt

  1. Von Flop bis Top – Alle Alben von The Smiths im Ranking
  2. Von Flop bis Top – Alle Alben von Soundgarden im Ranking
  3. Von Flop bis Top – Alle Alben von Jack White im Ranking
  4. Von Flop bis Top – Alle Alben von Joy Division und New Order im Ranking
  5. Von Flop bis Top – Alle Alben von Placebo im Ranking
  6. Die 30 wichtigsten Konzeptalben – Die Schönheit des Konzepts
  7. Von Flop bis Top – Alle Alben von Tocotronic im Ranking
  8. Metalcore: die Album-Highlights – Der harte Kern
  9. Die 50 Alben des Jahres 2024 – Harte Musik für harte Zeiten
  10. Von Flop bis Top – Alle Alben von Linkin Park im Ranking
  11. Die besten Soloalben: 2012-2024 – Für sich (auf)genommen
  12. Die besten Soloalben 1994-2011 – Einzig und allein
  13. Von Flop bis Top – Alle Alben von Primal Scream im Ranking
  14. Von Flop bis Top – Alle Alben von The Cure im Ranking
  15. Von Flop bis Top – Alle Alben von Blur im Ranking
  16. Die 50 wichtigsten Noiserock-Platten – Mutwillig am Hit vorbei
  17. Von Flop bis Top – Alle Alben von Oasis im Ranking
  18. Von Flop bis Top – Alle Alben von Nick Cave & The Bad Seeds im Ranking
  19. Von Flop bis Top – Alle Alben von Weezer im Ranking
  20. Die 50 wichtigsten Soundtracks – Bilder hören
  21. Zwölf umweltbewusste Alben – Sendungsbewusstsein
  22. Von Flop bis Top – Alle Alben der Beatsteaks im Ranking
  23. Von Flop bis Top – Alle Alben von Frank Turner im Ranking
  24. Von Flop bis Top – Alle Alben der Foo Fighters im Ranking
  25. Global Beat - Die wichtigsten Platten – Der Beat geht weiter
  26. Jahresrückblick 2023: Die 50 Alben des Jahres – Es müsste immer Musik da sein
  27. 1993 in 50 Platten – Re(ar)viewmirror
  28. Die 25 besten Heartland-Rock-Platten – Bewusstsein schaffen
  29. Shoegaze: Die 40 besten Platten – Dream On
  30. Tribute-Alben: 25 Meilensteine – Wem Ehre gebührt
  31. Supergroups: Die 50 besten Alben – Alles super
  32. Supergroups: Superduos – Ein Fall für zwei
  33. Die 33 wichtigsten Koop-Alben – Kommt zusammen
  34. Sludge Metal: Die besten Platten – Schlammschlacht
  35. Die 2010er: Die Plattenliste – Die 100 besten Alben der 2010er
  36. Okkult-Rock - Die Plattenliste – Diabolus in Musica
  37. Proto-Punk: Die wichtigsten Platten – Paten des Punk
  38. Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit
  39. Britpop - Die Plattenliste – Cool Britannia
  40. Post-Punk: Die besten Alben der ersten Welle – Pinke Flagge, schwarzes Gewand
  41. Post-Punk: Die besten Alben des Revivals – Widerhall in der Fabrikhalle
  42. Von Grunge bis Drum'n'Bass – Die 100 wichtigsten Platten der 90er

Dance the pain away!

“Ich habe zwei linke Füße”, sagt Billy Nomates, die eigentlich Tor Maries heißt. In Anbetracht ihrer wilden Performances wirkt das glatt gelogen. Bei ihren Konzerten beansprucht die songschreibende Produzentin nur mit Laptop und Mikro bewaffnet die Bühne komplett für sich, springt zu pumpenden Beats, badet in Synthielandschaften und fühlt jeden einzelnen vorher aufgenommenen Ton. “Ich bin keine Tänzerin, aber so kann ich mich in die Musik hineinversetzen und spüren, wo ich mit ihr stehe”, sagt Maries. Damit will sie aber nicht nur sich und das Publikum in Bann ziehen, sondern nutzt die Show auch zur Selbsterhaltung. “Es gibt Mental-Wellness-Apps, die uns beruhigen sollen. Aber das reicht in diesem kapitalistischen Albtraum nicht! Wir brauchen einen Exorzismus, um unsere Gefühle zu verarbeiten – für mich ist das Auftreten ein Weg, diese kathartische Explosion zu erleben.”

Darum geht es auch auf ihrem zweiten Album “Cacti”: die Balance mit sich selbst wiederherzustellen und all jenen Mut zu machen, die sich auch so fühlen. Auch wenn ihre Musik damit kaum weniger zu tun haben könnte, sieht Maries ihr Publikum emotional in der Metal-Community. Unscheinbare Menschen, die in extremen Sounds aufgehen. “Ich fühle das vollkommen. Es mag vielleicht nicht so wirken, aber ich bin echt introvertiert. Manchmal fällt es mir schwer, einen Kaffee zu bestellen, aber auf der Bühne drehe ich durch.” Ihre rauen Texte haben einen verletzlichen Kern, sagt sie. Das wird nach dem Rundumschlag ihres Debüts gegen Brexit und Schönheitsideale gerade wegen dieser Unverblümtheit auch in neuen Songs wie “Blue Bones (Deathwish)” immer offensichtlicher. “Es wird zu viel um Depression herumgetanzt. Sag es einfach! Versuch nicht, sowas blumig zu verpacken. Sag, dass es weh tut.” Nur so kann das sensible Thema auch verstanden werden. “Ich will nicht, dass man alles entschlüsseln muss, manchmal soll man es einfach nur verstehen”, so Maries.

Letztlich begibt sie sich selbst damit trotz panischer Angst vor jeder Show in eine höchst verletzliche Position. Das hat sie schon immer gemacht. Sie ist stur: Am Ende ihrer Zwanziger hatte nämlich niemand Interesse an ihrer Art von Sound, so entschied sich Maries, alles selbst in die Hand zu nehmen. “Besonders in Großbritannien ist man damit eine ziemliche Außenseiterin. Künstler:innen werden von der konservativen Regierung in keiner Weise als wertvoll angesehen. Man muss kämpferisch sein und sich durchsetzen können.” Ihr Credo damals: “Ich mache es trotzdem, und wenn ich es allein tun muss, dann ist es eben so.”

Hommage an Sinéad O’Connor

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Am 29. Juli sind die Foo Fighters in Japan beim Fuji Rock Festival aufgetreten. Ihre Show nutzte die Band, um die vor wenigen Tagen verstorbene irische Musikikone Sinéad O’Connor zu ehren. So präsentierten sie eine Coverversion von “Mandinka”. O’Connor hatte den Song 1987 im Zuge ihres Debütalbums “The Lion And The Cobra” veröffentlicht. Für ihren Auftritt holte sich die Band Unterstützung von Sängerin Alanis Morissette. Dazu sagte Dave Grohl: “Aus einem ganz besonderen Grund möchten wir Alanis Morissette dazu einladen, einen Song mit uns zu singen.”

Während des Auftritts bezeichnete Morissette die irische Sängerin als eine Frau, die “ihrer Zeit weit voraus war und ein tiefes Einfühlungsvermögen besessen hat”. Daneben richtete sie sich am Ende des Konzerts mit folgenden Worten an das Publikum: “Möge Sinéad in Frieden ruhen.”

Bereits im letzten Jahr hatten Morissette und die Foo Fighters gemeinsam auf der Bühne gestanden. Damals im Zuge der Taylor-Hawkins-Tribute-Konzerte. Hawkins hatte – bevor er Teil der Foo Fighters wurde – in Morissettes Backing-Band gespielt.

In den sozialen Netzwerken hatten zahlreiche Weggefährt:innen ihre Bestürzung über den Tod der irischen Sängerin ausgedrückt – darunter der ehemalige Sonic Youth-Gitarrist Thurston Moore, die Singer/Songwriterin Billy Nomates sowie Massive Attack. Mit Letzteren hatte O’Connor 2003 den Song “Special Cases” aufgenommen.

O’Connor war am 26. Juli im Alter von 56 Jahren verstorben. Die Nachricht ihres Todes gaben Angehörige “mit großer Traurigkeit” bekannt und erklärten, “ihre Familie und Freunde sind am Boden zerstört”. Die Todesursache wurde bisher noch nicht bekannt gegeben.

Vinyl zu gewinnen!

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2021 legten Geese mit “Projector” ihr Debütalbum vor, den Nachfolger “3D Country” veröffentlichten sie erst kürzlich. Darauf widmen sie sich nicht nur der Klimakatastrophe und allerlei anderen Weltuntergangsszenarien, sondern setzen erneut auf Gospelchöre, zynische Lyrics und ihren typischen Gitarrensound.

Dabei scheut das Weirdo-Rock-Quartett aus Brooklyn sich nicht vor musikalischen Vorbildern wie den Strokes, Tom Petty, Ben Folds und Blue Öyster Cult. Ein Konzept, das bereits auf “Projector” zum Tragen kam. Allerdings werfen sie werden einen nostalgisch-verklärten Blick in die Vergangenheit, noch betreiben sie Helden-Kult. Vielmehr scheint das Album wie der Versuch, der Generation-Z eine Stimme zwischen all den Krisen zu geben. Am 22. September spielen Geese eine Show in Berlin.

Wir verlosen zwei Exemplare auf Vinyl. Allen Teilnehmenden wünschen wir viel Glück!

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Drohende Klage

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Laut einem Bericht des US-Magazins Politico könnten Live Nation und die zum Unternehmen gehörende Plattform Ticketmaster möglicherweise noch in diesem Herbst mit einer Kartellklage des Justizministeriums konfrontiert werden. Demnach wird den beiden Unternehmen vorgeworfen, ihren jeweiligen Einfluss in der Unterhaltungs- und Konzertindustrie missbraucht und unter anderem weitere Plattformen vom Ticketverkauf ausgeschlossen zu haben. Ausgehend von früheren Äußerungen des Kartellamtschefs Jonathan Kanter könnten Live Nation und Ticketmaster im Falle eines Erfolgs der Klage gezwungen sein, ihre Geschäftsbereiche wieder zu trennen. 2010 hatte das Medienunternehmen Live Nation die Ticketplattform Ticketmaster übernommen und in das eigene Portfolio integriert. So werden zum Beispiel Tickets für von Live Nation veranstaltete Konzerte vornehmlich und teils exklusiv über Ticketmaster vertrieben.

Kartellamtschef Kanter betont, dass er es vorziehe, “gegen Kartellrechtsverletzer zu prozessieren”, anstatt einen Vergleich zu schließen, und dass er “lieber strukturelle Abhilfemaßnahmen” – wie die Zerschlagung der Unterhaltungsgiganten durchsetzen würde, statt “verhaltensbezogene Abhilfemaßnahmen”, wie die Aufforderung an die Unternehmen, sich zu verpflichten, auf bestimmte Verhaltensweisen zu verzichten.

Auch Live Nation hat sich dem US-Magazin mittlerweile zur Sache geäußert: “Wir stehen in regelmäßigem Kontakt mit dem DOJ [Department of Justice], und sie haben uns nicht gesagt, dass sie glauben, dass wir irgendetwas Illegales tun, oder uns aufgefordert, auf irgendwelche Bedenken einzugehen”, erklärte Live-Nation-Vizepräsdient Dan Wall. “Es wäre höchst ungewöhnlich, wenn das DOJ eine Klage einreichen würde, ohne dass wir darüber informiert worden wären und ohne dass es danach einen intensiven Dialog gegeben hätte. Sollten sie jedoch Klage erheben, sind wir darauf vorbereitet, uns zu verteidigen.”

Ticketmaster war in den letzten Monaten vor allem durch das neu eingeführte Modell der “dynamischen Preisgestaltung” in die Kritik geraten. Dabei wird der Ticketpreis, ähnlich wie bei Flügen oder Hotelzimmern, je nach dem Angebot und der Nachfrage angepasst. Klicken zum Beispiel bei einem Vorverkaufsstart viele User:innen auf die Seite der Ticketanbieter, erhöht sich der Preis – teilweise um ein Vielfaches.

Dieses neue Modell stößt auch in Deutschland auf große Kritik und sorgt für viel Ärger bei den Fans, zuletzt bei den Vorverkäufen von großen Bands und Künstler:innen wie Taylor Swift, Coldplay oder Depeche Mode. In den USA regt sich auch unter den Künstler:innen Widerstand. Vor allem The Cure um Frontmann Robert Smith hatten sich in der Vergangenheit immer wieder kritisch gegenüber dem neuen Preismodell und undurchsichtigen Gebühren geäußert. Später hatten sich auch Pearl Jam gegen die neuen Preismodelle ausgesprochen. The Cure hatten die Anwendung auf ihre Tickets untersagt und Robert Smith ging auf Twitter auf Konfrontationskurs mit dem Unternehmen. Nachdem sich auch Live-Nation-CEO Michael Rapino kontrovers zum Sachverhalt geäußert hatte, schaltete sich zuletzt sogar US-Präsident Joe Biden in die Debatte ein.

Geänderte Setlist in Malaysia

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Im Zuge ihrer “Will Of The People”-Welttournee haben Muse ein Konzert in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur gespielt – etwa eine Woche, nachdem das Konzert von The 1975 beim Good Vibes Festival abgebrochen wurde. Für ihren Auftritt am 29. Juli im Bukit Jalil National Stadium wurde die Stadion-Rock-Institution nun von The-1975-Frontmann Matty Healy kritisiert. Anlass ist die geänderte Setlist der Band. Eigentlich sollten Muse den Song “We Are Fucking Fucked” von “Will Of The People” (2022) spielen. Dieser wurde aufgrund des expliziten Titels allerdings gestrichen und durch “Resistance” von “The Resistance” (2009) ersetzt.

Gegenüber dem malaysischen Nachrichtendienst Rojak Daily sagte Konzertveranstalter Adam Ashraf: “Sie riefen uns an, kurz nachdem der Vorfall [mit The 1975] bekannt wurde. Nach Gesprächen beschlossen sie, einen Song wegen des Titels aus der Setlist zu nehmen. Es ist schön zu wissen, dass sie darauf bedacht sind, zu unterhalten und gleichzeitig die Richtlinien zu respektieren”.

Healy reagierte via Instagram mit zwei Story-Posts auf die Setlist-Änderung. Die erste Instagram-Story war ein Screenshot einer Pre-Order-Nachricht für ein Muse-Album mit der Aussage “Join the Resistance”. Den Screenshot betitelte der Healy mit  “krank.” Der zweite Screenshot bezog sich auf einen NME-Artikel, in dem es um die Änderung der Setlist ging. Diesen betitelte er wiederum mit dem Wort “oh”.

Die Entscheidung von Muse, die für ihre antiautoritären Texte bekannt sind, einen Song wegen irgendwelcher nationalen Richtlinien nicht zu spielen, mag zwar fragwürdig sein, aber zumindest hat der Song, den sie stattdessen gespielt haben, durchaus eine politische Botschaft. So heißt es unter anderem: “Love is our resistance/ They’ll keep us apart, and they won’t stop breaking us down/ Hold me/ Our lips must always be sealed”.

Das Konzert von The 1975 in Kuala Lumpur war vorzeitig beendet worden, nachdem Frontmann Matty Healy sich kritisch gegenüber der dortigen Regierung geäußert und seinen Bandkollegen geküsst hatte. So hatte Healy Stellung zu den dortigen Rechten der LGBTQIA+ Community bezogen. Nun drohen der Band rechtliche Konsequenzen. Konkreter geht es um eine Sammelklage und eine finanzielle Entschädigung in nicht benannter Höhe. Auch die Konzerte in Jakarta und Taipei wurden abgesagt.

Daneben wurden The 1975 von der malaysische LGBTQ+ Community kritisiert. Diese bezeichnete das Verhalten der Band als “performativen Aktivismus” und schädigend für die Arbeit lokaler Musiker:innen. In Malaysia steht Homosexualität unter Strafe und wird mit bis zu 20 Jahren Haft und einer Prügelstrafe geahndet.

Muse haben ihr aktuelles Album “Will Of The People” im letzten Jahr veröffentlicht. Neben im Konzert in Kuala Lumpur sind keine weiteren Shows in Asien geplant.

Vorerst letzte Shows angekündigt

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Noch ein paar wenige Festival-Shows will Billy Nomates spielen, dann soll vorerst Schluss sein. Das bestätigte die britische Singer/Songwriterin nun in einem ausführlicheren Statement zu ihrem vorläufigen Karriereende – zumindest als Solokünstlerin.

“Ich verspreche, dass daran nichts Trauriges ist”, so Billy Nomates, die mit bürgerlichem Namen Tor Maries heißt, via Instagram. “Ich habe Neues in der Pipeline – und das schon seit einer ganzen Weile. Ich bin so unglaublich dankbar für jeden, der hinter Billy Nomates steht. Es war ein wilder Ritt.”

Vor allem sei laut Maries nun “Zeit für Neues, genauso wie es vor fünf Jahren Zeit für Neues war” als sie mit ihrem Soloprojekt loslegte. “Alles wird mit der Zeit einen Sinn ergeben. Es gibt so viel, was ich tun möchte und neue Gebiete, die ich erforschen möchte. Ich habe vor, eine Zeit lang sehr beschäftigt zu sein als Macherin. Vielleicht meine Lieblingsrolle. Und jetzt weiß ich mit Sicherheit, was Erfolg ist. […] Es wird noch viel kommen!”

 

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Vorangegangen waren einige Anfeindungen und Beschimpfungen infolge ihres Glastonbury-Auftritts, worauf Maries prompt verkündete, nach dem Sommer keine Shows mehr spielen zu wollen. Sie schrieb damals, dass das “Ausmaß der persönlichen Beleidigungen auf dieser öffentlichen Seite” zu viel für sie seie. Zahlreiche Künstler:innen wie etwa Billy Bragg, The Anchoress, Sleaford Mods, Simone Marie von Primal Scream und Maries’ Label-Chef Geoff Barrow (Portishead) drückten darauf ihre Unterstützung aus.

Anfang Januar veröffentlichte Billy Nomates ihr wohl letztes Soloalbm “Cacti”, worauf sie ihr Soundspektrum erweiterte und Platz 2 in unserem monatlichen Soundcheck in VISIONS 358 belegte. Ihr Debütalbum erschien 2020. Ein Jahr später folgte noch die EP “Emergency Telephone”.

Die wohl letzte Chance Billy Nomates in Deutschland zu sehen, hat man beim Appletree Garden Festival in Diepholz, das vom 3. bis 5. August stattfindet.

Klash Of The Ruhrpott

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Im nächsten Jahr findet im Ruhrgebiet erstmals das Klash Of The Ruhrpott statt. Ein eintägiges Metal-Open-Air, präsentiert von den Thrash-Ikonen Kreator. Austragungsort wird das Amphitheater in Gelsenkirchen am 20. Juli 2024 sein. Neben Kreator werden Sodom, Destruction und Tankard mit von der Partie sein. Damit sind die “Teutonic 4” des deutschen Thrash-Metal wieder für eine gemeinsame Show vereint.

Mille Petrozza von Kreator sagt über das eintägige Festival: “Ich bin so glücklich, dass wir die Gelegenheit haben, dieses Paket auf die bestmögliche Weise zu präsentieren! Es wird ein ganz besonderer Tag werden, voller Liebe und Respekt… und dem umfangreichsten Kreator-Set aller Zeiten… macht euch auf einige Deep Cuts gefasst!”

Daran schloss Tom Angelripper von Sodom an und betonte, dass es “sowohl für die vier Bands als auch für die Fans ein ganz besonderes Event werden wird”. Ob es sich um eine einmalige Show handelt oder weitere Ausgaben geplant sind, wurde bisher nicht bekannt gegeben.

Ihr aktuelles Album “Hate über alles” veröffentlichten Kreator im vergangenen Jahr. Auch Destruction und Tankard brachten vergangenes Jahr neue Platten heraus. Das letzte Studioalbum von Sodom (“Genesis XIX”)  liegt bereits drei Jahre zurück.

Der Vorverkauf startet am 2. August um 10 Uhr.

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Live: Klash Of The Ruhrpott

20.07.24  Gelsenkirchen – Amphitheater

30 Jahre blanke Kasse

Als Christian Gesellmann 2020 anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Kassablanca die Arbeit an einem Buch über den legendären Club aufnimmt, wird ihm schnell klar, dass es unmöglich nur eine Geschichte des für die Region so wichtigen Kulturzentrums geben kann. “Es ist für jeden eine komplett andere Geschichte: warum er da war, warum er jetzt nicht mehr da ist, was der Club für ihn ist”, so der Herausgeber. “Das war mir wichtig, dass sich aus diesen verschiedenen Perspektiven heraus eine Annäherung ergibt.”

Gesellmann, der aus Zwickau stammt, arbeitet eben dort mehrere Jahre als Lokaljournalist mit Schwerpunkt Rechtsradikalismus, berichtet unter anderem über die NSU-Morde. Irgendwann ist es zu viel, er sucht sich einen neuen Schwerpunkt: “Ich hatte es satt, Probleme zu beschreiben. Ich wollte nach Lösungen suchen. Und landete im Kassablanca”, schreibt er im Vorwort von “Man war ja auch noch jung”. Im Club stößt er auf ehemalige Mitarbeiter wie Türsteher Carsten Müller, der heute Kulturamtsleiter der Stadt Jena ist, oder die Kinderkrankenschwester Ingrid Sebastian, die lange Barkeeperin im Kassablanca ist und davon berichtet, wie sie in den letzten Jahren der DDR von der Stasi überwacht wurde.

Oft war es für ihn ein Prozess, die persönlichen Geschichten, die mit dem “Kassa” verknüpft sind, ans Licht zu bringen, sagt Gesellmann: “Mit Künstlern wie Reinald Grebe oder Clueso sitzt man zusammen, die reden anderthalb Stunden, und das kann man dann mehr oder weniger auch genau so abdrucken. Alle anderen haben noch nie zuvor ein Interview gegeben – und auf viele Sachen kann man gar keine Antworten bekommen, weil der- oder diejenige das noch viel zu tief vergraben hat, um spontan darauf zugreifen zu können. Das heißt, wir mussten uns oft noch mal treffen, und dann noch mal. Bei manchen kam das eher als Lawine, andere haben sehr viel Zeit investiert, um noch mal zurückzugehen in ihren Erinnerungen.”

“Zwickau wäre vielleicht eine andere Stadt, hätte es da ein ‘Kassa’ gegeben.”

Christian Gesellmann

Die Besonderheit des Kassablanca liegt zum einen im Gründungsjahr 1990 und zum anderen am Ort Jena, den der Lokaljournalist Frank Döbert in seinem Interview im Buch umreißt: “Jena hat sicherlich den Vorteil, eine Studentenstadt zu sein, in der der Anteil junger Menschen wesentlich größer ist als in einer normalen Stadt. In Jena hat sich das gesellschaftliche Denken nach der Wende explosionsartig entwickelt.” Das “Kassa” stellt ein Sammelbecken für all diese sich entwickelnden Subkulturen dar, erlebt die Blüte des Techno mit und verortet sich doch tief in den Traditionen des Punk, der im letzten Jahrzehnt der DDR zunächst im Untergrund zu brodeln beginnt. Das weiß auch Gesellmann: “Der Club ist eine Gründung aus der Jungen Gemeinde (JG) Jena heraus. Die ist wegen des Pfarrers [Lothar] König legendär und war ein wichtiges Zentrum für die Friedliche Revolution in der DDR.”

König ist ab 1990 Jugendpfarrer in Jena und sieht sich mit der wachsenden Neonaziszene konfrontiert. “Jena gehörte damals zu den wenigen Städten, wo es sowas wie eine Jugendsozialarbeit gab, so Gesellmann. “Das war ja geduldet vom Staat, aber es gab eben nicht so viele Pfarrer, die sich das getraut haben, denn es war natürlich trotzdem mit massiver Überwachung verbunden. Aber in Jena ist es schon zeitig losgegangen, so ist die Stadt ein Ort für die Kreativen und Intellektuellen geworden.”

Heute sei das Potpourri der verschiedenen Subkulturen nicht mehr so stark vertreten, die Hochzeit findet sich klar im ersten Jahrzehnt des Clubs, wie auch Gesellmann bei der Sichtung des Materials auffällt: “Es war damals natürlich sehr viel ausdifferenzierter in Sachen Subkulturen. Die Fotos aus den 90ern sind zwar wenige, aber es ist schon spektakulär, wie crazy alle angezogen waren. Da gab es die Skins und die Punks und die Grufties und die Technoleute, und alle hatten ihren eigenen Stil. Das wirkte alles viel freier, und der Mitmachanteil war auf jeden Fall höher. Um sich so zu kleiden, muss man ja schon mal aktiv werden, und das gilt auch für die Beteiligung am Clubleben. Heute bemängeln viele, dass das Publikum oft nur noch zum Konsumieren kommt, nicht zum Selbst-aktiv-werden.”

Jugenddezernent Stephan Dorschner, der nach mehreren Umzügen und einer kurzen Hausbesetzung die heutigen Räumlichkeiten des Kassablanca am Jenaer Westbahnhof betreut, macht im Buch den lockeren Umgang und kurze Dienstwege für das Aufblühen des Clubs in den 90ern verantwortlich: “Ich will diese Zeit nicht verklären, aber viele Dinge gingen während der Wende deutlich einfacher. Heute läuft alles viel bürokratischer ab. Ob das Kassablanca nochmal in dieser Form entstehen könnte, glaube ich eher nicht.”

Gesellmann zeigt sich hoffnungsvoller: “Meine Wunschvorstellung ist, dass jemand in Zwickau das Buch irgendwann mal in die Hand nimmt, damit zu seiner Bürgermeisterin geht und sagt: ‘Hier, lies dir das mal durch, deshalb brauchen wir endlich mal einen Raum in unserer Stadt.’ Zwickau wäre vielleicht eine andere Stadt, hätte es da ein ‘Kassa’ gegeben.”

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