Cocteau Twins Head Over Heels

“Head Over Heels” erscheint 1983 zu Halloween und klingt tatsächlich so, als wären dem Album ein paar Geister, Gespenster und Untote auf den Fersen. Die Hausband des aparten britischen Labels 4AD entstammt ursprünglich der Gothic-Szene, hat sich aber zu Zeiten ihres Meisterwerks “Heaven Or Las Vegas” vom geronnenen Blut der frühen Tage reingewaschen. Was jenes Album nicht hat, “Head Over Heels” aber dafür noch im Quadrat: mehr Hall als eine mittlere Kathedrale und Elizabeth Frasers kristalline, auf Effekt gebürstete Stimme, die durch wehende Vorhänge auf einen zuschwebt. Dass Fraser die geniale Idee hat, statt richtigen Sätzen eher Töne und Fantasiewörter zu singen, trägt zum ungreifbaren, ätherischen Sound des Albums bei, der bald nicht nur Gruftis begeistert. Mit seinem raumgreifenden Drum’n’Synth-Sound ist “Head Over Heels” einerseits ein typisches Beispiel für die Schulterpolster-Produktionsästhetik der 80er, dank seiner romantischen Klangpoesie aber auch ziemlich zeitlos.
Markus Hockenbrink
The Jesus And Mary Chain Psychocandy

Alan McGee glaubt nicht, was er da hört, aber es ist eine Band ganz nach seinem Geschmack. Ein junger Schotte namens Bobby Gillespie hat ihm das Tape eines talentierten Brüderpaars gegeben, das eine neue Art von musikalischem Krawall macht. Jim und William Reed nennen sich The Jesus And Mary Chain, haben vielleicht gerade erst eine Handvoll Songs geschrieben, aber geben selbstbewusste 20-Minuten-Konzerte, als wäre danach eigentlich alles gesagt. In gewisser Weise stimmt das sogar, denn so wie die Gebrüder Reid hat noch nie jemand Lärm umdefiniert. The Jesus And Mary Chain nutzen Übersteuerung und Rückkopplungen nicht als Soundeffekte, sondern als Sounds und beschwören damit eine Erfahrung herauf, die Musikkritikern neue Formulierungen abverlangt. Wie ein “Backstein in Zuckerwatte” soll “Psychocandy” also klingen, wie das akustische Äquivalent einer stürmischen neuen Liebesbeziehung und so weiter. Verantwortlich für das entsprechende Resultat sind einerseits die flirrenden Gitarrenkaskaden (die Zuckerwatte) und andererseits die von Edelfan Gillespie eher rabiat eingespielten Drums (der Backstein). Dass dabei neben dem ästhetischen Fundament von Shoegaze auch noch drei überraschend eingängige Pop-Singles abfallen, unterstreicht die Ausnahmestellung des einflussreichen Albums. Das wird später von diversen Britpop-Großmäulern als wesentlicher Einfluss auf die eigene Großartigkeit reklamiert, wobei sich wiederum Alan McGee hervortut. Der ist da aber längst Manager der Band geworden.
Markus Hockenbrink
Galaxie 500 On Fire

Während britische Bands Ende der 80er wuchtige Gitarrenwälle auftürmen, schlagen Galaxie 500 an der Ostküste der USA sachtere, fragilere und vor allem verträumtere Töne an. In der Heimat gelten sie deswegen als kauzig aus der Art geschlagen, im UK setzen nach einer Tour und dem Signing bei Rough Trade aber erste Erfolge ein. Zwar sind die handwerklichen Fehler des Trios auch auf dieser zweiten und besten LP offensichtlich, besonders der Jaulgesang von Dean Wareham ist gewöhnungsbedürftig. Doch der sinnliche Reiz dieser Musik, die wie eine hallende LoFi-Version von Velvet Underground wirkt, überstrahlt das bei weitem. Galaxie 500 nehmen sich für stoische Klagelieder und gelegentlichen Gitarrenkrach alle Zeit der Welt und entfachen den vielbeschworenen Sog, gegen den die Dramatik der meisten aktuellen Dreampop-Acts wie eine flache Seifenoper wirkt. Nach der Auflösung der Band 1991 führen Low deren Stil weiter. Galaxie 500s Einfluss reicht aber bis in den heutigen Indierock und weit darüber hinaus.
Christian Steinbrink
Spacemen 3 Playing With Fire

Pete “Sonic Boom” Kember und Jason “J Spaceman” Pierce könnten Brüder sein, gehen sich zur Zeit von “Playing With Fire” jedoch gegenseitig so auf den Sack wie die Gallaghers Jahre später. Ihre Parts nehmen die Musiker getrennt voneinander auf. Pierce singt und spielt Gitarre, Kember außerdem Synthesizer und seine neue Vox Starstream aus den 60ern mit eingebauten Effekten wie Tremolo, Delay, Fuzz und einem Percussion-Repeater. Rhythmus spielt dabei kaum eine Rolle, die Band hat keinen Schlagzeuger, lässt sich gelegentlich von einer Drum-Machine aushelfen (und vom später zu Spiritualized mitwandernden Will Carruthers am Bass). Kember, von dem sechs der neun Songs stammen, sagt, dass das hier der definierende Punkt seiner Theorien eines maximalen Minimalismus sei. Ein paar Noten reichen, denn wenn die mit zahlreichen Effekten aufgeblasen und manisch (“Revolution”) oder häufig (“How Does It Feel?”) genug wieder- holt werden, erschafft man auch genervt voneinander ein Shoegaze-Gospel-Psychedelic-Wunderwerk.
Jan Schwarzkamp
Loop A Gilded Eternity

Das ausufernde, repetitive Element der Band ist bereits im Namen der Briten angelegt. Außergewöhnlich ist die Mischung des Sounds: Einige Gitarrenspuren klingen verwaschen, andere trocken. Das gilt auch für die größtenteils herausragenden Drums: Die Snare hat Hall, die Toms wirbeln clean, besonders gut zu hören beim rollenden Schlagzeugwunder “Arclite (Sonar)” sowie beim Hit der Platte, dem funkelnden “Afterglow”. Daher klingt “A Gilded Eternity” in seinen vielen brillanten Momenten wie ein Shoegaze-Album aus der Wüste, was zur Folge hat, dass Loop nicht so sehr Teil der britischen Shoegazer-Szene sind, sondern eher mit Alternative-Rock- und Psychedelic-Acts auf Tour gehen und von Menschen gehört werden, die bei Konzerten ihre langen Haare schütteln. Kein Wunder, dass Bandchef Richard Hampson den beachtlichen kommerziellen Erfolg dieses dritten Loop-Albums nicht genießt, sondern die Band auflöst und sich der Industrial-Metal-Band Godflesh anschließt, um neue Härtegrade zu erkunden.
André Boße
Pale Saints The Comforts Of Madness

Das Debüt der Pale Saints gehört zu den heiligen Schätzen des Shoegaze: Die Band aus Leeds verblasst darauf keineswegs, rauschhaften bis rohen Songs sei Dank. Mit einem furiosen Trommelwirbel startet “The Comforts Of Madness”, um dann in einen noisigen Melodiestrudel zu versinken, den Ian Masters mit chorartigem Gesang begleitet. Nach der Veröffentlichung steigt Meriel Bartham bei den Pale Saints ein, die zuvor Sängerin bei Lush war. An deren üppige Soundflächen erinnern auch die melancholischen Songs hier. Midtempo-Tracks wie “Sight Of You oder “You Tear The World In Two” entwickeln eine überraschende Poppigkeit und zwingende Eingängigkeit wie bei Ride oder The Charlatans. Auf dem ikonischen Label 4AD veröffentlicht, stimmen verschwommenes Artwork und verschlungene Melodiebögen perfekt überein. Produziert hat das Album Gil Norton, der davor “Doolittle” der Pixies betreute; so trifft hier ebenfalls der Wahnsinn der Welt aufeinander – in Songs voller Schönheit und Schmerz.
Kerstin Kratochwill
Ride Nowhere

Wie die Wellen auf dem Albumcover umspülen einen auf “Nowhere” auch die von Ride erschaffenen Shoegaze-Sounds. Mit deren Hilfe taucht man ein ins Niemandsland der erhabenen Melodiebögen in diesen großen Songs. Das Debütalbum der Band aus Oxford trifft einen wie eine majestätische Monsterwelle, und das hat nur ein bisschen mit dem Coverbild einer solchen zu tun. Die Fotografie von Warren Bolster, bekannt für seine Skateboard- und Surfbilder, stimmt einen jedoch bereits atmosphärisch ein auf diese Erfrischung des englischen Gitarrenpop der frühen 90er: Man hört Songs, die einen Umtosen und Umarmen in ihrer melodieverliebten Mischung aus Psychedelic Pop, Indierock und Shoegaze. Als würden The Byrds zusammen mit Spacemen 3 spielen, lassen Ride unterschiedlichste Einflüsse von The Stone Roses über My Bloody Valentine bis hin zu The House Of Love unmittelbar in das Songwriting einsickern. Daraus entstehen dann hinreißende Songs wie das Beatles-esque “Seagull “oder das energetische “Polar Bear”, dessen zittriger Gitarrenbeginn wie eine Fortführung des Smiths-Klassikers “How Soon Is Now?” klingt, um dann in ein episches Noise-Meer ein- und abzutauchen. Beendet wird diese tiefgründige Ozeanreise mit dem wunderbar wehmütigen “Vapour Trail”, einem elegischemotionalen Lied samt Cello, Compression- und Chorus-Effekten, das die Essenz von Ride darstellt und einen ob solch sublimer Shoegaze-Schönheit mit Tränen der Melancholie in den Augen zurücklässt: “Tremble with a sigh, glitter in your eye”.
Kerstin Kratochwill
Chapterhouse Whirlpool

Chapterhouse aus Reading sind Anfang der 90er Jahre etwas später dran als Ride, Slowdive, My Bloody Valentine & Co., weshalb sie mit der Kritik leben müssen, Epigonen des Genres zu sein. Hört man das Debütalbum oberflächlich, ist da was dran: “Whirlpool” wirkt wie eine Mischung aus allem, was das 1991 noch junge Genre auszeichnet. Erst beim genauen Hinhören offenbart sich die Brillanz der Platte: “Whirlpool” ist atemberaubend gut produziert, die träumerischen Elemente, dröhnenden Gitarren und zuckersüßen Melodien finden zu einer Melange zusammen, bilden gemeinsam einen Pop-Sound mit Tiefgang. Obendrauf gibt es das wirbelnde Schlagzeug, das – und hier erweist sich das Timing als Vorteil – bereits nach Manchester schielt und sich dort einige Rave-Rhythmen abschaut, zu hören auf dem an Primal Scream erinnernden Groove-Song “Falling Down” sowie an der gnadenlos guten Single “Pearl”. Deren Gesangsmelodie kommt so leicht daher, dass man Angst hat, das Fenster zu öffnen, weil sie sonst davonfliegen könnte.
André Boße
My Bloody Valentine Loveless

Magnum Opus, Mythos, Meisterwerk: Die Superlative können für dieses Shoegaze-Monster von einem Album gar nicht groß genug sein, denn mit “Loveless” haben My Bloody Valentine komplett neue Standards in der Gitarrenmusik geschaffen. Schon die Entstehungsgeschichte des zweiten Werks der irischen Band ist filmreif: Mastermind Kevin Shields vergräbt sich für die Aufnahmen dazu regelrecht und verschleißt nicht nur 19 verschiedene Studios, sondern bringt das Label Creation an den Rand des Ruins. Nervenzusammenbrüche gibt es auch innerhalb der Band: Schlagzeuger Colm Ó Cíosóig ist nur beim mächtigen Opener “Only Shallow” in der Lage zu spielen, bei allen anderen Songs werden die Drum-Parts einfach geloopt. Überhaupt ist “Loveless” fast ein Shields-Solowerk, denn wie ein wahnhafter Wissenschaftler arbeitet er allein an den bis heute verblüffenden Effekten, die Gitarren wie neu- und fremdartige Instrumente klingen lassen. Auch Bassistin Debbie Googe sowie Sängerin und Gitarristin Bilinda Butcher sind fast nur Beiwerk. Letztere steuert mit ihrem verhuschten, verhallten und verträumten Gesang dennoch ein weiteres Instrument und essenzielles Merkmal dieses neuen Sounds bei, der mit bisherigen Hörgewohnheiten radikal bricht. Es sind Songs, die sich brutal ins Gehör schneiden, die unter Schichten von Gitarrenwänden mit überwältigenden Glide- und zittrigen Tremolo-Effekten aber wunderschöne Melodien verstecken. Es mag esoterisch klingen, aber: “Loveless” ist ein Erweckungserlebnis.
Kerstin Kratochwill
Curve Doppelgänger

Die unterschätzteste Band des Shoegaze: Curve sind mit ihrem Debütalbum und der darauf zu hörenden Mischung aus Industrial, Goth-Noise und Dance ihrer Zeit Anfang der 90er meilenweit voraus. Die einzigartige Stellung im Genre verdanken sie einer fast hypnotischen Herangehensweise an Musik, in der schwere Beats, schleppende Melodien und ein sirenenhafter Gesang für ungewöhnliche Tanzbarkeit sorgen. Über all den massiven Reverb- und Distortion-Orgien in den Songs thront die verlockend sinnliche, heisere Stimme von Toni Halliday, die sich im Gegensatz zu ihren Kolleginnen selbstbewusst in den Mittelpunkt der sie umtosenden psychedelischen wie noisigen Sound-Wellen stellt. Für diese ist Dean Garcia an Gitarre, Synths, Bass und Drum-Programming verantwortlich, der den Shoegaze in die Alternative-Rock-Welt bringt und mit kalten Industrial-Electro-Beats mischt. Bis heute gelten Garbage nicht zufällig als Fans der innovativen Curve, deren Reunion von vielen herbeigesehnt wird.
Kerstin Kratochwill
Albenlisten
Listen to your heart
Inhalt
- Von Flop bis Top – Alle Alben von The Smiths im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Soundgarden im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Jack White im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Joy Division und New Order im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Placebo im Ranking
- Die 30 wichtigsten Konzeptalben – Die Schönheit des Konzepts
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Tocotronic im Ranking
- Metalcore: die Album-Highlights – Der harte Kern
- Die 50 Alben des Jahres 2024 – Harte Musik für harte Zeiten
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Linkin Park im Ranking
- Die besten Soloalben: 2012-2024 – Für sich (auf)genommen
- Die besten Soloalben 1994-2011 – Einzig und allein
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Primal Scream im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von The Cure im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Blur im Ranking
- Die 50 wichtigsten Noiserock-Platten – Mutwillig am Hit vorbei
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Oasis im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Nick Cave & The Bad Seeds im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Weezer im Ranking
- Die 50 wichtigsten Soundtracks – Bilder hören
- Zwölf umweltbewusste Alben – Sendungsbewusstsein
- Von Flop bis Top – Alle Alben der Beatsteaks im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben von Frank Turner im Ranking
- Von Flop bis Top – Alle Alben der Foo Fighters im Ranking
- Global Beat - Die wichtigsten Platten – Der Beat geht weiter
- Jahresrückblick 2023: Die 50 Alben des Jahres – Es müsste immer Musik da sein
- 1993 in 50 Platten – Re(ar)viewmirror
- Die 25 besten Heartland-Rock-Platten – Bewusstsein schaffen
- Shoegaze: Die 40 besten Platten – Dream On
- Tribute-Alben: 25 Meilensteine – Wem Ehre gebührt
- Supergroups: Die 50 besten Alben – Alles super
- Supergroups: Superduos – Ein Fall für zwei
- Die 33 wichtigsten Koop-Alben – Kommt zusammen
- Sludge Metal: Die besten Platten – Schlammschlacht
- Die 2010er: Die Plattenliste – Die 100 besten Alben der 2010er
- Okkult-Rock - Die Plattenliste – Diabolus in Musica
- Proto-Punk: Die wichtigsten Platten – Paten des Punk
- Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit
- Britpop - Die Plattenliste – Cool Britannia
- Post-Punk: Die besten Alben der ersten Welle – Pinke Flagge, schwarzes Gewand
- Post-Punk: Die besten Alben des Revivals – Widerhall in der Fabrikhalle
- Von Grunge bis Drum'n'Bass – Die 100 wichtigsten Platten der 90er