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Etwas fehlt! – VISIONS-Reportage zu Publikumsmangel bei Konzerten und Festivals

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Da ist sie jetzt also wieder, die von vielen so sehnlich herbeigewünschte Konzert-Normalität. Die Rückkehr von Live-Veranstaltungen wie vor Corona erreicht am Pfingstwochenende den ersten Höhepunkt: Rock am Ring stellt mit 90.000 Gästen am Nürburgring einen persönlichen Rekord auf. Rammstein spielen zwei ausverkaufte Shows im Berliner Olympiastadion, Die Ärzte vor großem Publikum in Köln und Hannover. Und das zeitgleich stattfindende Orange Blossom Special (OBS), das sonst immer innerhalb von Stunden ausverkauft war? Sendet kurz vor dem Wochenende einen Hilferuf an die Fans und bietet zum ersten Mal Tickets an der Abendkasse an.

Das Festival im nordrhein-westfälischen Beverungen steht exemplarisch für die Erfahrungen, die viele Veranstalter:innen in ganz Deutschland und über Genregrenzen hinweg derzeit machen. “Nach zwei Jahren, in denen viele Menschen auf Live-Musik verzichten mussten und sie ihnen offensichtlich sehr gefehlt hat, ist nun, da es wieder Veranstaltungen ohne große pandemische Einschränkungen gibt, die Zurückhaltung groß” sagt Rembert Stiewe, der Veranstalter des OBS. Zwar sei das erste Festival seit 2019 für ihn und die Fans eine emotionale Erfahrung gewesen. Dennoch: “Bei 80 Prozent verkauften Tickets haben wir zwar kein Geld verloren, aber nach über zwei Jahren Pause wäre es auch schön, mal wieder etwas zu verdienen.”

rembert stiewe
“Wir haben zwar kein Geld verloren, aber nach über zwei Jahren Pause wäre es schön, mal wieder etwas zu verdienen” Rembert Stiewe, OBS.
(Credit: Lucja Romanowska)

Der gesamte Live-Sektor in Deutschland hat trotz des Wegfallens aller Corona-Maßnahmen mit großen Problemen zu kämpfen. Die Pandemie hat einen großen Mangel an Fachkräften hinterlassen, von spezialisierten Licht- und Tontechniker:innen über Caterer und Stagehands bis zu Tourbusfahrer:innen – viele von ihnen haben die Branche nach zwei Jahren ohne klare Job-Perspektive verlassen. Falls für eine geplante Tour doch pünktlich ein Fahrer bereitsteht, fallen nun deutlich höhere Kosten an, insbesondere aufgrund der stark gestiegenen Spritpreise. Anfang Mai sagte die US-Metalcore-Band August Burns Red ihre für Juni geplante Europatour ab – aus “finanziellen Gründen, einschließlich gestiegener Transportkosten”. Auch der kanadische Progrocker Devin Townsend streicht Shows wegen “Unsicherheit in der Welt, fehlenden Personals, steigender Produktionskosten von Diesel bis Transport und Visa”. Und Primus canceln ihre Europatour wegen “unvermeidbarer logistischer Herausforderungen”.

Wer trotz solcher Widrigkeiten auf Tour geht, steht nicht selten in spärlich gefüllten Hallen. Die Schweden Ghost, inzwischen zum Festival-Headliner gewachsen, spielen in Köln und München vor halbvollen Arenen. Die Show in Leipzig sagen sie gleich ganz ab – “aufgrund von Umständen außerhalb ihrer Kontrolle”. Auch macht Venues in Stuttgart und Münster nur halbvoll, sein Kollege Frank Turner muss ebenfalls einige Shows absagen, spielt andernorts aber wieder vor ausverkauftem Haus. Dabei sollten die vollen Hallen auch gestiegene Kosten auffangen. Doch das Publikum macht sich auffallend oft rar – obwohl es doch so lange auf die gewohnte Live-Erfahrung verzichten musste. In einer Umfrage unter VISIONS-Leser:innen (siehe unten) geben über 30 Prozent der Befragten an, weniger Konzerte zu besuchen als vor der Pandemie. “Publikumsschwund” ist vielleicht das entscheidende Problem der Branche. Und ein ziemlich komplexes.

Umfrage 6

Angebot und Nachfrage

Dass das Publikum nun teilweise wegbleibt, fällt auch deshalb so auf, weil das Live-Geschäft in den Jahren vor der Pandemie einen Boom erlebte, vor allem bei den Festivals. Der war gewissermaßen nötig: In Zeiten, in denen Musiker:innen vor allem live ihren Lebensunterhalt verdienen, sind Festivals mit ihren festen Gagen eine willkommene Gelegenheit, etwas Geld in die Taschen zu spülen. Doch auch diese Gagen sinken bereits seit ein paar Jahren, schon vor 2020 verlor der sich 20 Jahre im Aufwind befindliche internationale Festivalmarkt etwas an Fahrt. Laut Stefan Reichmann vom nordrhein-westfälischen Haldern Pop Festival habe die Pandemie diese Entwicklung nun lediglich beschleunigt und offensichtlich gemacht. Auch bei seinem eigenen Festival, das erstmals seit 2002 nicht ausverkauft ist. “Nun müssen wir wieder plakatieren, werben und balzen.”

Umfrage 2

Die Gründe für das zurückgegangene Interesse an Festivals und Konzerten sind vielschichtig. “Es ist eine Gemengelage aus Überangebot, Inflation und Angst”, sagt Rainer G. Ott, der mit der Hamburger Indie-Institution Grand Hotel van Cleef sowohl Platten veröffentlicht als auch Konzerte veranstaltet. “Außerdem wurde den Leuten zwei Jahre lang gesagt, dass sie nicht auf Konzerte gehen sollen, weil da die Ansteckungsgefahr mit am größten ist. Das muss erst mal wieder neu gelernt werden.” Wie Rembert Stiewe hatte auch Ott hat den Zuschauerschwund bei Veranstaltungen offen in einer Pressemitteilung angesprochen und eine Ticket-Lotterie ausgelobt, die die Kartenverkäufe seiner Bands ankurbeln sollte. Dass das aktuell offenbar nötig ist, hat laut Stiewe auch mit einer gewissen “Corona-Trägheit” zu tun: “Man hat sich daran gewöhnt, zu Hause zu bleiben.” Und wer nicht zu Hause bleibt, hat im Zweifel noch einen Stapel Tickets aus den Pandemie-Jahren übrig, den sie oder er erst mal “abarbeiten” muss.

Umfrage 1

Nicht nur die mehrtägigen Festivals haben mit geringerem Absatz zu kämpfen, sondern auch die Konzerte. Insbesondere bei teils mehrfach verschobenen Shows ist die Nachfrage stark gesunken, in manchen Fällen gar fast zum Erliegen gekommen. Der Konzertagent und Autor Berthold Seliger sieht das Problem besonders im Independent-Bereich: “Kleinere Bands und alles, was sich in Clubs im Bereich 100 bis 300 Tickets abspielt, ist gerade katastrophal schwer. Da merkt man, dass es ein dramatisches Überangebot gibt.” Besagtes Überangebot, entstanden vor allem durch die Masse verschobener und nun nachzuholender Shows, führt zu einem Phänomen, das die Betriebswirtschaftslehre das “Auswahlparadox” nennt: Wer die Wahl hat, hat die Qual; zu viele Möglichkeiten behindern die Entscheidungsfindung. Hat man als Fan an einem Abend die Wahl zwischen zwei Konzerten, wählt man üblicherweise eines davon. Stehen aber, wie etwa in Berlin, Hamburg oder Köln oft der Fall, gleich fünf passende Konzerte zur Auswahl, entscheiden sich viele Menschen am Ende für keines.

Festivalstickets am Kühlschrank - Anna Merten
Verdammt viel zu tun: Über die Pandemie haben sich bei Fans die Tickets angestaut.(Credit: Anna Merten)

Konzerte, die nach wie vor gut verkaufen, sind meist Stadionshows von etablierten Stars, die auf eine lange Karriere zurückblicken, oder Künstler:innen mit einem akuten Hype, die vor allem die jüngere Zielgruppe ansprechen. Einfach zu durchschauen ist der Zuschauermangel für die Veranstalter:innen damit allerdings nicht. Zu viele Faktoren beeinflussen, ob Leute kommen oder wegbleiben: Genre, regionale Besonderheiten, die Demografie der Zielgruppe – von “Kaffeesatzlesen” sprechen selbst Veranstaltungsprofis, wenn sie sich derzeit mit dem Problem befassen. Zumal das je nach Blickwinkel anders zu bewerten ist, wie auch Seliger sagt: “Es gibt nicht die eine Branche. Wenn CTS Eventim und Live Nation die Superstars auf Tour schicken, hat das mit dem, was in der Clubszene passiert, wenig zu tun. Aber dort findet ja die kulturelle Vielfalt statt.” Und nicht nur das: Die “Kleinen”, die nicht auf komfortable Finanzpolster, Majorlabels und Backkataloge zählen können, sind auch besonders auf Live-Einnahmen angewiesen.

Die Sache mit dem Geld

Während zahlreiche Angehörige der Musikbranche das Geld der Fans gut brauchen könnten, haben die tendenziell selbst weniger davon zur Verfügung: Nach zwei Jahren der Pandemie und Folgen wie Kurzarbeit, Jobverlust oder auch nur der Angst davor sind Konzerte ein entbehrlicher Luxus – insbesondere, wenn die Tickets wegen steigender Produktionskosten teurer werden, während die Inflationsrate bei fast 8 Prozent liegt. Laut dem Eventpsychologen Steffen Ronft spielt in einer solchen Situation die “mentale Buchführung” der Fans eine große Rolle beim Entschluss, ob sie Tickets kaufen oder eher davon absehen: Gedanklich gestehen sich Menschen ein bestimmtes Budget für Bereiche wie Verkehr, Lebensmittel und Freizeit zu. Ist dieses für die Woche oder den Monat erschöpft, zögern sie, im entsprechenden Bereich noch Geld auszugeben. Steigen die Kosten für das Lebensnotwendige, seien “Kultur- und Freizeitkonten leider die ersten, die gekappt werden”, so Ronft.

Umfrage 3

Hinzu kommt, dass während der Pandemie gekaufte Tickets gedanklich trotzdem wie frische Ausgaben auf dem Freizeitkonto “verbucht” werden – auch wenn die Fans das Geld schon vor ein oder zwei Jahren bezahlt haben. “Wenn du zum Beispiel diesen Monat auf drei Konzerten warst – selbst wenn das bereits bezahlte Tickets von vor zwei Jahren waren –, wirst du diesen Monat für kein Konzert mehr Geld ausgeben”, schätzt Ronft. “Denn egal, woher die Tickets ursprünglich kamen, man denkt sich: ‘Diesen Monat habe ich schon genügend Konzerte, da nehme ich nicht noch mehr Geld aus dem mentalen Topf heraus.’ Man will ja kein schlechtes Gewissen haben, dass man unverhältnismäßig agiert und Geld ausgibt, das nicht vorgesehen war.” Wer den eigenen Kopf austricksen will, könne mit Kontrasten zu anderen Aktivitäten arbeiten, um sich selbst gegenüber weitere Ausgaben für Konzerte zu rechtfertigen. “Man kann ja sagen: ‘Andere Leute gehen mit dem Geld einmal ins Sterne-Restaurant essen, ich bekomme dafür ein ganzes Wochenende Festival! Gute Live-Musik, Zeltplatz und Dosenbier mit Freunden bringt mir doch mehr Freude als ein Abend bei Rotwein und Hummer.’ Vor dem Hintergrund ist ein Festivalticket dann ja doch nicht mehr so teuer und die Ausgabe für mich auch psychologisch okay.”

Umfrage 5

Leidenschaftliche Fans wie VISIONS-Leserin Mira Langer setzen ihre Prioritäten ohnehin entsprechend. “Der Preis spielt für mich an sich keine große Rolle”, erzählt die 24-Jährige. “Ich bin zwar erwerbstätige Studentin, aber für Konzerte gebe ich gerne Geld aus, da sie mir persönlich sehr viel geben und an sich mein größtes Hobby sind.” Dafür gibt man gerne sein Geld aus. Allerdings verblasst die Anzahl derer, die das tun, gegenüber der enormen Größe des Live-Sektors. Gestiegene Spritpreise spielen nicht nur für die Bands auf Tour eine Rolle, sondern auch fürs Publikum. Gerade in Gegenden mit eher schwachem Kon- zertaufkommen, wie etwa dem Süden Baden-Württembergs: “Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann ich leider keine Konzerte besuchen, da ich sonst nicht mehr nach Hause kommen würde”, sagt der 28-jährige Daniel Hör, der auf dem Land wohnt. Er sei zwar sogar häufiger als vor der Pandemie auf Shows, aber nur in einem bestimmten Umgebungsradius, um die Benzinkosten vertretbar zu halten. “Deshalb schaue ich schon, dass die Konzerte, auf die ich gehen will, maximal zwei Stunden entfernt sind.”

berthold seliger
“Kleinere Bands und alles, was sich in Clubs im Bereich 100 bis 300 Tickets abspielt, ist gerade katastrophal schwer.” Berthold Seliger, Konzertagent (Credit: Matthias Reichelt)

Long Covid

Aber nicht nur finanzielle Fragen beeinflussen das Ticketkauf-Verhalten, auch die Pandemie wirft weiterhin einen langen Schatten. Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus ist auch Mitte 2022 noch ein legitimer Grund, auf Konzerte zu verzichten. Selbst Open Airs bieten keinen automatischen Schutz, diverse Großveranstaltungen entpuppten sich zuletzt als Hotspot. Die Veranstalter:innen können es in diesem Punkt nicht allen recht machen. Für die einen ist das Wegfallen aller Maßnahmen ein wichtiger Schritt zurück zur Normalität bei Konzerten. Andere würden sich wohler fühlen, wenn G-Regeln oder Tests weiterhin fester Bestandteil wären. Was also können Veranstalter:innen tun, damit das Publikum trotz der Pandemie den Weg vor die Bühnen findet? Für Transparenz sorgen. “Die Leute sollten direkt beim Buchen der Tickets die Antworten auf die Frage finden, wie Sicherheit gewährleistet wird”, sagt Psychologe Steffen Ronft. “Bei einer Indoor-Veranstaltung können das Belüftungs- und Filtersysteme sein. Die Leute müssen wissen: Die Veranstalter:innen haben das auf dem Schirm und kümmern sich darum und nehmen die Sicherheitsbedürfnisse der Besucher:innen ernst.”

Rembert Stiewe vom Orange Blossom Special sieht das ähnlich: “Ein Zurückholen der Leute geht nur über Qualität und Service, Service, Service. Man muss es so angenehm machen wie möglich.” Also etwa den Ticketverkauf möglichst übersichtlich gestalten und die Frage von Rückerstattungen bei Verschiebung oder Absage am besten schon im Vorfeld klären, wie Ronft sagt: “Zu wissen, was passiert, wenn etwas passiert, wird jetzt über alle Maßen wertgeschätzt. Das finden die Leute klasse, dann bekommst du auch mehr Tickets verkauft.” Denn die Unsicherheit der vergangenen zwei Jahre hemmt die Kauflust der Fans und stärkt den Wunsch nach Garantien. Dennoch wird das Publikum sich vermutlich daran gewöhnen müssen, ein gewisses Restrisiko zu akzeptieren. VISIONS-Leser Hör gelingt das bereits, er betrachte die Corona-Gefahr mittlerweile als “kalkulierbar”, das Erlebnis wiege die Risiken auf: “Ich bin einfach nur froh, dass wieder Konzerte stattfinden können.”

Festivals mit Maskenpflicht - Getty
Volles Haus trotz Pandemie? Sicherheit und Komfort lassen sich nicht so einfach vereinbaren.(Credit: Getty Images / John McDougall)

Dass noch nicht alle Fans wieder zum unbeschwerten Umgang mit Konzerten zurückgefunden haben, liegt auch an ihren unterschiedlichen Erfahrungen: Während Rückgabe und Erstattung von Tickets für die einen problemlos liefen, zogen Veranstalter den anderen Gebühren ab oder erstatteten Geld erst lange im Nachhinein. Da überlegt man sich dann zweimal, ob man wieder Tickets weit im Vorfeld kauft oder nicht doch lieber wartet, bis man sicher ist, dass ein Konzert auch wirklich stattfindet – wer an der Abendkasse kauft, bekommt die Show mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wie geplant zu sehen. “Gleichzeitig weicht die Vorfreude mitunter einer Verlustangst”, erklärt Ronft die im Hintergrund ablaufenden psychischen Prozesse. “Die bestand früher höchstens aus der Sorge, dass man gerade am Konzerttag krank sein könnte, aber dass die Konzerte stattfinden, war einfach gesetzt. Statt der aufgestauten Vorfreude spürt man auf dem Weg zum Konzert oder Festival jetzt eher Erleichterung, dass es wie geplant stattfindet. Denn beim Menschen ist Verlustangst generell stärker ausgeprägt als Vorfreude, das nennt sich ‘Verlustaversion’. Hier hat die Pandemie zumindest kurzfristig schon ihre Spuren in den Köpfen hinterlassen.”

Also blicken Fans auf die Inzidenzen und warten mit der Entscheidung bis kurz vor dem Konzert – wer möchte sich schon unnötig Gefühlen von Angst und Stress aussetzen? Was aus Perspektive der Fans sinnig erscheint, ist für Veranstalter:innen schwierig bis katastrophal. Einerseits ist spontanes Ausgehen auch ein Verhaltensmuster, das viele Menschen nach zweieinhalb Jahren wieder neu lernen müssen. Vor allem aber fehlt ohne einen ausreichend großen Vorverkauf schlicht das Geld, um die Veranstaltung auf die Beine zu stellen. Venues und Technik müssen gebucht, Transport organisiert und Visa beantragt werden. Und zwar bevor an der Abendkasse das letzte Ticket verkauft wird. Die vage Hoffnung auf Hunderte verkaufte Karten am Veranstaltungstag nützt nichts, wenn im Vorverkauf nur ein Dutzend Tickets über den virtuellen Ladentisch gehen und das unternehmerische Risiko unkalkulierbar wird.

Gute Ticketverkäufe führen hingegen zu einem Anblick, der in den vergangenen zweieinhalb Jahren ungewohnt war: Menschenmassen. Denen gegenüber habe es laut Ronft auch vorher schon eine unterschwellige Grundangst gegeben; die Menschen hätten jedoch gelernt, dass ihnen meist nichts passiere und tragische Ereignisse wie bei der Love Parade 2010 seltene Ausnahmen bleiben. “Und auf einmal hieß es: ‘Geh auf keinen Fall in Menschenmengen, da passiert dir 100 Prozent was!'” Es werde dauern, bis sich diese Botschaft wieder verflüchtigt und der Umgang mit Menschenansammlungen normalisiert. Oder überhaupt erst gelernt wird: Ein gewisser Teil der jungen Fan-Generation kennt Konzerte und Festivals nur im Pandemie-Modus. “Da wird es spannend sein zu sehen, was bei der Konfrontation mit der neuen alten Konzert- und Festivalwelt im Kopf passiert”, so Ronft. „Aber ich denke, wenn Corona & Co. uns verschonen, entspannt sich der Umgang mit Großveranstaltungen wieder.” Auch VISIONS-Leser Daniel Hör musste sich erst wieder neu an Menschenmengen gewöhnen: “Beim ersten größeren Konzert dieses Jahr war es schon ein sehr mulmiges Gefühl, wieder so dicht zu stehen und so vielen Menschen nahe zu sein. Aber nach einer gewissen Zeit geht es wieder, und man kann das Konzert genießen.”

Der Nachwuchs

Auch sonst hat die Pandemie das Publikum von gewissen Grundelementen der Konzert- und Festivalerfahrung entwöhnt. Die Veranstaltungen empfinden manche nun als zu laut, stickig, schwitzig, mit langen Schlangen am Einlass, am Getränkestand und für die Klos, die oft nicht in ausreichender Menge und Sauberkeit existieren. Dann brät man in der Sonne oder friert im Regen, atmet Staub, der Campingplatz liegt direkt an der Autobahn, und etwas Vernünftiges zu essen gibt es auch nicht. Der Festivalgänger links von einem hat seit drei Tagen nicht geduscht, während der rechts nur halberfolgreich versucht, in eine Plastikflasche zu pinkeln, während einen ein geworfener Becher am Hinterkopf trifft – wer mit Konzerten und Festivals sozialisiert ist, kennt diese Szenen. Während sie für viele ein normaler oder sogar geschätzter Teil der Weltflucht Livemusik sind und weitere sie als Notwendigkeit akzeptieren, kamen andere in der Pandemie ins Grübeln: Will ich sowas überhaupt noch? Oder mache ich mit dem Geld lieber einen entspannten Urlaub? Solche Gedanken macht sich in erster Linie das ältere Publikum, das zunehmenden Wert auf Bequemlichkeit, Sitzplätze und eine gute Infrastruktur legt.

“Über unzureichende Toiletten, langsame Theken und überfüllte Venues habe ich mich auch schon vor der Pandemie geärgert”, sagt der 40-jährige VISIONS-Leser Michael Neunherz, die Pandemie habe das allenfalls ver- stärkt. Dass Menschen aus Musikfestivals herauswachsen, ist nichts Neues – dass die Veranstalter:innen sich aber schwertun, den Nachwuchs fürs alternde Publikum zu finden, dagegen schon. “Ich glaube, dass wir zwei Jahrgänge jüngerer Leute erst wieder aktivieren müssen”, sagt Stefan Reichmann vom Haldern Pop. Diese junge Generation stellt bei Großveranstaltungen wie Festivals inzwischen andere Ansprüche. Die reichen von einem großen vegetarischen, wenn nicht veganen Essensangebot bis zu diversen Line-ups und ökologischen Konzepten. “Das Thema Nachhaltigkeit sollte eine der wichtigsten Rollen in der Planung eines Festivals spielen”, sagt Leserin Mira Langer. Auch Vielfalt in Bezug auf Geschlecht und Ethnien sei wichtig. “Wir tragen Verantwortung für unsere Umwelt und Gesellschaft – wenn wir auch in Zukunft weiter auf Festivals und Konzerten feiern wollen, müssen wir da alle drauf achten.”

Rock am Ring - Thomas Rabsch
Oft können aktuell nur die Großen “ausverkauft” vermelden. Hier zu sehen: Rock Am Ring.(Credit: DreamHaus GmbH / Thomas Rabsch)

“Festivals wurden immer stärker von wirtschaftlichen Drittinteressen, fremden Geldern und einer stark verwertenden Industrie unterwandert”, so Reichmann. “Vieles muss neu überdacht werden.” Nur dann könne man auch die Jugend abholen, die bisher auf Festival-Erfahrungen verzichten musste, findet auch Rembert Stiewe vom OBS. “Man merkt Veranstaltungen an, ob sie liebevoll gemacht sind. Es schreiben sich zwar alle Nachhaltigkeit auf die Fahnen, aber Awareness, ökologische Nachhaltigkeit und Inklusion hat man eher auf kleinen Festivals. Von Gendergerechtigkeit will ich gar nicht anfangen.“ Und selbst ein Detail wie die Verpflegung präge die Kultur einer Veranstaltung: “Wenn du nur Bratwurst anbietest, kriegst du auch nur Bratwurst-Publikum.” Wer seine Kundschaft mit mehr als nur der Kernkompetenz “Musik” anlockt, nutzt zudem die Vorteile der zuvor bereits erwähnten “mentalen Konten”: Wer gutes Essen, Erholung, Umweltschutz und gemeinnützige Projekte geboten kommt, kann guten Gewissens mehrere “mentale Geldtöpfe” anzapfen, also etwa gleichzeitig die für “Kultur”, “Ausgehen”, “Spenden” und “Urlaub” – und kauft sich eher ein Ticket. Dass selbst Festivals wie das OBS oder Hal- dern Pop, die sich dabei bereits hervortun, aktuell nicht ausverkauft sind, zeigt ein weiteres Mal, wie vielschichtig das Problem schwächelnder Ticketverkäufe ist.

Zurück zum Idealismus

“Ich unterstütze die Künstler:innen und die Veranstaltungsbranche gerne, vor allem in Anbetracht der Auswirkungen der Pandemie”, erzählt Leserin Mira Langer. So oder so ähnlich sehen es auch andere Teilnehmer:innen unserer Umfrage: Knapp 15 Prozent der Befragten haben zuletzt irgendwann bei Konzertkarten auf eine Rückerstattung verzichtet, um die Bands zu unterstützen. Idealismus aus Liebe zur Musik ist also beim Publikum immer noch vorhanden. Dort könnten Festivalmacher:innen ansetzen: sich auf die Idee vom Erlebnis einer Gemeinschaft zurückbesinnen. “Darum ging es immer, so fängt das doch an”, sinniert Reichmann. “Vielleicht entmaterialisieren wir unsere Festivals, vertrauen mehr den Orten, Künstlern und einem neuen jungen und alten Publikum. Wir sollten wieder zum Erzählen und Zuhören zurückfinden, Begegnung wieder in den Vordergrund stellen.”

Auch aus unternehmerischer Sicht dürfte es sich lohnen, sich als Veranstalter:in von den Standards abzugrenzen und deutlich zu machen, was das eigene Event von der Masse abhebt. Diese Besinnung aufs Besondere dürfte der Grund sein, weshalb etwa das OBS dieses Jahr zwar hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, aber dennoch erfolgreich durchgeführt werden konnte – so wie es bei den meisten großen Events der Fall ist. Massenveranstaltungen haben in der Vergangenheit auch den Aufbau neuer Acts querfinanziert. In einer Situation, wo mehr Events auf weniger Besucher*innen treffen, werden sie nun zur Konkurrenz für kleinere Veranstalter:innen, nehmen ihnen teils die Butter vom Brot. Nicht nur, weil ein Teil des Publikums Konzerte generell meidet und fehlt, sondern auch wegen dessen Zusammensetzung: Am Ende sind es nicht die Hardcore-Fans, Musikfanatiker:innen und VISIONS-Leser:innen, die die Clubs oder Hallen voll machen – dafür sind wir einfach zu wenige. Es ist das breite Massenpublikum, das neben Stadionkonzerten auch mal Konzerte in 300er-Clubs besucht. Setzen diese Leute aus finanziellen oder anderen Gründen ihre Prioritäten bei Mainstream- Veranstaltungen, bleibt es auch bei den Konzerten im Alternative- und Indie-Bereich spürbar leerer.

Problem Infrastruktur

Umfrage 4

Und wie geht es in der nahen Zukunft nun weiter mit dem Live-Betrieb? Stefan Thanscheidt, CEO des Konzertriesen FKP Scorpio, äußert sich im Juni optimistisch: “Vor acht Wochen lag die Zahl der Menschen, die
trotz Ticket nicht gekommen sind, zwischen 20 und 50 Prozent, mittlerweile ist ihr Anteil auf 10 Prozent gesunken. Daraus schließen wir, dass das Vertrauen schnell und stetig wieder steigt.” Nur: Reicht das? Einige Aspekte, wie etwa die Angst vor dem Coronavirus, werden in Zukunft wieder weiter in den Hintergrund rücken. Doch selbst, wenn sich die Nachfrage des Publikums wieder auf dem Niveau vor der Pandemie einpendelt, steht der gesamte Live-Sektor nach wie vor großen Problemen gegenüber. Auch wenn Konzerte und Festivals zukünftig wieder seltener aufgrund von schwachem Vorverkauf abgesagt werden müssen – Absagen wegen Personal- und Technikmangel wird es weiterhin geben. Tourmanager, Tontechniker, Lichttechniker, Mitmusiker, Busfahrer und Co. seien mittlerweile immer schwerer zu bekommen, erzählt Roman Pitone von der Karsten Jahnke Konzertdirektion in Hamburg. Die Nachfrage nach diesen Fachkräften sei einfach viel höher als das Angebot. “Also steigen die Preise. Hinzu kommt, dass Trucks, Busse und Technik in bestimmten Zeiträumen einfach nicht mehr verfügbar sind. Da ist es egal, ob man die lokale Punkband aus Coesfeld ist oder AC/DC.”

“Wir haben ein gigantisches Problem mit der Infrastruktur”, sagt auch Berthold Seliger. “Es gibt in jeder Stadt nur ein begrenztes Angebot an PA- und Lichtsystemen. Das führt schon zu einer gigantischen Kostenerhöhung. Im Durchschnitt sind PAs 30 Prozent teurer geworden, Tourbusse ebenfalls zwischen 20 und 30 Prozent – ohne Spritkosten. Wenn ich ein Konzert mit 1.000 Leuten organisiere, brauche ich 60 Leute, die das organisieren. Viele davon fallen jetzt weg, weil sie als Solo-Selbstständige nicht abgesichert waren. Und die kommen auch nicht zurück. Diese Leute sind aber essenziell für das Überleben der Branche und müssen besser bezahlt und versichert werden. In dieser Branche brauchen wir nicht nur ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch soziale Nachhaltigkeit.”

Wie die zu erreichen ist, muss sich zeigen. Fest steht, dass es bis zur “Konzertnormalität” noch ein längerer Weg ist, den Publikum, Veranstalter:innen, Künstler:innen und sämtliche Kräfte im Hintergrund nur gemeinsam bestreiten können. Die Leidtragenden sind sonst jüngere Bands am Anfang ihrer Karrieren und kleinere Veranstalter:innen. “Alles wie 2019” funktioniert nicht mehr. Aber diese Zäsur durch die Pandemie kann für den Live-Sektor auch zu einer Chance werden, die richtigen Weichen für die Konzert- und Festival- Erfahrung der Zukunft zu stellen.

Umfrage 7

Alle Ergebnisse unserer nicht repräsentative Umfrage findet ihr nochmal auf einen Blick unter diesem Link. Sie wurde unter anderem auch schon in einem Bericht des MDR-Formats Recap aufgegriffen. Das Video seht ihr unten:

Video: Recap – “Deshalb müssen Bands ihre Konzerte absagen”

Post-Hardcore-Supergroup L.S. Dunes streamt erste Single “Permanent Rebellion”, kündigt Debütalbum “Past Lives” an

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Zusammengefunden haben Bassist Tim Payne, Schlagzeuger Tucker Rule (beide Thursday) sowie die Gitarristen Frank Iero (My Chemical Romance) und Travis Stever (Coheed And Cambria) im Nachgang eines weihnachtlichen Livestream-Konzerts, das Thursday 2020 spielten, als Sänger stieß später Anthony Green (Circa Survive) hinzu.

Ihr Debütalbum “Past Lives”, das am 11. November erscheint, haben L.S. Dunes mit dem Lieblingsproduzenten aller Emo- und Post-Hardcore-Bands aufgenommen: Will Yip saß unter anderem bei Citizen, Turnover, Turnstile, Tigers Jaw, Pianos Become The Teeth, La Dispute, Title Fight, Braid, Mewithoutyou, Quicksand, Circa Survive und bei einigen von Greens Soloalben an den Reglern.

Laut Tucker Rule wollen L.S. Dunes, dass man in ihrer Musik die Bands aller Beteiligten heraushören kann, aber “es soll nicht nach einer bestimmten [Band] klingen.” Die eingängige Vorabsingle “Permanent Rebellion” untermauert dieses Statement, wobei Green stellenweise so rau klingt wie bei Saosin.

Auf der L.S.-Dunes-Homepage kann man sich für einen Newsletter eintragen und konnte bis vor Kurzem ein Tape bestellen. Das ist allerdings bereits ausverkauft. Neben der regulären Edition von “Past Lives” gibt es noch mehrere teils streng limitierte Vinyl-Pressungen, manche mit alternativem Coverartwork. Eine kann man im Brooklynvegan-Webshop oder bei Revolver vorbestellen, andere im offiziellen Bandshop, die übrigen bei Bandcamp, Assai Records, Urban Outfitters und The Sound Of Vinyl.

Ihr Livedebüt feiern L.S. Dunes Mitte September beim Chicagoer Riot Fest, wo sie am selben Tag auftreten wie die wiedervereinigten My Chemical Romance, danach starten sie eine Nordamerika-Tour. Von Shows in Europa ist derzeit nichts bekannt.

Video: L.S. Dunes – “Permanent Rebellion”

Stream: L.S. Dunes – “Permanent Rebellion”

Cover und Tracklist: L.S. Dunes – “Past Lives”

LSDunesalbum

01. “2022”
02. “Antibodies”
03. “Grey Veins”
04. “Like Forever”
05. “Blender”
06. “Past Lives”
07. “It Takes Time”
08. “Bombsquad”
09. “Grifter”
10. “Permanent Rebellion”
11. “Sleep Cult”

Alternatives Cover: L.S. Dunes – “Past Lives”

onelsdalbumvinyl

Draußen! Die Alben der Woche

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Platte der Woche: Muff Potter – “Bei aller Liebe”

muffpotter

Eine Albumveröffentlichung stellt immer ein gewisses Risiko dar, das erste Album seit über einem Jahrzehnt zu veröffentlichen erst recht. Doch Muff Potter altern auf “Bei aller Liebe” im besten Sinne: Ihr Sound tritt weiterhin an den richtigen Stellen zu und ist prädestiniert für kleinere und größere Moshpits, hält sich aber zum Großteil merklich zurück und lässt so Raum für Thorsten Nagelschmidts Storytelling, das nicht nur im Spoken-Word-Track “Nottbeck City Limits” von seinen Asuflügen in die Literaturszene profitiert.

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Album-Stream: Muff Potter – “Bei aller Liebe”


Muse – “Will Of The People”

Muse erlauben sich eine Hommage nach der anderen und bedienen sich offen an T. Rex, Marilyn Manson und Queen. Dabei zeigen sie sich mal mit stampfenden Glamrock, mal mit Alt-Metal-Elementen, aber auch mit 80er-Pop-Sound, Synthesizer und Vocoder insgesamt wieder rockiger als auf ihrem Vorgänger “Simulation Theory”.

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Machine Head – “Øf Kingdøm And Crøwn”

Machine Head holen zu einem Comeback aus, ohne wirklich weg gewesen zu sein. Nachdem polarisierenden “Catharsis” bringen Robb Flynn und Gitarrist Wac?aw Kie?tyka die Härte zurück und schaffen mit Neu-Schlagzeuger Matt Laston ein ungeahntes und nicht mehr für möglich gehaltenes Feuerwerk mit wuchtigen Riffs.

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Pianos Become The Teeth – “Drift”

Mit schwermütigem und monotonem Sound und gespickt mit aggressiveren Momenten haben sich Pianos Become The Teeth wieder dem Emo-Indie verschrieben. Damit entfernen sie sich weiterhin vom früheren Post-Hardcore und knüpfen an die beiden Vorgängeralben “Keep You” und “Wait For Love” an.

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Long Distance Calling – “Eraser”

Auf “Eraser” beschäftigen sich Long Distance Calling mit der Natur: Es geht um Artensterben und Umweltverschmutzung. Das funktioniert für eine Instrumental-Band zwar hauptsächlich über das begleitende Artwork – trotzdem verstehen es die Münsteraner mit ihrem achten Studioalbum organisch und emotional zu klingen.

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The Hirsch Effekt – “Solitaer/Gregær”

Auf ihrer neuen EP “Solitaer” versuchen The Hirsch Effekt ein neues Songwriting-Konzept: Jedes Bandmitglied ist verantwortlich für einen eigenen Song. Erscheinen wird das Werk der Prog-Metal-Band auf CD zusammen mit den Orchester-Arrangements der Vorgänger-EP “Gregaer”.

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Blackberries – “Vorwärts Rückwärts”

Mit ausufernden Instrumentalparts zeigen Blackberries ihren Hang zu Experimentierfreudigkeit. Ihr Mix aus Psychedelic, Kraut, Indie und auch Pop verliert sich dabei jedoch nie in der Improvisation und kommt immer wieder zurück auf vorangegangene Melodien oder Refrains.

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Tom Allan & The Strangest – “Taats”

Britpop mit Referenzen an Oasis oder The Libertines treffen auf dem dritten Studioalbum von Tom Allan & The Strangest auf zeitgenössichen Indie und hämmernden Post-Punk. Dabei lässt dich das multinationale Trio von der gesamten britischen Musikhistorie inspirieren.


Spotify-Playlist: Draußen! Die Alben der Woche


Fidlar zeigen Video zu neuem Song “FSU”, stellen EP in Aussicht

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Frontmann Zac Carper lässt sich mit schwarzem Blut übergießen, Bassist Brandon Schwartzel kaut rohes Steak, Lines werden gezogen, Tattoos gestochen – das neue Video – wie immer gedreht von Freund Ryan Baxley – hat es wie der verroht klingende Garage-Punk von Fidlar in sich. Die sonst auch mal zu Melodie neigenden Punks präsentieren mit “FSU” (steht für “Fuck Shit Up”) nämlich einen ihrer schwersten Songs bislang.

In nur zwei Minuten gibt es heftig stampfende Beats, übersteuernde Noise-Gitarren und Carpers gebellte Zeilen wie “I dont need no drugs yea/ Im still fucked up ahhh” oder “I dont drink too much yea/ I drink enough”, die an die Hardcore-Ausflüge der Beastie Boys erinnern. Am Ende heißt es nur noch “Fuck it dog life’s a risk” – das Motto und gleichzeitig Akronym von Fidlar. Passend dazu sagte die Band: “Die neuen Fidlar lehnen sich an Extreme an. Laut, lauter, laut. Drei Akkorde und die Wahrheit. Einprägsam und unausstehlich. Die Texte sind sehr nachdenklich. Es spricht zu den ‘Fidiots’ [ihrem inoffiziellen Fanclub] der Welt.” Der Song wurde produziert von Dave Sardy, der unter anderem schon mit Helmet, Wolfmother, LCD Soundsystem und den Gorillaz zusammengearbeitet hat.

Der neue Track ist das erste neue Material der Kalifornier seit dem drittem Album “Almost Free” von 2019. Nach Release und der begleitenden US-Tour wurde es ziemlich ruhig um das Quartett aus L.A.. Wie die Band nun bekanntgab hat in dieser Zeit auch Gitarrist Elvis Kuehn, Bruder von Drummer Max Kuehn und Sohn von T.S.O.L.-Keyboarder Greg Kuehn, die Band verlassen, wonach Fidlar fortan als Trio agieren werden. “Elvis hat beschlossen, sich anderen Dingen außerhalb der Band zu widmen. Er wird immer unser Bruder sein und wir wünschen ihm nur das Beste”, schrieben Fidlar kurz vor Release von “FSU” über die sozialen Medien.

“FSU” ist wahrscheinlich kein Vorbote auf ein neues Album, sondern soll Teil einer neuen EP sein, welche erst 2023 erscheinen soll. Über welches Label diese dann veröffentlicht wird, wurde auch noch nicht bekannt gegeben. Bei US-Label Mom + Pop, auf dem bisher alle drei Studioalben erschienen sind, werden Fidlar jedenfalls mit altem Bandfoto als “Alumni” – also Ehemalige – gelistet. Eine neue US-Tour ist außerdem geplant, EU-Daten stehen noch aus.

Video: Fidlar – “FSU”

Dredg – “El Cielo”: Dalí in der Traumfabrik

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Seit elf Jahren wartet die Artrock-Welt auf ein neues Dredg-Album. Lässt man das bis dato letzte, aufgrund überbordender Pop-Kapriolen auf wenig Gegenliebe stoßende “Chuckles And Mr. Squeezy” beiseite, dann sind es gar dreizehn. Ein Zeitraum also, der selbst im Progressive-Milieu lange anmutet und nur noch eine Armlänge von Tool entfernt ist. Seit 2018 kündigen Dredg aus San José zwar immer wieder vage ein mögliches Album an. Handfestes, über Social-Media-Posts und Bekundungen hinaus, bleibt bisher jedoch Fehlanzeige.

Zeitreise

Per Videotelefonat gesteht Schlagzeuger Dino Campanella nun, dass die Chancen auf ein baldiges Album sehr gut stünden. Das hängt auch unmittelbar mit dem bevorstehenden Jubiläum von “El Cielo” zusammen. Es ist das Album, das in der Rückschau auch bandintern am höchsten gehandelt wird. Die Pläne, die Dredg zum Jubiläum der Platte verfolgen, unterstreichen das eindrücklich. Campanella spricht ausschweifend von einem Boxset namens “The Dredg Vault”, das in wenigen Wochen erscheinen soll. Er versucht sich meist erfolglos zu bremsen, um nicht alles vorwegzunehmen. So viel darf aber bereits verraten werden: Es handelt sich um ein karriereumspannendes Gesamtpaket, das deshalb möglich ist, weil die Band seit ihren Highschool-Tagen alles akribisch aufbewahrt. “Jedes Bild, jedes Poster, jede Review von unseren ersten Shows ist erhalten”, sagt Campanella. “Wir haben kartonweise Sammelalben, auf die wir zugreifen können.” Als Teil der Veröffentlichung ist eine DVD geplant, die die Entstehung von “El Cielo” zeigt. In einem ersten Teaser zur Dokumentation sind in grobkörnigen, kunstvoll arrangierten Aufnahmen Eindrücke aus Palm Desert zu sehen, wo sich die Band damals für den Schreibprozess von “El Cielo” aufhält. Das Gros der über einstündigen Doku besteht aus Filmmaterial, das Bassist Drew Roulette gedreht hat. Er ist der Archivar und Art-Director einer Band, die sich mit diesem Vorhaben auf Zeitreise begibt.

“Durch das ganze Archivmaterial zu gehen, war eine wundervolle Erfahrung für uns als Gruppe”, sagt Campanella. “Wie ambitioniert wir für unser junges Alter damals waren, beindruckt mich heute selbst. Bei uns entstand der Eindruck, dass es einen Grund dafür gab, warum wir uns trafen, Freunde wurden und anfingen, Musik zu machen. Wir haben hier auf unsere früheren Selbst geschaut auf der Suche nach Inspiration für unsere jetzigen Selbst.” Ein solcher Satz dürfte bei vielen die Herzen höherschlagen lassen, die mit den vergangenen beiden Alben nicht so richtig warm wurden. Es ist nicht nur nett vom Schlagzeuger dahergesagt, denn Dredg stoßen für die Arbeit rund um die “El Cielo”-Doku auf musikalisch Verwertbares, das zu jener Zeit nicht ausformuliert wurde. Ein Beat, eine Gitarrenlinie, eine Melodie, an die sich die vier heute erst durch das Sichten der Archive wieder erinnern. Campanella hat aus diesen Videoaufnahmen die Tonspuren extrahiert und die Schnipsel in Pro Tools geordnet. “Wir machen uns da gerade eine Klangbibliothek zunutze, aus der wir eine Menge Material geschaffen haben. Ich habe nie zuvor erlebt, dass so viele neue Ideen so mühelos entstehen.” Alles zu ordnen, dauere noch mindestens bis Ende des Jahres, aber in etwa einem Jahr könnte dann ein neues Album erscheinen – mit Songs deren Ursprünge in die Zeit rund um “El Cielo” reichen.

Wie verlässlich diese Aussage ist, bleibt abzuwarten. Als wir vor vier Jahren mit Gitarrist Mark Engles über das Dredg-Debüt “Leitmotif” sprechen, das damals seinerseits 20-Jähriges feiert, schürt der bereits ähnliche Hoffnungen. Dass in den vergangenen vier Jahren vergleichbar viel passiert ist, wie zu jener Zeit zwischen dem Debüt und “El Cielo”, darf angezweifelt werden. Als gesichert gilt hingegen der enorme Reifeprozess, den die Band um die Jahrtausendwende macht, indem sie von einem äußerst beachtlichen, noch vom Post-Hardcore beeinflussten Debüt kommend bei einem formvollendeten, konzeptionellen Artrock-Meisterwerk landen soll.

Coachella Ecstasy

Sänger Gavin Hayes, Engles, Roulette und Campanella sind damals Anfang 20 und gehen aufs College. Kopien von “Leitmotif” verteilen sie mit Aufklebern versehen, auf denen die E-Mail-Adresse und Telefonnummer der Band stehen, bei regionalen Shows in der Bay Area. Sie knüpfen erste Kontakte in Sacramento, wo zu dieser Zeit Bands wie die Deftones, Primus, Far und Cake pulsieren. Für ideologische Vorbilder schauen sie trotzdem über den Atlantik, vor allem nach England. “Wir wurden regelrecht besessen von Radiohead“, so Campanella. “Sie hatten einen unglaublichen Einfluss auf uns hinsichtlich ihres Produktionsansatzes, ihrer Risikobereitschaft, ihrer Haltung gegenüber der Presse. Sie wollten, so wie wir, keine Fotoshootings machen.” Es ist das Gegenteil dessen, was zu dieser Zeit als breitbeiniger Rocktypus bei MTV ausgestrahlt wird und der kommerziellen Hochphase der Musikindustrie den Peak beschert, bevor Napster ihr den Stecker zieht. Bei Dredg hinterlässt das alles einen faden Eindruck. “Es wirkte falsch auf uns, so zu tun, als müsste man eine Crowd rocken. Wir wollten uns nicht auf den Look, die Bewegungen auf der Bühne oder Publikumsanimationen konzentrieren. Wir wollten uns nur auf die Musik fokussieren”, sagt der Schlagzeuger, der sich gleichermaßen für die Samplings von DJ Shadow begeistert als auch für Bands wie Mogwai und Sigur Rós. Letztere sollen speziell bei ihm nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

“Diesen Song gäbe es nicht ohne Sigur Rós auf Ecstasy.”

Dino Campanella

Zu jener Zeit wird das Coachella Festival aus der Taufe gehoben. Auf die ersten drei Ausgaben gehen Dredg gemeinsam. 1999 gerät die Erstauflage mit gerade mal 25.000 Besuchern noch zu einem wirtschaftlichen Flop. Den Besuchern vor Ort, die sich das Line-up nur mit knapp der Hälfte der eigentlich angedachten Zuschauermenge teilen müssen, kommt das zugute. Dredg sind begeistert von der inspirierenden Ästhetik des Coachella-Tals. Das spirituelle Gefühl der Wüstenluft, ob nun eingebildet oder nicht, beflügelt ihren eigenen kreativen Prozess und stärkt das musikalische Band des Quartetts. Sie beschließen, unweit in ein Mietshaus in der Gegend von Palm Springs zu ziehen, um am Nachfolger zu “Leitmotif” zu schreiben. Dabei schleppen sie jedes Instrument herbei, zu dem sie Zugang bekommen, manch eines sammeln sie gar unterwegs auf, wie etwa eine Trompete, die Hayes in einem Möbelgeschäft im örtlichen Einkaufszentrum besorgt. Auch ein Piano steht im Haus zur Verfügung, an dem Campanella später “Brushstroke: Walk In The Park” schreibt – eines von fünf Interludes auf “El Cielo”.

Während die vier in Palm Springs am Album arbeiten, besuchen sie 2001 erneut das Coachella Festival und staunen dort über Sigur Rós auf ihrer ersten US-Tour mit “Ágætis Byrjun”. “Sie spielten in einem kleinen Zelt. Da waren maximal 300 Leute vor der Bühne”, erinnert sich Campanella. “Ich hatte MDMA genommen, eines der wenigen Male in meinem Leben. Und was soll ich sagen: Die Show wurde zu einer der besten Live-Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Das hat meine musikalischen Neuronen verändert. Am nächsten Tag habe ich mich ans Schlagzeug gesetzt und den Beat von ‘Triangle’ gefunden. Diesen Song gäbe es nicht ohne Sigur Rós auf Ecstasy.” Die Show zeigt Campanella, was abseits des typischen Rock-Schlagzeuges noch möglich ist. Er formt für “Triangle” einen luftigen, jazzigen Groove mit akzentuierten Tom-Schlägen, die ihre eigene Melodie entwickeln. Dieses Festivalerlebnis ist die letzte Initialzündung, die es braucht. Danach nehmen Dredg ihre eigene Musik ein gutes Stück ernster, definieren sich selbst als echte Künstler und unterstreichen diese Erkenntnis durch das feinsäuberliche Konzept, das sich für die neue Platte entfaltet.

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The canyon behind them: Dredg (Foto: Universal Music)

Schlafparalyse

Während des Schreibprozesses macht Sänger Gavin Hayes die Erfahrung einer Schlafparalyse. Die Skelettmuskulatur ist im Schlaf zum Schutz des Körpers gelähmt, um geträumte Bewegungen nicht tatsächlich auszuführen. In der Regel endet die Lähmung, die auch als Schlafstarre bezeichnet wird, unmittelbar mit dem Aufwachen. Vereinzelt wird sie aber, wie in Hayes Fall, kurz vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen bewusst wahrgenommen. Von den Erfahrungen des Sängers ausgehend landet die kunstbegeisterte Band kurzerhand bei Salvador Dalís Gemälde “Dream Caused By The Flight Of A Bee Around A Pomegranate A Second Before Awakening”. Dalís Frau litt angeblich schwer an Schlafparalyse, was unmittelbaren Einfluss auf die Kunst des Malers hatte. Der Surrealismus Dalís wird zur Vorlage einer Traumfabrik, aus der Dredg heraus ihre atmosphärischen Rocksongs schreiben.

Auf “El Cielo” finden sich unzählige Verweise auf Dalis Gemälde von 1944. So formen die Anfangsbuchtstaben des englischen Originaltitels den Songtitel des Album-Openers: “Brushstroke: Dcbtfoabaaposba”. Der langbeinige Elefant im Hintergrund des Gemäldes taucht in “Brushstroke: An Elephant In The Delta Waves” wieder auf. Die nackte Frau im Zentrum ist Thema in “The Canyon Behind Her”. In diesem Stück sagt eine Frauenstimme zu Beginn des Songs auf Japanisch dann explizit: “Dieses Album wurde inspiriert von einem Gemälde mit dem Namen: ‘Ein Traum, verursacht durch den Flug einer Biene rund um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Erwachen.'” Im Booklet zum Album sind wiederum Briefe von Menschen mit Schlafstörungen abgedruckt, aus denen Hayes seine Lyrik destilliert. “Does anybody feel this way/ Does anybody feel like I do?”, singt er im letzten Stück “The Canyon Behind Her” mit einer Erhabenheit und stimmlichen Klasse, die sich in den Schreien auf “Leitmotif” nur schwer erahnen lässt. Der Sänger vollzieht eine große Wandlung und schöpft auf “El Cielo” erstmals sein gesangliches Potenzial voll aus, mit Melodien, die unter die Haut fahren.

Um die Vorstellungen eines solch ambitionierten Konzeptalbums umzusetzen, unterschreiben Dredg 2001 bei Interscope. Labelgründer Jimmy Iovine ist der Band wohlgesonnen und bringt zunächst das in Eigenregie veröffentlichte Debüt neu heraus. Er gewährt der Band die für den Nachfolger nötigen Freiheiten, auch wenn dafür bei einigen Label-Mitarbeitern Überzeugungsarbeit nötig ist. “Ich erinnere mich daran, wie wir zu Interscope sagten: Wir möchten keine Single, die es ins Radio schafft. Wir wollen überhaupt nicht im Radio stattfinden”, sagt Campanella. “Die haben uns angeschaut mit Blicken, die sagten ‘Wollt ihr uns verarschen? Wer zum Teufel hat die Band an Land gezogen?'” Die finanziellen Möglichkeiten beim Majorlabel ermöglichen es der Band, ein Streicherquartett nach Boston einzufliegen und den Los Angeles Männerchor zu buchen, der das Ende von “The Canyon Behind Her” einsingt. Nachdem der Schreibprozess fünf anstatt der geplanten zwei Monate in Anspruch nimmt, beginnen im Januar 2022 unter der Leitung von Produzent Ron St. Germain die Aufnahmen. Doch weder Band noch Label sind mit allem glücklich, was dabei herauskommt. Nachdem bereits alles im Kasten ist, nimmt Campanella das Schlagzeug in den Cello Studios mit Jim Scott, einer von Rick Rubins Tontechnikern, nochmal neu auf. Gitarrist Mark Engles tut es ihm gleich. Tim Palmer wiederum, der eigentlich für den Mix angeheuert wird, nimmt am Ende das große Finale “The Canyon Behind Her” auf. “Das ist einer der entscheidenden Songs unserer Karriere. Stell dir nur mal vor, er hätte gefehlt”, sagt Campanella. “Tim hat der Platte die Dynamik gegeben, die sie auszeichnet. Er spielt eine große Rolle für dieses Album.”

Dredg greifen auf insgesamt vier Produzenten zurück und ziehen von der Skywalker Ranch bei San Francisco in die Longview Farm Studios in Boston und schließlich in die Cello Studios in Los Angeles. Das Budget von Interscope macht es möglich. Die Platte erscheint im Oktober 2002. Für die November-Ausgabe platziert VISIONS Dredg nicht nur zur Überraschung der Bandmitglieder auf dem Cover, um entsprechend dazu beizutragen, dass dieses Meisterwerk gehört wird. Oder wie es Dino Campanella ausdrückt: “Es ist sehr spannend, mit etwas aufzutauchen, das sich originell und einzigartig anfühlt, im Gegensatz zu etwas, das es schon gibt. Man fühlt sich beim Schreiben naturgemäß wohler mit Dingen, die es so ähnlich schon gibt. Neuem fehlt das Sicherheitsnetz aus etablierten Referenzen. Ob das wirklich gut war, was wir da machten, wussten wir deshalb nicht. Uns war nur bewusst, dass es sich authentisch anfühlt. Heute kann ich sagen, dass wir nicht eine einzige Sache an El Cielo bereuen.”

Sport ist Metal

Katharina, Andi, ihr wart gerade in Wacken. Teil des Rahmenprogramms dort ist auch Metal-Yoga. Wie war euer Eindruck davon?
Andi Rohde: Wir waren davor skeptisch, weil es Konzepte gibt, die sich nicht mit Metal vermischen lassen. Metal und Meditation – das passt nicht, aber das Meditative gehört nun mal zum Yoga. Die Yogalehrerin in Wacken hat es dann sehr energetisch gemacht. Das war viel Entertainment, aber dafür war es cool.

Wie passen für euch Metal und Sport generell zusammen? Helden der Szene wie Lemmy oder Ozzy hatten mit Sport so lange nichts am Hut, bis er an der Bar stattfand.
Katharina Hartwig: Für mich passt es sehr gut zusammen. Metal ist vielleicht die mitreißendste Musik, die man hören kann. Man kann sich von Metal sehr gut antreiben lassen, im Fitnessstudio oder zu Hause beim Workout. Antreibende Musik finde ich grundsätzlich fürs Training besser als Musik, wie man sie auch im Café hören könnte. Ich glaube sogar, die in Fitnessstudios übliche Musik passt nicht nur für Metalheads nicht, sondern ist auch für viele andere Musikfans nichts. Metal steht für ein realistischeres Körperbild, als es in anderen Subkulturen der Fall ist, etwa im HipHop.

Habt ihr keine Angst, mit eurem Angebot zu einer Art Uniformierung der Szene beizutragen?
Rohde: Uns ist definitiv daran gelegen, ein realistisches Körperbild zu vermitteln. Und ich glaube, dass wir durch unsere Expertise genau wissen, was das ist. Manche Influencer, die wirklich fit sind, photoshoppen sich auch noch und behaupten dann, dass man genau das Gleiche erreichen könne. Uns geht es nicht darum, Metal ein anderes Image überzustülpen, sondern Fitness und Gesundheit so aufzubereiten, dass Metal-Fans sich ernstgenommen fühlen.
Hartwig: Das Ziel ist nicht, soundsoviel Prozent Muskelmasse aufzubauen oder ein Sixpack. Sondern: Sei so fit, dass du gesund bist.
Rohde: Von Programmen, die in 30 Tagen einen Sixpack versprechen, wollen wir uns eh abgrenzen. Bei uns wird es kein Clickbait geben – und nichts anderes sind solche Angebote. Wir wollen zeigen, dass Sport einen weiterbringen kann und eben auch, wie das geht.

War von Anfang an klar, dass ihr für euer Angebot auf Videos setzen werdet?
Rohde: Videos eignen sich hervorragend dafür, Leute anzusprechen, die vielleicht einen Arschtritt brauchen. Solche Leute sind oft dankbar, wenn sie nur auf Youtube klicken müssen und keine Mitgliedschaft im Fitnessstudio brauchen, wo sie nur die ganzen anderen, schon fitten Leute sehen. Das schreckt nur ab.
Hartwig: Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, typische Fehler, die man beim Trainieren ohne Trainer machen kann, direkt zu unterbinden. Wir wissen aus eigener Erfahrung mit Trainingsvideos um die möglichen Fallstricke und geben gezielt Hinweise, worauf die Leute achten sollen. Eine persönliche Betreuung kann ein Video aber nie ersetzen. Nicht jeder verfügt über eine so gute Körperwahrnehmung, dass er sofort versteht, was er da gerade macht und ob das mit dem übereinstimmt, was auf dem Bildschirm zu sehen ist.

Gibt es bestimmte Metal-Subgenres, die sich besonders gut zum Trainieren eignen?
Rohde: Es geht nicht darum, dass man pro Beat eine Bewegung ausführt. Wir bieten hauptsächlich Krafttraining an und kein Cardio. Wie schnell willst du denn Liegestütze machen? Ein Zyklus dauert bei dieser Übung circa zwei Sekunden, das sind 30 bpm. So langsam sind vielleicht die langsamsten Doom-Metal-Songs. Deshalb suchen wir nach Musik, die ein bestimmtes Energielevel hat. Death Metal funktioniert auf der Ebene sehr gut, aber auch Groove-Metal wie Pantera oder Black Label Society. Natürlich spielt auch unser eigener Geschmack eine Rolle. Bei Bands wie Machine Head kennen wir die Songs und wissen, welche sich für unsere Zwecke eignen.
Hartwig: Wir haben bei den Videos lange an der Zusammenstellung der Songs getüftelt. Manchmal merkt man erst, wenn man die Übungen selbst macht, ob ein Song passt oder nicht.
Rohde: Unser längstes Workout dauert im Moment 30 Minuten. Die haben wir musikalisch unterteilt. Der erste Teil ist geradlinig, in der Mitte gibt es eher so Sachen wie Tenacious D, die helfen, durchzuhalten und die gute Laune zu behalten. Fürs Ende, wenn man kämpfen muss, haben wir die richtig düsteren Sachen genommen. Es geht wie bei einer Setlist um den richtigen Flow.

Andi, du bist hauptberuflich Schlagzeuger: Kann Sport helfen, ein Instrument besser zu beherrschen, weil man dadurch die Körperwahrnehmung trainiert und so bestimmte Abläufe vielleicht schneller lernt?
Rohde: Das Körpergefühl wird auf jeden Fall besser, wenn man verschiedene Sportarten ausprobiert. Zudem ist als Schlagzeuger etwa ein trainierter Rücken von Vorteil, um auch eine lange Probe durchzuhalten, ohne Rückenschmerzen zu bekommen. Und Fitness hilft, die Anforderungen auf einer Tour puffern zu können. Bei meiner letzten Band sind wir ohne Loading Crew getourt. Wir haben also selbst unsere zwei Tonnen Equipment entladen. Das geht für einen Abend, aber mach das mal sieben Tage die Woche. Vor allem, wenn man zwischen Aus- und Einladen noch eine Zwei-Stunden-Show spielt. Aber letztlich ist der Schlüssel das Üben – kein Fitnessprogramm macht dich als Musiker besser.

Newsflash (Mastodon, Gogol Bordello, My Chemical Romance u.a.)

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+++ Mastodon haben eine Dokumentation rund um die Entstehung ihrer aktuellen Platte “Hushed And Grim” veröffentlicht. In der 90-minütigen Doku geben die Bandmitglieder und weitere beteiligte Personen in Interviews Einblicke in den Entstehung des im Oktober 2021 erschienenen Albums. “Hushed And Grim” sowie der Film sind dem Manager und Freund der Band Nick John gewidmet, der 2018 an Krebs verstorben war. Im Juli hatte die Prog-Metal-Band ein Musikvideo zu dem ebenfalls auf der aktuellen Platte enthaltenen “More Than I Could Chew” veröffentlicht.

Video: Mastodon – “The Making Of ‘Hushed And Grim'”

+++ Die New Yorker Folk-Punk-Band Gogol Bordello hat einen Auftritt für ukrainische Soldat:innen gespielt. An einem geheimen Ort versammelte sich die Band rund um den ukrainischen Frontmann Eugene Hütz und bekam dabei auch musikalische Unterstützung von Soldat:innen. Zusammen mit einem Video veröffentlichte Vice auch ein Statement von Hütz: “Die Menschen in der Ukraine hören viel über die weltweite Solidarität, aber wenn sie sehen, dass jemand tatsächlich zu ihnen kommt, dann glauben sie das auch. Eine solche Bemühung verändert die Dinge merklich.” Gogol Bordello werden am 16. September ihre Platte “Solidaritine” veröffentlichen, die maßgeblich von dem Krieg und der Pandemie beeinflusst ist. Die Single “Focus Coin” war bereits im Juli erschienen.

Tweet: Vice über den Auftritt von Gogol Bordello

+++ My Chemical Romance haben eine weitere Live-Rarität gespielt. Beim Konzert in Nashville war nun “The World Is Ugly” Teil der Setlist. Den Song hatte die Band zuletzt 2008 live gespielt bevor er erst auf der 2013er-Compilation “Conventional Weapons” erschienen ist. Beim Konzert in Nashville war Frontmann Gerard Way zudem als Cheerleaderin angezogen. Zuvor hatten My Chemical Romance bei ihrer Show in Oklahoma mit “Bury Me In Black” und “This Is The Best Day Ever” weitere Raritäten gespielt. Die Band hatte im November 2019 ihre Reunion bekanntgegeben.

Video: My Chemical Romance – “The World Is Ugly”

+++ Am 28. September wird eine Dokumentation über Ronnie James Dio mit dem Titel “DIO: Dreamers Never Die” erscheinen. Ein nun veröffentlichter Trailer zeigt, dass sich daran auch die britische Sängerin Lita Ford, der Radiomoderator Eddie Trunk sowie Jack Black beteiligen. Die von Dios Frau und langjähriger Managerin Wendy Dio produzierte Dokumentation soll die gesamte Karriere des Sängers beleuchten. Weitere Kolleg:innen sollen ebenfalls zu Wort kommen, darunter Geezer Butler, Tony Iommi, Glenn Hughes und Vinny Appice. Tickets für die weltweiten Kinopremieren können unter anderem auf der Webseite des Films erworben werden.

Video: Trailer zu “DIO: Dreamers Never Die”

+++ Maynard James Keenan war im Interview-Format von Musiker und Youtuber Rick Beato zu Gast. In einem ausführlichen Gespräch äußert sich Keenan darin unter anderem über seine Ernährung vor Auftritten bis hin zur eigenen Weinherstellung. Der Tool– und A Perfect Cirlce-Frontmann verriet aber auch die Inspirationsquelle zu einigen seiner Songs. So sprach Beato ihn auf die Songs “Weak And Powerless” und “The Noose” vom A-Perfect-Circle-Album “Thirteenth Step” an, worauf Keenan zugab, einige diese Ideen von den Nine Inch Nails “übernommen” zu haben: “[…] Das ist wiederum Diebstahl – Profis stehlen, richtig? Und wenn man sich die Arbeit von Leuten wie PJ Harvey, Trent [Reznor] auf “The Fragile” ansieht – er klaut überall auf dem Album, aber ich klaue von seinem Diebesgut […] Ich gehe also zurück zu meinen ursprünglichen Einflüssen, den frühen Alben “Holy Money” und “Greed” von The Swans, einfach die riesigen Soundräume, die in diesen Alben steckt. Einfache Rhythmen, einfach urwüchsig in ihrem Ansatz.” Keenan sprach zudem auch kommende Projekte mit seiner Band Puscifer: “”Während COVID haben wir vier Pay-per-Views-Konzerte gedreht, von denen zwei im Herbst erscheinen werden […] Wir haben einen ganzen Konzertfilm/Studio-Dokumentation aufgenommen.” Die beiden Aufnahmen sollen noch im Herbst diesen Jahres erscheinen.

Video: Maynard James Keenan im Interview mit Rick Beato

+++ Limp Bizkits Fred Durst, Snail Mail und Phoebe Bridgers sind Teil des Casts des kommenden Horror-Films “I Saw The TV Glow”. In dem Film von Produzentin Jane Schoenbrun (“We’re All Going To The World’s Fair”) soll es um zwei Teenager gehen, die von einer gruseligen Fernsehserie besessen sind und anfangen den Unterschied zwischen Fiktion und Realität zu hinterfragen. Bridgers wird dabei als Teil der Band Sloppy Jane auftauchen, über die Rollen von Snail Mail alias Lindsey Jordan und Durst ist noch nichts bekannt. Auch die Band King Woman soll im Film eine Rolle spielen. Ein Erscheinungdatum für “I Saw The TV Glow” gibt es bisher noch nicht.

Instagram-Post: Snail Mail über ihre Rolle in “I Saw The TV Glow”

+++ Pinkshift haben ein Video zu ihrer Single “Get Out” veröffentlicht. Der Song ist Teil ihres kommenden Albums “Love Me Forever”, das am 21. Oktober erscheint. Im animierten Clip sind die Figuren der Bandmitglieder zunächst an einer Bahnhaltestelle zu sehen, bevor einige bizarr wirkende Bilder unter anderem mit einer Darstellung der römischen Göttin Justitia folgen. Pinkshift hatten 2021 ihre erste EP “Saccharine” veröffentlicht und waren bereits Teil unserer Newcomer-Rubrik.

Video: Pinkshift – “Get Out”

Stream: Pinkshift – “Get Out”

+++ Die Noise-Punks Daufødt streamen ihre neue Single “Dødsangst”. Dieser harte einminütige Track erschien zusammen mit den zwei lediglich ein paar Sekunden langen Titeln “Dagsverk” und “Verkdags”, die einen Rahmen aus Noise-Geräuschen und Screams bilden. Alle drei sind Teil des kommenden Albums “Aromaterapi”, das am 23. September via Fysisk Format erscheint und auf der Label-Webseite vorbestellt werden kann. Die Vorgängerplatte “1000 Islands” war im September 2020 erschienen.

Video: Daufødt – “Dødsangst”

Stream: Daufødt – “Dagsverk”, “Dødsangst” und “Verkdags”

+++ Linn Koch-Emmery hat weitere Tourdaten bestätigt. Nachdem die schwedische Indie-Newcomerin im Sommer bereits mit ihren Landsleuten Johnossi auf Tour war, stehen nun weitere Solokonzerte an. Dabei wird es vor allem Songs aus ihrem im Mai 2021 erschienenen Debütalbum “Being The Girl” zu hören geben. Tickets gibt es bei den jeweiligen örtlichen Verannstalter:innen und Locations oder bei Eventim.

Live: Linn Koch-Emmery (2022)

08.09. Schleswig – Norden Festival
10.09. Hamburg – Molotow Skybar
11.09. Rietberg – Sommer am See
12.09. Münster – Cafe Sputnik
13.09. Leipzig – Neues Schauspiel
14.09. Nürnberg – MUZ Club

+++ Etwas Eigenleben hat so eine Schallplatte ja irgendwie immer. Der Elektro-Künstler Mikael Hwang alias Psients hat das sehr genau genommen und die erste lebende Platte entworfen. Dafür verarbeitete er lebende Hefezellen, deren Schwingungen aufgezeichnet und als Audio übertragen werden können. Hwang verbindet mit dem Projekt Biologie, Sound und Musik und möchte wissenschaftliche Forschung an “lebenden Instrumenten” weiter vorantreiben. Momentan arbeitet er etwa daran, Organismen aufzunehmen, zu sampeln und in elektronische Musik zu verwandeln. Mal schauen, welche Ideen Hwang noch umsetzen wird, um seine wichtigste Theorie zu untermauern: “Die Zukunft der Musik ist biologisch”.

Instagram-Post: Psients über sein Projekt


VISIONS Premiere: Grin veröffentlichen Video zu neuer Single “Arcane”

“Nichts hat sich geändert und dennoch ist alles anders”, verspricht das Heavy-Psych-Duo und Ehepaar aus Berlin. Sabine und Jan Oberg, die auch bei Earth Ship und Slowshine aktiv sind, möchten mit ihrem kommenden dritten Album ihren Doom-Sound vertiefen. “Phantom Knocks” erscheint am 14. Oktober über The Lasting Dose. Darauf möchten Grin mit acht schamanischen Songs ihre Hörer:innen in weite Sphären und Trance-Zustände entführen.

“Arcane” etwa beschwört eine dystopische und außerirdische Landschaft mit malmenden, tonnenschweren Gitarren, die den Song anleiten – unterstützt durch den entrückten Gesang von Schlagzeuger Jan Oberg. Starke Farbkontraste im korrespondierenden Video begleiten den Track und stellen die beiden Protagonist:innen zum einen in Raumfahrtanzügen, zum anderen gekleidet in nahöstliche Gewänder in den Mittelpunkt. Damit wird auch eine Geschichte von unterschiedlichen Kulturen erzählt. Immer wieder eingeblendete Spiegelungen von Natur und Menschen deuten eine Art Rausch oder Trance an – ähnlich einer Fatamorgana.

Der Sound, geprägt von seinen Psych-, Grunge-, und Sludge-Elementen, reiht sich zwischen Om und Electric Wizard ein. Dennoch weht ein gefühlter neuer Wind durch ihre Interpretation des Doom-Genres. Nach “Revenant” (2018) und “Translucent Baldes” (2020) soll das dritte Album nun neue Standards setzen.

Produziert und eingespielt wurde die Platte in den Hidden Planet Studios in Berlin. Grin sichteten und masterten die Platte selbst. Das Artwork entstammt der Feder von Manuell Lambertz.

Auf Bandcamp kann man das neue Album bereits vorbestellen und somit exklusive Streams zum Album hören.

Video: Grin – “Arcane”

Cover & Tracklist: Grin – “Phantom Knocks”

01. “Transcendence”
02. “Shiver”
03. “Aporia”
04. “Arcane”
05. “Apex”
06. “Rivulets”
07. “Servants”
08. “Spectral”

Dead Cross veröffentlichen neue Single “Heart Reformer” mit blutigem Video

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Den darauf zu erwartetenden Mix aus Hardcore, Grindcore und Thrash jagen Mike Patton (u.a. Faith No More), Schlagzeuger Dave Lombardo (u.a. Ex-Slayer), Bassist Justin Pearson (u.a. The Locust) und Gitarrist Michael Crain (u.a. Retox) sogar mit noch mehr Vollgas durch den Fleischwolf als auf ihrer ersten Singleauskopplung “Reign Of Error”, die sich an den Supreme Court richtete.

Vor allem Lombardos wuchtiges High-Speed-Schlagzeug gibt dieses Mal den Ton an, während sich immer wieder Crains zerfledderte Riffs und Pattons Gefauche durch den gut vierminütigen Song winden. Gegen Ende des Tracks beginnt dieser dann noch zu mäandern, offenbart sogar eine überraschende Komplexität hinter dem rasanten Geknüppel zu Beginn.

Das begleitende Video gleicht einem Art-House-Kurzfilm und zeigt rasante Schnitte zu fiesen Operationsszenen. Dem Patienten im Clip werden Zähne gezogen und scheinbar eine Art neues Herz eingesetzt. So richtig schlau wird man aber auch nicht aus Geschichte in “Heart Reformer”.

“II” ist vor allem geprägt durch eine Krebsdiagnose von Crain, die die Band erst richtig zusammenschweißte. Erst kürzlich sprach auch Mike Patton nach langer Funkstille über seine mentale Gesundheit.

Das neue Album von Dead Cross erscheint am 28. Oktober über Ipeac und kann bei der Band vorbestellt werden.

Video: Dead Cross – “Heart Reformer”

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