Unser letztes Gespräch war im Dezember 2021. Damals war an eine Tour nur vorsichtig wieder zu denken und die Veröffentlichung eures sechsten Albums “Crisis Of Faith” stand kurz bevor. Was ist seitdem passiert?
Ian D’sa: Ich erinnere mich. Damals war ich im Studio in Toronto. Jetzt sind wir in Warschau und spielen hier heute Abend eine Show mit Frank Turner. Es ist ein wunderschöner, warmer Tag. Seit Ende 2021 ist also alles wieder so ziemlich zum Normalzustand zurückgekehrt, ein großartiges Gefühl. Wir waren viel auf Tour und es hat sich so gut angefühlt, die neuen Songs zu spielen und die Fans wiederzusehen. Wir machen endlich wieder das, was wir am liebsten tun.
Das haltet ihr auf eurem neuen, zweiten Live-Album fest. Dem ersten seit 2007. Was hat so lange gedauert?
Man gewöhnt sich schnell daran, immer live spielen zu können, wir haben es für selbstverständlich gehalten und das dann in der Pandemie schwer bereut. Es ging uns mit der neuen Platte also vor allem darum zu sagen: “Wir sind zurück, Liveshows sind zurück, und wir spielen diese besondere Show in der wunderschönen Festhalle in Frankfurt, mit neuen Songs und den bekannten Klassikern. Das wollen wir festhalten.” Ich wünschte wirklich, wir hätten mit Billy Talent öfter solche Live-Schnappschüsse gemacht. Ich meine: 2007 ist echt schon lang her. Da liegt ein Jahrzehnt dazwischen, die kompletten 2010er Jahre, die wir live überhaupt nicht festgehalten haben.
Fühlen sich Konzerte nach der langen Zwangspause anders an?
Die Energie ist definitiv eine andere. Die Leute leben wieder mehr im Moment und genießen es. Bei jedem einzelnen Festival, das wir im vergangenen Jahr gespielt haben, hatten wir ein euphorisches Publikum, das gesungen und gefeiert hat. Früher hat man manchmal Kämpfe in der Menge beobachtet, solche Szenen sieht man jetzt gar nicht mehr.
Ihr scheint selbst eine richtig gute Zeit gehabt zu haben. Ich erinnere mich, dass es 2022 bei Rock am Ring viel gegenseitige Liebesbekundungen mit den Beatsteaks gab, mit denen ihr euch die Bühne und backstage das ein oder andere Getränk geteilt habt.
(grinst breit) Das stimmt. Und in Berlin bei der letzten Show dieser Tour, bei der wir auch das Frankfurt-Konzert aufgenommen haben, sind Arnim und Bernde mit auf die Bühne gekommen, und wir haben gemeinsam deren Song “Hand In Hand” gespielt, das war ein toller Abschluss. Diese Band bedeutet uns sehr viel. Die Beatsteaks waren in gewisser Weise unser Begrüßungskomitee für die deutsche Punkrock-Szene als wir damals unsere ersten Konzerte in Deutschland gespielt haben. Sie haben uns mit auf Tour genommen, und wir sind Freunde fürs Leben geworden.
Wenn wir über das Konzept Livealbum sprechen, was ist das für dich?
Für mich ist es eine Art Zeitkapsel, all meine Lieblingslivealben wie The Whos “Live At Leeds” und Thin Lizzys “Armed And Dangerous” sind ganz genau das: Zeitkapseln, die diesen einen Moment einfrieren. Das ist es, was wir auch versuchen: Einen Moment für
immer festhalten, den Sound in einem bestimmten Raum, zu einer bestimmten Zeit. Ich glaube, dass wir das auf unserer Platte ganz gut rübergebracht haben.
Mit dem gerade Gesagten im Hinterkopf: Hörst du dir manchmal eure erste Liveplatte an? Und was denkst du, wenn du sie hörst?
Ich denke, dass das damals unser erster Versuch eines Livealbums war und dass das, was wir jetzt gemacht haben, viel besser klingt. Nicht, dass ich damit sagen will, das Livealbum klinge fantastisch, aber wir sind da ganz anders rangegangen und haben sichergestellt, dass diesmal alle Möglichkeiten für einen besseren Sound ausgenutzt sind. In meinen Ohren klingt die Platte im direkten Vergleich um Welten besser.
Ben kündigt es in einer Ansage auch an, dass die Show aufgenommen wird. Ist es nicht ein Risiko, das direkt am Anfang so groß anzusagen, falls doch was schiefgeht?
Ist es. Aber da es im Herbst noch einen begleitenden Konzertfilm geben soll, gab es neben den Mikrofonen auch mehrere Kamerateams, die im Publikum unterwegs waren. Das muss man natürlich kurz erklären, damit sich die Leute nicht wundern.
Wie habt ihr überhaupt entschieden, welches Konzert der Tour ihr aufzeichnet?
Wir haben schon ein paar Mal in der Festhalle gespielt und kennen die Klangeigenschaften vor Ort ganz gut. Außerdem hat die Halle diesen speziellen Vibe, sie ist ja ein altes Gebäude und beeindruckend mit ihrer Kuppel und dieser runden und gleichzeitig offenen
Struktur. Wir wollten die Show also unbedingt dort aufnehmen. Hinzu kommt, dass es die größte Show auf der Tour war und Frankfurt aufgrund seiner zentralen Lage Anlaufpunkt für viele Fans aus anderen Teilen des Landes ist.
“»Wir haben aufgehört, Zugaben zu spielen. Wir wollen die Energie, die sich während des Konzerts angestaut hat, nicht mit einer künstlichen Pause vergeuden.”
Ian D’Sa
Du hast “Live At Festhalle Frankfurt” auch produziert. Was versucht man da zuerst einzufangen: einen bestimmten Sound oder doch eher ein bestimmtes Gefühl?
Es ist mehr ein bestimmtes Gefühl, dem man nachjagt, und ich hab wirklich jeden Kniff und Trick angewendet, um diese Live-Magie einzufangen. Zum einen haben wir das direkte Signal der Gitarren-Tonabnehmer aufgenommen und dann im Studio nochmal das Beste aus diesem Sound rausgeholt, aber wir hatten auch richtig viele Mikrofone im Publikum aufgestellt, um das in den Mix mit einfließen zu lassen. Es hat Spaß gemacht, war aber auch eine Herausforderung, die Studioansprüche mit einer Liveplatte zusammenzubringen.
Als das Konzert an diesem 25. November 2022 endete und der letzte Akkord verklungen war, was war das Erste, an das du gedacht hast?
Mein erster Gedanke war auf jeden Fall: “Ich hoffe, ich habe es nicht zu sehr verkackt.” (lacht) Es gab ein grandioses Finale, und dann hat es sich direkt nach dem letzten Song angefühlt wie eine besondere Show. Es hat sich bewährt, dass wir aufgehört haben, Zugaben zu spielen, einfach weil wir die Energie, die sich während des Konzerts angestaut hat, dann nicht mit einer künstlichen Pause vergeuden. Zugaben fühlen sich für uns an wie ein Artefakt aus einer vergangenen Zeit: Du tust so, als wäre es der letzte Song, dann tust du so, als würdest du von der Bühne gehen, und das Publikum tut so, als würden sie nicht eh wissen, dass du nochmal wiederkommst. Das ist Zeitverschwendung. Ich meine, wenn wir “Red Flag” nicht gespielt haben, dann ist doch irgendwas verkehrt, dann weiß jeder, vor allem in Deutschland, dass das Konzert noch nicht zu Ende ist.
Wie schwierig ist es, bei so einem Aufnahmeunterfangen das Publikum zu lesen?
Das Gute ist, dass ich mittlerweile so viele Konzerte gespielt habe, dass ich ein paar Dinge vorhersagen kann, etwa an welchen Stellen das Publikum den Text mitsingt. Das war mir sehr wichtig, dass das alles mit aufgenommen ist. Und wenn du das Material dann hast, musst du es schaffen, beim Mixen diesen Augenblick wiederzubeleben, in dem plötzlich das Publikum für die Band singt und nicht mehr andersrum. Wir haben da sehr sorgfältig drauf geachtet, dass wir das alles auf Band hatten.
Wie sieht es denn bandseitig mit potenziellen Fuck-ups aus, gibt es den ein oder anderen Song, bei dem du dachtest: “Der muss heute auf jeden Fall klappen”?
(lacht laut) Im Grunde jeder einzelne der neuen Songs, einfach weil wir die nicht schon jahrelang live spielen. Sie fühlen sich immer noch sehr frisch an, nach einem Jahr. Vor allem Songs wie “Forgiveness” oder “Hanging Out With All The Wrong People”. Im zweiten Jahr eines Albumzyklus sieht das schon wieder anders aus, da gehen einem die Songs sehr viel sicherer von der Hand. Aber so haben wir extra viel geübt vorher, um sicherzugehen, dass alles sitzt.
Wenn du eure beiden Live-Zeitkapseln vergleichst, hast du dann das Gefühl, dass ihr euch verändert habt?
Ja, ich habe vor allem das Gefühl, dass wir heute viel bessere Musiker sind. Wir stehen
als Band enger zusammen und legen insgesamt mehr Selbstbewusstsein beim Spielen an den Tag. Es kommt über die Jahre einfach die Zeit, wo du selbstsicherer wirst, das macht dich automatisch zu einem besseren Musiker, und du bist dir dessen auch viel mehr bewusst, je älter du wirst. Als wir jünger waren, haben wir uns oft auch im Eifer des Gefechts komplett mitreißen lassen, und dann hast du so einen Spaß beim Performen, dass du in dem Moment gar nicht mitbekommst, dass du eigentlich gerade ziemlich beschissen spielst.