Das 50-jährige Jubiläum des Roskilde Festivals im vergangenen Jahr war mit zu wenig freiwilligen Helfer:innen für das Non-Profit-Spektakel ein Kraftakt, wenn auch am Ende ein gelungener. Ein Jahr später blickt das Roskilde ausverkauft und unter dem Motto “Utopia” hoffnungsvoll in die Zukunft, mit 205 Acts aus 38 Ländern und einem Fokus, der neben Blur vor allem auf HipHop-Headlinern wie Kendrick Lamar, Lil Nas X und Lizzo liegt. Täuschen lassen sollte man sich davon nicht: Am Ende ist das Angebot aus Musik, Kunst und Aktivismus so umfassend, dass jede:r auf seine Kosten kommt, im Festival-Kulturviertel, das Roskilde für acht Tage vom verschlafenen Wikingerstädtchen zur viertgrößten Stadt Dänemarks macht.

Der Auftritt der Queens Of The Stone Age hätte an diesem Festival-Mittwoch perfekt werden können, und zunächst deutet auch alles darauf hin, als die Stakkato-Gitarren von “No One Knows” die Arena erschüttern. Das Konzert mit diesem Hit zu beginnen, hat in etwa den Effekt, als würde man literweise Benzin in ein eh schon loderndes Feuer gießen: Die Menge tobt dermaßen, dass das Intro für einen kurzen Moment kaum auszumachen ist. Tatsächlich stellen QOTSA einen der wenigen großen Rock-Acts der diesjährigen Ausgabe dar und wissen diese Exklusivität für sich zu nutzen. Josh Homme wirkt konzentriert und bedankt sich dutzendfach auf Dänisch beim ekstatisch, mit jedem Song und jeder Geste des Frontmanns mitgehenden Publikum. Doch irgendwann im letzten Drittel des Sets stellt er sich dann selbst verbal ein Bein, indem er die Security anfährt, diese solle das Publikum in Ruhe lassen und sich nicht wie deren “fucking parents” aufführen, und dass die Leute jetzt mal richtig ausrasten sollen.
Ein gefährliches Spiel, das Homme da spielt, immerhin zeugen neun zum Gedenken gepflanzte Birken nahe der Orangestage davon, was im schlimmsten Fall passieren kann, wenn Menschenmassen außer Kontrolle geraten. Das scheint einen Song später und damit deutlich zu spät auch dem Sänger selbst aufzugehen, der zurückrudert: “Hört mal, ich will noch kurz klarstellen, dass wir nicht hier sind, um irgendjemanden in die Pfanne zu hauen. Wir – dieses verdammte Zelt und alle darin – sind eine Einheit und stehen zusammen.” Es hätte der perfekte Auftritt werden können, so bleibt eine sehr gute Show einer fantastischen Live-Band (deren Scheiße-das-hat-er-jetzt-nicht-gesagt-Gesichtsausdrücke ein Hinweis für Homme hätten sein können, hätte er sich im Moment seiner Ansprache zu den Kollegen umgedreht) und die Erkenntnis, dass manche Rock-Rüpel-Attitüde einfach in der Mottenkiste bleiben sollte.

Wie man den Umgang mit dem Publikum für alle angenehm gestaltet, zeigt zwei Tage später Blur-Sänger Damon Albarn. Der hat zwar seit 2003 nicht mehr mit seiner Hauptband auf dem Roskilde gespielt, ist aber süchtig nach dem “Orange-Feeling” und kaum fernzuhalten von seinem Lieblingsfestival: 2015 spielt er mit seinem Projekt Africa Express fünf Stunden und wird 4 Uhr morgens “Should I Stay Or Should I Go” singend von der Bühne getragen, 2018 endet der Auftritt mit den Gorillaz vorzeitig, als ein Bandmitglied von der Bühne fällt. Auch Musikdirektor Thomas Jepsen, der für das Booking der Musik-Acts zuständig ist, grinst, angesprochen auf den besonderen Draht von Albarn zum Roskilde-Festival: “Damon ist dem Festival sehr verbunden, er fühlt sich hier wohl, manchmal schläft er sogar im Zelt.”
So wundert es nicht, dass kurz nachdem das Set der Britpop-Ikonen mit der neuen Single “St. Charles Square” beginnt, Albarn in die ersten Publikumsreihen ein- und mit einem ziemlich mitgenommen wirkenden Blumenstrauß wieder auftaucht. Bierselig plaudert er aus dem Nähkästchen, erzählt, seine Mutter habe dänische Wurzeln und das erste Mal, dass er bei jemand anderem im Zelt geschlafen habe, sei vor langer Zeit hier auf dem Roskilde-Festival gewesen. Sein verträumtes Grinsen zum Jubel der Menge lässt erahnen, welche Bilder ihm gerade durch den Kopf schwirren. Vor dem Song “Country House” erklärt er selbstironisch: “Ich habe diesen Song vor langer Zeit geschrieben und dachte, er handelt von langweiligen Leuten. Heute stellt sich heraus, ich habe den Song über mich geschrieben. Das ist schon ein bisschen tragisch, aber hey!” Zu “Tender” geht es dem Publikum dann wie Albarn 2015: Es will nicht aufhören zu singen, und so verneigen sich Blur am Ende des Abends und dem letzten Song “The Universal” gerührt vor der Fahnen schwenkenden Menge.

Jenseits der großen Bühnen und Musiknamen beginnt dann die eigentliche Entdeckungsreise. Dabei stößt man auf zahlreiche Kunstinstallationen, die sich mit der neuinterpretierten, im dritten Jahr ausgestellten “Me-We-Skulptur” von Claudia Comte und Katharina Grosses knallig buntem Dancefloor “Destroy Me Once, Destroy Me Twice” bis auf die Campingplätze erstrecken. Auf dem Festivalgelände selbst beeindruckt ein zunächst simpel erscheinender Ruhe-Pavillon aus Stoff, ausgelegt mit Laub und Decken und zu betreten ohne Schuhe. An allen Tagen ist diese “We Could Plant A Tree” benannte Installation der Künstlerin Maria Nørholm Ramouk gut besucht, bietet sie doch eine Ruheinsel vom Festivaltreiben, das mit 130.000 Besucher:innen intensiv und überwältigend sein kann. “Die Besucher:innen leben hier bis zu acht Tage bei Wind und Wetter im Zelt, das ist anstrengend”, bemerkt auch Jepsen, und so werden Genres wie der Dream-Pop von Japanese Breakfast oder der zauberhafte Folk von Weyes Blood, der am regnerischen Samstagnachmittag das Zelt der Avalon-Bühne bis auf den letzten Platz füllt, als musikalische Ruhepole angenommen.
Nicht Ruhe, sondern ein Ventil bieten dann Code Orange, die ihren Hardcore aufgrund technischer Probleme mit Verspätung auf die bereits wartenden Fans loslassen, dafür aber richtig: “Das ist unsere letzte Show auf dieser Tour, ich werde jetzt für die kommenden zwei Songs alles aus mir herausholen, und wenn ich auf dieser Bühne verrecke. Und ihr bildet den größten Circlepit, den dieses Festival je gesehen hat”, dirigiert Sänger Eric Balderose, während Gitarristin Reba Meyers bereits auf und ab tigert.

Durch einen beeindruckenden Genremix zeichnet sich im Laufe des Festivals die neue Gaia-Bühne aus: Das feministische Punk-Trio Big Joanie spielt dort am Mittwoch. Einen Tag später tanzen zahlreiche Festivalbesucher:innen schon mittags zu den Klängen der ghanaischen Saxophon-Legende Gyedu-Blay Ambolley und nur wenige Stunden später fegen Ithaca mit ihrem Metalcore über dieselbe Bühne. Am Freitag verzaubert die Sängerin Florence Adooni mit ihrem Frafra-Gospel das Publikum und kurz darauf rocken Body Type aus Australien gutgelaunt an gleicher Stelle, wobei Sängerin Sophie McComish sich über das Alien-begattet-Kuh-Gebilde einer Gruppe Stammbesucher amüsiert, das diese seit Jahren bei Roskilde-Shows schwenkt: “Wir fühlen uns so geehrt, dass ihr Zeit habt, unser Konzert anzuschauen, während ihr gerade kopuliert, danke dafür”, wendet sie sich im Scherz an die Figuren.
Es ist ein gelungener Neuanfang, den das Roskilde-Festival mit dieser ersten der kommenden 50 Ausgaben auf die Beine stellt. Die Tatsache, dass die Bedürfnisse junger Menschen und das Agieren als Gemeinschaft im Fokus stehen, tragen entscheidend zu diesem Erfolg bei und dürften nicht nur Damon Albarn immer wieder nach Roskilde pilgern lassen.