“Dass Pop und Referenzen nun mal herrschen, um Dinge zu verknappen, hat eine ganz klare Logik. Anders funktioniert es nicht”, sagt Anton Spielmann, ein Drittel von 1000 Robota, die mit ihrem dritten Album “3/3” in diesem Jahr ein ganz anderes Gesicht zeigen als beim Vorgänger, der 2008 erschien. Spielmann ist Verfechter der künstlerischen Grenzenlosigkeit per se. Seine Definition von Post-Punk und dessen Dimension in der heutigen Zeit geht sehr weit: “Von einer Band wie Mclusky, die sich Ende der 90er stilistisch am Post-Punk der frühen 80er bediente, also zum Beispiel an den Wipers, kann man schon eine Brücke zu uns schlagen. Das war wiederum ein Sound, der sich vom klassischen breiten und akkordlastigen Punk unterschied. Was später im Post-Punk passierte, war viel schärfer, minimaler und monotoner.” Auch wenn “3/3” viel weniger Bauhaus, Gang Of Four oder Magazine atmet, sondern eher experimentellen Artrock im Stil der Einstürzenden Neubauten, so sieht Spielmann trotzdem alles, was er, Jonas Hinnerkort und Sebastian Muxfeldt machen und in den zurückliegenden Jahren gemacht haben, als 1000-Robota-Material. Eben nicht nur Musik, sondern im größeren Sinne: Kunst.
Musikalisch hat sich Post-Punk seit den späten 90ern in Wellen immer wieder an die Oberfläche gekämpft. Nach Wire, Joy Division und Public Image Ltd. sind es Franz Ferdinand, Bloc Party, Interpol und Editors, die das Label Post-Punk in den 00er Jahren wiederbeleben, bis diese Musikentwürfe entweder vom Pop eingefangen werden oder nach einer gewissen Zeit des Auf-der-Stelle-Tretens verschwinden. Im Großen wiederholt sich da also scheinbar das Schicksal des Post-Punks der frühen 80er. Im Kleinen, sprich im musikalischen Untergrund, hält eine Band wie Love A mit ihrem Album “Meisenstaat” nicht nur die Klangtradition am Leben: Es geht um Haltung. “Aktuell ist der Begriff Post-Punk immer, weil Punk in irgendeiner Form permanent existent ist, in abgewandelter, pervertierter, verbesserter oder vermeintlich richtiger Form”, sagt Love-A-Sänger Jörkk Mechenbier. “Ich finde, Post-Punk ist immer ein bisschen defätistisch, etwas dystopisch. Wenn man sich Joy Division anhört, dann ist diese kalte Ästhetik immer Ausdruck einer Haltung. Und ich glaube, dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens sozusagen Post-Punk werden. Etwas entsteht im Punk, aber es entwickelt sich im Laufe der Zeit in andere Richtungen.”
Im Herbst 2022 reklamieren dann auch Die Nerven eine dieser möglichen anderen Richtungen für sich. Im Kontext Post-Punk sehen sich Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn nicht mehr und wollen darum auch nicht einmal mehr darüber reden. Gleichzeitig klingt ihr nach der Band benanntes Album aufrührerisch, zitiert aus Metal und Indierock. Es will seinen eigenen Platz erobern und hat damit Erfolg. Die Nerven sind aber weiterhin, wie Love A, unzufriedene Beobachter über Missstände im Großen und die Verzweiflung im Kleinen. Es ist wohl nicht möglich, anhand von drei so unterschiedlichen Haltungen einen eindeutigen Status von Post-Punk abzulesen. Zumindest wird aber deutlich, dass die festgefahrene Genre-Definition nicht mehr ausreicht. Schlimmer noch: dass vielleicht Missverständnisse entstehen.
Freiform
Ortswechsel. Im Umfeld des Musikclubs Windmill im Londoner Stadtteil Brixton gründen sich seit 2017 aufregende Bands wie Black Midi und Black Country, New Road (BCNR), die schnell mit der Londoner Post-Punk Szene um Shame und Fat White Family assoziiert werden. Diese Bands bewegen sich ästhetisch auf den traditionellen Bahnen von Post-Punk, ob gitarrenlastig oder elektronisch und experimentell (auch der avantgardistische Funkrock der Brightoner Band Squid taucht in diesem Kontext auf).
Black Midi hingegen sind ein Zusammenschluss virtuos geschulter Musiker, die aus Jazz ebenso zitieren wie aus Mathrock und Progressive Rock. Ihr Klangbild ist kantig und ungeschliffen. “Sie beuten ihr Handwerk nicht aus”, sagt Spielmann über Black Midi und umschreibt damit kunstvoll, dass die Band zu gleichen Teilen Punk, Jazz und Prog ist. Ihre Kumpel von Black Country, New Road spielen in der Zwischenzeit musikalisch auf einer Augenhöhe mit Bright Eyes und Arcade Fire, also in Sphären von Indierock und Freak-Folk. Und sie verarbeiten auf ihrem zweiten Album “Ants From Up There” Minimal Music und Kammermusik. Ihre Musik ist vielfältig, eigen und oftmals unerklärlich.
Darum fällt es leicht, sie gemeinsam in einen Topf mit der Aufschrift Post-Punk zu schmeißen, nicht zuletzt, weil gerade das erste Album von Black Country, New Road, “For The First Time”, offensichtliche Wut auf den Schwingen verzerrter Gitarrendissonanzen transportiert. Bis heute haben sich allerdings sowohl BCNR als auch Black Midi mehrfach gehäutet und verformt, so dass ihnen der Mantel des Post-Punk schon lange nicht mehr passt. Wenn das überhaupt jemals der Fall war. Ein Blick in die Spotify-Playlist von Black Country, New Road spricht Bände. Hier steht Noiserock von Daughters neben Folk von Richard Dawson und dem Piano-Jazz von Brad Mehldau. In dieser Welt hat der Post-Rock von Talk Talk die gleiche Bedeutung und Chance wie der epische Jazz von Kamasi Washington oder die Avantgarde von Fred Frith.
Formwandler
Die Post-Grunge-Generation wurde in einer Welt sozialisiert, die keinen der großen Paradigmenwechsel in der Popkultur erlebt hat; mit Sicherheit ist das einer der Gründe, warum diese Altersgruppe so unbedarft Stile vermischt, über Genregrenzen geht. Für die Millennials, so viel Verallgemeinerung muss hier ausnahmsweise erlaubt sein, hat es nie die Notwendigkeit von Szenen gegeben. Sie sind mit stilistischen Chimären aufgewachsen, sowohl im Pop als auch im Underground. Heraufbeschworene Kulturkämpfe zwischen HipHop, Metal und Indierock sind ein Ding, über das ihre Eltern sprechen. Ihre Realität wird vom Wissen bestimmt, jede Art von Musik in der Hosentasche bei sich zu tragen. Berührungsängste? Fehlanzeige.
Vielleicht sind wir also schon mittendrin im Post-Genre-Zeitalter, in dem die bisherige Notwendigkeit einer Genrezuordnung von Musik zu einer Randnotiz geworden ist. Bestimmt befinden wir uns in einer Zeit, in der eindeutige Haltungen und Szenen in Auflösung begriffen sind, oder besser gesagt: abgelöst werden von einem beschleunigten Individualismus. Digitale Medien machen jeden Menschen zum Content-Creator und -Empfänger. Eine Dystopie, der nicht zuletzt der Musikmarkt sehenden Auges entgegenläuft.
In einer Zeit, die absehbar von Streaming-Kultur dominiert sein wird, in der Musik selbst immer weiter optimiert werden muss, um wahrgenommen zu werden – und ganz nebenbei die Idee von ganzen Alben als signifikante Größen im Schaffen einer Band immer weiter in den Hintergrund tritt – fühlen sich Überlegungen zur Relevanz von Genrebezeichnungen überflüssig an. Mehr als um Klassifizierung geht es darum, Musik als Kunst gegen die Vereinnahmung der Content-Industrie zu verteidigen.
Um es positiv zu formulieren, bietet die grenzenlose Verfügbarkeit von Musik natürlich viele Chancen auf kreatives Wachstum. Es kommt aber darauf an, dem Algorithmus regelmäßig vors Schienbein zu treten. Und wer weiß? So wie John Lydon, Keith Lavene und Jah Wobble 1978 mit Public Image Ltd. den Virus Post-Punk in die Musikindustrie entließen, schreibt vielleicht bald jemand einen Open-Source-Anarcho-Algorithmus.
Julian, Kevin, wie war 2022 für euch?
Julian Knoth: Für mich war es ein superseltsames Jahr. An bestimmten Punkten musste ich einen Teil des Weltgeschehens ausblenden, weil ich es nicht mehr verkraftet habe. Und in diesen Momenten war es gar nicht so einfach, damit klarzukommen, dass Teile unserer neuen Platte politisch plötzlich so wahnsinnig aktuell wirkten.
Dabei wurden sie schon 2019 geschrieben.
Knoth: Ja, und das ist natürlich schon ein bisschen spooky. Die Lieder waren nie aktuell gemeint. Sie waren nie eine Reaktion auf die Geschehnisse, wirkten aber auf einmal so. Als das offenkundig wurde, fühlten wir uns schon ein wenig machtlos, mit dem Wissen, dass es da draußen Leute gibt, die uns nicht so gut kennen und nun glauben, diese neuen Songs seien eine Reaktion auf den Krieg. Das war ermüdend. Was half, war, dass wir in der zweiten Hälfte des Jahres endlich wieder anfangen konnten, live zu spielen, und dass dann im Oktober das Album, nach langer Wartezeit, endlich rauskam. Schon in den Jahren vor 2022 befanden wir uns in einer Art Schwebezustand, ausgelöst durch die Pandemie. Für mich selbst war es wichtig, dass mit den Konzerten und der Albumveröffentlichung wieder eine Struktur existierte. Eine Struktur, die einem auch eine Art… ja, einen Sinn gab.
Kevin Kuhn: Dadurch verlief unser persönliches Die-Nerven-Jahr ab Juni sehr gut. Es gab einen enormen Zuspruch für die neue Musik, wir können uns sehr glücklich schätzen. Aber klar, es war auch für mich nötig, das Weltgeschehen ab und an auszublenden.
Auszublenden heißt?
Kuhn: Nur in einem gewissen Maße Nachrichten zu checken, und vor allem, bewusst zu entscheiden, wann man das tut – und wann eben nicht.
Knoth: Es ist wichtig, zu schauen, dass es einem weiterhin gut geht. Dass das eigene Wohlergehen nicht vom Weltgeschehen überlagert wird. Auch daher war es wichtig für uns, dass es ab Juni 2022 mit der Band wieder losging und wir gemeinsam eine schöne Zeit erlebt haben.
Gehörte der Auftritt bei Jan Böhmermann im ZDF Magazin Royale zu diesen schönen Dingen? Ihr habt dort zusammen mit dem Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld “Europa” gespielt, vor einem Millionenpublikum.
Knoth: Ein Problem dabei war, dass der Fokus danach für einige Wochen nur auf diesem einen Song lag. Einem Song, der natürlich politisch gehört werden kann – mehr als die allermeisten anderen von Die Nerven. Entsprechend meinte ich eben, dass es sich sehr gut anfühlte, als das ganze Album draußen war: Unsere Fans und alle, die sich für eine solche Art von Musik interessieren, erkannten nun, dass diese Platte auch eine Reihe von sehr persönlichen Songs bietet. Und bei den Gigs merkten wir wiederum, dass die Leute auch von diesen “nicht politischen” Songs berührt werden.
Kuhn: Wobei wir in der Show von Böhmermann nur deshalb aufgetreten sind, weil das Stück “Europa” thematisch zu seiner Sendung passte. Wir haben dafür sogar den Release der Single etwas nach vorne geschoben.
Gab es intern Debatten: Machen oder nicht?
Kuhn: Nee, die gab’s nicht, wir hatten einfach große Lust, wieder zu spielen. Und es war ein toller Tag, ein kleiner persönlicher Triumph für jeden von uns, würde ich sagen.
Was machte es so triumphal? Der Auftritt der Band Die Nerven vor dem ZDF-Logo?
Kuhn: Das bringt es sehr gut auf den Punkt.
Knoth: Es war triumphal, als kleine Band, als die wir uns fühlen und die wir im Herzen auch noch sind, zu merken: Augenscheinlich sind wir drei als Die Nerven so gut, dass wir im ZDF diesen Song spielen können – und dass das zusammen mit dem Rundfunk-Tanzorchester funktioniert, in dem ja nur Vollprofis spielen. Bei mir entstand das Gefühl: Ich bin nicht mehr der Vollamateur, für den ich mich manchmal gehalten habe. Was meine Musik und deren Darbietung anging, hatte ich lange viele Selbstzweifel. Ich wusste schon, dass diese Selbstzweifel nicht berechtigt waren. Dieser Auftritt war die Art von Beleg, die ich vielleicht gebraucht habe: Es war live, es hat funktioniert. Ich finde, da können wir schon ein bisschen stolz auf uns sein. Verbunden mit tiefer Dankbarkeit, dass wir eine solche Sache machen konnten, ohne uns verstellen zu müssen.
Es wurde 2022 viel über die Bedeutung von Symbolpolitik geredet, bei der WM mit Blick auf die “One Love”-Binde, aber auch zum Beispiel bei Besuchen von Politiker:innen in der Ukraine. In euren Texten nennt ihr gerne symbolhafte Zahlen wie “180 Grad” oder “15 Sekunden”, früher die maximale Videolänge bei TikTok, aber auch symbolische politische Begriffe wie “Deutschland” oder “Europa”. Zufall oder Konzept?
Knoth: Stimmt schon, ob Zahlen oder Begriffe: Die Tendenz, damit zu spielen, zieht sich durch das Album. Es ist aber nicht so, dass uns das vorab überhaupt aufgefallen wäre. Wir haben die Symbolik, die in der Platte steckt, aber auch die roten Fäden erst erkannt, als die Platte in ihrer Gesamtheit gewirkt hat. Aber natürlich beschäftigen sich die jeweiligen Texte mit diesen Begriffen und der Art, wie sie eben begriffen werden.
Bleiben wir bei Europa: Ist das für euch mehr als eine Worthülse?
Knoth: Die Frage ist ja, was steckt eigentlich dahinter? Im besten Fall regen wir die Hörer dazu an, diesen Begriff zu hinterfragen. Das ist zwar nicht unsere Intuition, aber wohl das Beste, was passieren kann: Sich zu fragen, was es bedeutet, in Europa zu leben – und eben auch, was es bedeutet, hier nicht geboren zu sein, nicht dieses Glück gehabt zu haben. Wobei ja gerade auch dieses Glück hinterfragt werden kann: Warum sind wir eigentlich in Europa so privilegiert? Und auf welchem Leid baut dieses Privileg auf? Das sind die Fragen, die in diesem Lied stecken.
Noch ein Begriff, der 2022 Konjunktur hatte: die Doppelmoral. Wie ihr es macht: Privilegien zu hinterfragen, sie aber trotzdem weiter zu genießen – steckt dahinter eine Doppelmoral?
Knoth: Ich glaube das ist nicht der Fall, wenn es das Bewusstsein dafür gibt, wie privilegiert wir sind. Und wenn daraus die Dankbarkeit erwächst, weiterhin das machen zu dürfen, was wir tun. Es gibt Tage, an denen hat man das mehr im Blick, und solche, an denen man weniger reflektiert genießt. Das ist aber auch in Ordnung, denn niemand von uns ist dazu gezwungen, an jedem Tag mit einem schlechten Gewissen zu leben. Denn das bringt ja auch nichts.
Kuhn: Ich habe prinzipiell ein schlechtes Gewissen, das liegt aber an mir persönlich. (lacht) Du sagtest in deiner Frage, Doppelmoral sei ein Begriff, der in diesem Jahr häufig gebraucht wurde. Ich weiß gar nicht, ob das stimmt, ich habe ihn nicht so häufig gehört.
Knoth: In unseren Texten ist die Doppelmoral schon lange ein Thema, auf der anderen Seite sind wir alle nicht frei davon. Niemand von uns. Und auch hier gilt wohl, dass es wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein, aber nicht den Anspruch an sich selbst stellen sollte, perfekt zu sein.
Kuhn: Die Frage stellt sich tatsächlich: Scheitere ich an den Ansprüchen? An meinen, aber auch an denen, die andere an mich stellen. Was ich dabei merke: Je älter ich werde desto besser komme ich damit klar, mit den Widersprüchen zu leben. Das gehört einfach dazu.
Welche Widersprüche habt ihr 2022 bei euch erkannt?
Kuhn: Dass wir weiterhin eine Punkband sein wollen, aber erfolgreich. Wobei, nicht im klassischen Sinn kommerziell erfolgreich, aber wir möchten schon versuchen, so viele Menschen wie möglich mit unserer Musik zu erreichen. Dass es diesen Widerspruch gibt, bekomme ich mit, wenn in den Kommentarspalten gepostet wird, bei der neuen Platte handele es sich um Müll für den Mainstream. Wobei der Widerspruch für eine Band ja schon an der Stelle beginnt, wenn man bedenkt, dass sie für verschiedene Menschen etwas Verschiedenes darstellt.
Knoth: Das ist ein gutes Beispiel, und diese Widersprüche müssen wir als Band eben aushalten. Das funktioniert, indem wir den richtigen Fokus setzen: Es kommt darauf an, was wir drei wollen, ohne Rücksichtnahme auf das, was die anderen wollen oder in uns sehen könnten. Wobei der Königsweg vielleicht ein Mittelweg ist, den man geht, ohne sich zu verbiegen.
In welchen Momenten habt ihr 2022 diesen Königsweg gefunden?
Knoth: Bei den Konzerten, die wir 2022 gespielt haben. Wenn wir dort erlebten, dass wir die Texte rausschreien und das Publikum die Texte rausschreit, dann ist das ein unfassbar schöner Moment der Befreiung. Natürlich steckt auch in diesem Moment ein Widerspruch, denn: Darf ich mich in Europa, in Deutschland im Jahr 2022 so befreit fühlen? Ja, darf man! Ja, das ist ein Privileg. Aber feiern wir doch in diesen Momenten die Widersprüche, die eigenen, die des Publikums, die des Konstrukts Europa, in dem wir leben. Das zu tun – das empfinde ich als befreiend und versöhnlich.
Dass “Pain Is Forever And This Is The End” tatsächlich fast das Ende von Mantar besiegelt hätte, ist mittlerweile bekannt. Umso erfreulicher, dass die vom Pech und von gesundheitlichen Problemen verfolgte Band letztlich allen Widrigkeiten trotzen konnte: Denn das vierte Album von Gitarrist/Sänger Hanno Klänhardt und Schlagzeuger Erinç Sakarya verbindet die liebgewonnenen Mantar-Trademarks mit neuen Facetten. Das Duo macht immer noch mehr Lärm als manches Quartett und suhlt sich genüsslich im Dreck, während Klänhardt zu (Crust-)Punk-, Black Metal- und Doom-Gewittern Gift und Galle spuckt. Doch gleichzeitig ist “Pain Is Forever…” abwechslungsreicher geraten. So ist das Anfangsriff auf “Grim Reaping” eine liebevolle, schwarz getünchte Hommage an AC/DC, “Of Frost And Decay” spielt gekonnt mit Grunge-Referenzen und “Odysseus” animiert beinahe zum Mitsingen. Nach der “Feuer-Trilogie” “Death By Burning” (2014), “Ode To The Flame” (2016) und “The Modern Art Of Setting Ablaze” (2018) sowie der 2020er-Cover-EP “Grungetown Hooligans II” schlagen Mantar somit zwar kein neues Kapitel, aber eine neue – und hoffentlich nicht die letzte – Seite in der Bandgeschichte auf. Stefanie Prieske
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Architects The Classic Symptoms Of A Broken Spirit
VÖ: 21.10. | Label: Epitaph
Mit ihrem zehnten Album schließen Architects die vergangenes Jahr eingeläutete Häutung ihres Sounds ab. Anstelle von Streichern wie auf dem Vorgänger “For Those That Wish To Exist”, setzt die Band aus Brighton vermehrt auf Synthesizer und steht mit mindestens einem Bein im Industrial. Als Fan alter Metalcore-Tage kann man sich deswegen abwenden, besser aber lässt man sich vom erfrischend neuen Stil der Band mitreißen. Das Tempo vieler der elf Songs ist reduziert und Frontmann Sam Carter darf endlich zeigen, was für ein begnadeter Sänger in ihm steckt. Den Gitarristen Adam Christianson und Josh Middleton macht zudem nach wie vor niemand etwas in Sachen dicker Gitarrenriffs vor. Es ist fast beängstigend, mit was für einem Selbstverständnis Architects mittlerweile Hymnen für die großen Bühnen schreiben. Die Ballade “Burn Down My House” ist eine davon und verkörpert den neuen Duktus der Briten am radikalsten. Der Closer “Be Very Afraid” zeigt dagegen, dass Architects Metalcore noch immer aus dem Effeff beherrschen. “Anything is possible/ We could be unstoppable”, heißt es wiederum in “Tear Gas”. Nach diesem Album scheint für Architects alles möglich zu sein. Jonathan Schütz
“But here I go again, mixing drinks and messages/ So I’ll say it plain, baby” – eine Beziehung geht zu Ende, und Sängerin Elisabeth Stokes versucht verzweifelt die richtigen Worte zu finden, damit sie vielleicht doch nicht enden muss. Schließlich ist sie Expertin für die Liebe zum besungenen Menschen – ein “Expert In A Dying Field”. Um sie vor dem Aussterben zu bewahren, stehen nicht nur dem Text von “Knees Deep” die poetischen Bilder mindestens bis zu den Knien: “And I can close the door on us/ But the room still exists/ And I know that you’re in it.” Damit bleibt Stokes zwar nicht bei schlichten Worten, aber kreiert Songtexte, die genauso genial durchdacht wie berührend sind. Bevor man von den bittersüßen Gesangsmelodien zu weit in melancholische Tiefen hineingezogen wird, holen The Beths einen mit dem durchweg sonnig-strahlenden Power Pop ihrer Platte immer wieder zurück an die Oberfläche. Sie verbinden Indierock-Leichtigkeit mit rauer Gitarrendynamik, streuen hier und da einen unerwarteten Akkord ein oder werfen plötzlich den Rhythmus um. Die vielen weiteren subtilen Schichten entdeckt man dann noch über 2022 hinaus. Miriam Gödde
Niemand hätte gedacht, dass Hot Water Music nach “Light It Up” von 2017 noch eine Platte machen. Co-Frontmann Chris Wollard beendet kurz nach Veröffentlichung aufgrund seiner mentalen Gesundheit das Kapitel live, fortan darf The Flatliners-Sänger Chris Cresswell auf der Bühne einspringen. Aber aus dieser Not eine Tugend zu machen und Wollard auch auf Platte zu ersetzen, käme einer Majestätsbeleidigung gleich. Deswegen sind Hot Water Music auf “Feel The Void” zu fünft. Damit verpasst die Band dem keuchenden Karohemden-Punk Truck einen Turbomotor. Der Opener “Another Breath” klingt nach modernem Post-Hardcore und zeigt Vorzeige-Holzfäller Chuck Ragan in absoluter Bestform, das sachte groovende “Newtown Scraper” stellt das hervorragende Bassspiel von Jason Black in den Vordergrund und “Collect Your Things And Run” ist der beste 90er-Throwback-Bartpunk-Song des Jahres. Auf “Turn The Dial” darf Cresswell dann auch mal die gesangliche Hauptrolle spielen, was hervorragend funktioniert. Das und wie breit sich die Band beim Sound aufstellt beweist, dass Hot Water Music, anders als viele Zeitgenossen, auch 2022 alten Hunden neue Tricks beibringen können. Florian Zandt
Hier eine unvollständige, gleichwohl aussagekräftige Auswahl der helfenden Hände auf dem zweiten Sasami-Album: Dirk Verbeuren von Megadeth, Dylan Blake von Barishi, Mitski, Meg “Hand Habits” Duffy, Anna Butters und Christian Lee Hutson aus Phoebe Bridgers‘ Umfeld sowie Ty Segall und dessen Kumpel Kyle “King Tuff” Thomas, der zwei Songs mitgeschrieben hat. Sasami Ashworth ist also hervorragend vernetzt und weiß, wen sie anhauen muss, wenn sie Ideen hat. Und davon hat sie jede Menge, denn auch das sagt das Ensemble aus: Als zeitweise Keyboarderin bei Cherry Glazerr und als Musiklehrerin ist Ashworth unterfordert, der Schlafzimmer-Indie ihres Debütalbums von 2019 keine Dauerlösung. Darum klingt “Squeeze”, als sei sie vom Oldtimer in den Dragster umgestiegen, um den Geschwindigkeitsrekord aufzustellen für die nicht eben kurze Strecke vom Noise-Bunker (“Sorry Entertainer”) zum Indie-Garten (“Call Me Home”), mit den Haltestellen Garage (“Make It Right”) und Kunstgalerie (“Feminine Water Turmoil”). Ein wilder Ritt, der zeigt, wozu Ashworth fähig ist – und dass sie es zu einem kohärenten Album bündeln kann. Unmöglich vorherzusagen, was da noch kommt. Das wollte sie so. Martin Burger
Für viele spiegelt die Laufbahn von Kraftklub das eigene Leben wider. Als junge Erwachsene und mit “Mit K” gut gelaunt in die “easy” 2010er gestartet, folgen nacheinander AfD-Ernüchterung, Krisen, Spaltung. Die Welt wird kälter, auch für das Quintett aus Chemnitz. Melancholie und Wut nehmen zu, gleichzeitig verzichten Kraftklub nach wie vor auf die vollendete Popwerdung, die man bei Bands ihres Kalibers erwarten könnte. Und das ist goldrichtig. Mit pumpendem Post-Punk-Bass in “Ein Song reicht” oder “Fahr mit mir (4×4)”, Jangle-Gitarren und motorischen Beats fahren Kraftklub musikalisch eigentlich Altbewährtes auf, klingen in der Besinnung auf ihre Stärken aber ebenso durchdacht. In “Vierter September” reflektieren Kraftklub ihren Kampf gegen rechts, der auch abseits der Musik die Chemnitzer prägt. Währenddessen bauen Songs wie “Angst” und Features mit Blond und Mia Morgan den Band-Sound in Richtung Alt-Pop aus, ohne die über ein Jahrzehnt kultivierte Band-DNA aufzugeben. Das resultiert im vierten Nummer-Eins-Album in Serie und zementiert den Headliner-Status, den Kraftklub auch auf absehbare Zeit innehaben werden. Stephan Kreher
Bei dieser Platte liegen Freud und Leid nah beieinander, denn die kanadische Band White Lung verkündet im Herbst, dass ihr sechstes auch ihr letztes Album sein wird. Nach 16 wilden Jahren gehen Mish Barber-Way, Anne-Marie Vassiliou und Kenneth Williams künftig getrennte Wege, werfen vorher aber ihren Fans ein beeindruckendes Vermächtnis vor die Füße. “Premonition” hat die Power eines Debüts plus die Ausgefuchstheit und Stringenz einer eingespielten Gang. Unter den zehn Songs ist kein einziger Hänger: Bis auf “Under Glass”, in dem sie das Tempo ein bisschen drosseln, preschen White Lung mit ihrem schwindelig machenden, melodiösen Highspeed-Punkrock los und halten erst nach einer halben Stunde wieder an. Schlagzeugerin Vassiliou wirbelt hochkomplex, Gitarrist William liefert druckvolle, knackige Riffs – das Alleinstellungsmerkmal von White Lung ist jedoch Chefin Barber-Way, die mal emotional, mal ironisch über ihr neues Leben als Mutter shoutet. Der empowernde Track “Girl” ist ihrer Tochter gewidmet, “Bird” ihrem Sohn, doch allzu gefühlig wird es auf “Premonition” natürlich nicht. White Lung verabschieden sich mit ihrem besten Album – schade, aber danke! Christina Mohr
Die ersten persönlichen Jahresbestenlisten auf Social Media bestätigen den Verdacht, den “Cheat Codes” dort bereits rund um die Veröffentlichung im Sommer erweckt: Kein HipHop-Album läuft 2022 häufiger bei Leuten, die eigentlich keinen HipHop hören. Es gibt ja auch gute Gründe dafür. Da wäre zum einen Danger Mouse’ Ruf als Produzent mit goldenem Händchen für Rockbands – seinen Soundstempel hat er etwa den Black Keys, den Red Hot Chili Peppers oder zuletzt Parquet Courts aufgedrückt. Zum anderen ist auch sein Albumpartner Black Thought als Mitglied der Conscious-Rap-Veteranen The Roots seit jeher auf dem Radar der Alternative Nation. Bleibt noch die Musik selbst, und auch hier kommt “Cheat Codes” weniger HipHop-geschulten Ohren entgegen: Songs wie “The Darkest Part”, das MF-Doom-Feature “Belize” oder das überragende “Aquamarine” mit Neo-Soul-Darling Michael Kiwanuka setzen Danger Mouse und Black Thought so griffig wie vielschichtig in Szene. Ein Übriges erledigt der dunkle, psychedelische Grundtenor, der sich durch die Platte zieht. “Cheat Codes” ist genau das, was man von den zwei Virtuosen dahinter erwarten konnte: mehr Perfektion als Revolution. Dennis Plauk
Falls es noch niemand in aller Deutlichkeit klargestellt hat: Brian Molko und Stefan Olsdal sind überdurchschnittliche Songwriter. Selbst die größten Placebo-Verächter müssen bei jedem neuen Album anerkennen, dass es eine Basis aus mindestens vier in Wort und Struktur sowohl breitentauglichen als auch unangreifbaren Songs gibt, die dafür Sorge tragen, dass die volle Spielzeit lohnenswert bleibt. Über die Nachhaltig- oder Vergänglichkeit von Placebo-Alben entscheidet allerdings, was rund um diese Songs passiert, die diesmal “Beautiful James”, “Happy Birthday In The Sky”, “Surrounded By Spies”, “Try Better Next Time” und “Went Missing” heißen und nahtlos an die Glanzmomente von “Sleeping With Ghosts” (2003) und “Meds” (2006) anknüpfen. Hat sich auf “Loud Like Love” (2013) noch zu viel Plakatives, Synthetisches, Langatmiges getummelt, stimmt sie auf “Never Let Me Go” wieder, die Balance zwischen Rock-Volumen und Synthiefläche (“Hugz”, “Twin Demons”) wie auch zwischen der Placebo-Grundmelancholie und beweglichen Kontrapunkten, wie es etwa die Streicherbegleitung in The Prodigal eindrucksvoll vormacht. Denen gehen die Ideen nicht aus – und das im 28. Bandjahr. Martin Burger
Eine nach der Band benannte Platte hat zwei mögliche Ursachen: eine unabsichtliche oder eine bewusste. Entweder der fehlende Titel plakatiert auch auf Platte fehlende Kreativität, oder er unterstreicht die Ausnahmestellung in der Diskografie. Für The Mars Volta gilt letzteres. Bei aller Haken schlagender Prog-Akrobatik in ihrer Vita – so überrascht wie hier haben Omar Rodríguez-López und Cedrix Bixler-Zavala lange nicht. Soul- und Salsa-Pop in unter vier Minuten – Unwahrscheinlicheres konnte man für das siebte Album der Texaner kaum erwarten. Dass das niemand kommen sieht, zeigt sich auch im Vier-Ohren-Test, dem sich die Platte in VISIONS stellen muss, wo sie jene Geister spaltet, die bei “De-Loused In The Comatorium” noch auf einer Linie waren. Auf lange Sicht gewinnt allerdings auch hier die positive Seite. Nicht etwa trotz, sondern wegen des poppigen Einschlags der Songs, die nach zehn Durchläufen noch allerhand Überraschendes durchschlagen lassen. Denn zwischen Congas, gepfefferter Rhythmik und elegischer Elektronik verschraubt die Band sowohl Jazz als auch Krautrock mit karibischen Tanzstilen, die damit zuvor kaum in Berührung kamen. Daniel Thomas
+++ Foo Fighters-Pressesprecher Steve Martin hat offen über den heiklen Prozess der Bekanntgabe des frühen Todes von Schlagzeuger Taylor Hawkins gesprochen. “Es gab viel Gerede aus zweiter Hand in einer anderen Magazinstory, mit Leuten, die Dinge weitergegeben haben, die Taylor vielleicht tatsächlich gesagt hat, die man aber Freunden überlassen sollte, die unter Freunden reden”, sagte er im Gespräch mit Variety. Der PR-Manager war auch persönlich befreundet mit dem Schlagzeuger, was den Umgang mit dem Ereignis erschwerte. Über den gesamten Prozess erklärte Martin, dass “der richtige Ton” der wichtigste Aspekt ist, wenn es darum geht, “dieses Statement zu schreiben”. Martin gründete 1992 die PR-Firma Nasty Little Man und kümmerte sich im Laufe seiner Karriere um Künstlergrößen wie Radiohead, Nirvana, Gorillaz, Rammstein aber auch die Beastie Boys oder David Bowie. Schon bei Bowie und Adam “MCA” Yauch von den Beastie Boys verfasste er die jeweilige Presserklärung zum Tod der Musiker. Martin merkte an, dass der Tod von Hawkins deutlich “heikler” war als bei seinen anderen Klienten und verwies auf unterschiedliche Medienpraktiken in internationalen Ländern. Hawkins wurde leblos in einem Hotelzimmer in Bogotá gefunden, wenige Stunden vor einem Festivalauftritt der Foo Fighters. Er fügte hinzu: “Ich weiß nicht, wie ich es mache, denn es war immer ein Schockzustand. Es ist ein Segen und ein Fluch, dass ich es in allen drei Situationen richtig gemacht habe.” Die Foo Fighters und Dave Grohl nahmen in zwei üppigen Benefizkonzerten Abschied von Hawkins.
+++ Martin Duffy von Primal Scream ist gestorben. Der Keyboarder trat der Psychedelia-Band 1985 bei und prägte den Sound von Primal Scream in den späten Achtzigern. Tim Burgess von The Charlatans veröffentlichte die Todesmeldung auf seinem Twitterprofil. Später am Tag folgte ein Statement seitens Primal Scream via Twitter: “Es ist schwer, dies zu schreiben. Wir wissen nie, wie wir über den Tod sprechen sollen, außer mit höflichen Plattitüden. Ich möchte nur sagen, dass unser Seelenbruder Martin Duffy am Sonntag verstorben ist. Er erlitt eine Hirnverletzung aufgrund eines Sturzes in seinem Haus in Brighton. Wir von Primal Scream sind alle sehr traurig.” Duffy wurde 55 Jahre alt.
Tweet: Tim Burgess über den Tod von Martin Duffy
Another tragic loss of a beautiful soul. Martin Duffy stepped in to save The Charlatans when we lost Rob – he played with us at Knebworth and was a true friend. He toured with me in my solo band too – he was a pleasure to spend time with. Safe travels Duffy ???? pic.twitter.com/cvuEvvqYGa
Hard to write this. We never know how to speak around death other than polite platidudes. All I want to say is that our soul brother Martin Duffy passed away on Sunday. He suffered a brain injury due to a fall at his home in Brighton. We in Primal Scream are all so sad. pic.twitter.com/PqB2Kg2Xdq
+++ Dave Grohl hat ein weiteres Video der “Hanukkah Sessions 2022” veröffentlicht. Gemeinsam mit Pink hat der Foo Fighters-Frontmann den Song “Get The Party Started” gespielt. Sängerin Pink betrat in diesem Rahmen die Bühne mit den Worten: “Mein Name ist Alicia. Ich bin eine Jüdin.” Erst gestern veröffentlichte Grohl das erste Cover zu den diesjährigen Hanukkah-Sessions. Seit 2020 covern Dave Grohl und Greg Kurstin jährlich anlässlich des jüdischen Lichterfestes Songs von jüdischen Künstler:innen. Über acht Tage lang wird täglich ein Cover veröffentlicht – also für jeden Tag des Festes ein Song. Die Einnahmen der Sessions werden der Anti Diffamation League gespendet, einer Organisation, die sich gegen Diskriminierung und Diffamierung von Juden einsetzt. Die Songs wurden bereits Anfang des Monats während einer geheimen Show in Los Angeles aufgenommen.
Video: Dave Grohl & Pink – “Get The Party Started”
+++ Das Musical von Pavement wird als Teil eines Filmprojekts veröffentlicht. Regisseur Alex Ross Perry äußerte sich dazu in einem Interview mit dem New Yorker, dass das Projekt von Pavements Label Matador ins Leben gerufen wurde und Elemente einer Filmbiografie, Tourdokumentation und Teile des Musicals, sowie seiner Entstehung, beinhalten soll. Wann das Filmprojekt erscheint ist noch nicht bekannt. Anfang Dezember wurde das Debütalbum der Indierock-Veteranen im New Yorker Sheen Center als Musical aufgeführt. 2019 hatten Pavement ihre Reunion angekündigt, in diesem Jahr spielten sie zum ersten Mal seit 12 Jahren wieder in Europa.
+++ Greta Van Fleet haben ein neues Album in Aussicht gestellt. Die Retrorocker aus Michigan gaben beim Helping Hands-Benefizkonzert von Metallica ein Update zum nächsten Album. Bei dem Benefizkonzert spielten Greta Van Fleet als Vorband und gaben noch vor dem Auftritt einige Interviews. Schlagzeuger Danny Wagner überraschte die Frage zum Album und antwortete: “Wir sind gerade dabei, es abzuschließen.” Bassist Sam Kiszka fügte noch hinzu: “Es geht konzeptionell fast zurück zu den Tagen in der Garage, mit der rohen Energie des Sounds. Aber wir bauen das weiter aus, weil wir die besten Musiker sind, die wir je waren. Das aktuelle Album “The Battle At Garden’s Gate” erschien 2021. Ein Release-Datum wurde noch nicht genannt. Greta Van Fleet treten in den nächsten zwei Jahren als Support von Metallica bei deren Welt-Tournee 2023/2024 auf.
Instagram-Post: Greta Van Fleet bestätigen neues Material
+++ The Intersphere haben die neue Single “Wanderer” veröffentlicht. Thematisch behandelt der Song sowohl ein persönliche, als auch eine gesellschaftliche Weiterentwicklung: “Wir sind auf einer Reise, und noch nie war diese Reise so ungewiss. Alles fühlt sich gerade so an, als wäre die Entscheidung, ob man an der Abzweigung den einen oder anderen Weg nimmt, so bedeutend, so unumkehrbar, so folgenschwer”, so Frontmann Christoph Hessler in einem Statement. “Wir müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen und nicht nur tatenlos zusehen, wie die Menschheit, die es weit geschafft hat, nun an ihren eigenen krankhaften Auswüchsen zu ersticken droht.” Damit veröffentlichen die Prog-Rocker die erste neue Musik seit ihrem 2018 veröffentlichten Album “The Grand Delusion”.
Video: The Intersphere – “Wanderer”
Stream: The Intersphere – “Wanderer”
+++ The Wrens-Frontmann Kevin Whelan arbeitet an einem neuen Album. Die Band verkündete letztes Jahr ihre Auflösung, Whelan veröffentlichte anschließend die in den vergangenen Jahren entstandenen Songs unter dem Namen Aeon Station auf dem Album “Observatory”. Nun veröffentlicht Whelan ein Statement auf der Band-Webseite, in dem er ankündigt bald ein neues Album über Sub Pop zu veröffentlichen. Weitere Informationen zum neuen Namen des Projekts, ein Albumname und ein Veröffentlichungsdatum sollen im neuen Jahr folgen. Das gesamte Statement kann online gelesen werden.
+++ Iggy Pop plaudert mal wieder aus dem Nähkästchen. Laut einem Interview mit Mojo hat ihm Elton John in den 70ern einen üblen Streich zu Heroinzeiten gespielt: “Ich war wirklich weggetreten. Ich hatte in der Nacht zuvor zu viel genommen, also musste ich mir wahnsinnig viel spritzen lassen, um so weit zu kommen, dass ich gerade noch aufrecht stehen und das Mikro halten konnte”, erzählte der Sänger. “Und dann sah ich diesen Gorilla. Mir wurde klar, dass es kein echter Gorilla war, aber jeder, der ein Gorillakostüm anzieht, sieht riesig aus.” Ohne zu wissen wer im Kostüm – nämlich Elton John – steckte, lies er sich “hochheben und ein bisschen herumtragen, das war sehr lustig”. Sein 19. Studioalbum “Every Loser” erscheint am 6. Januar bei Gold Tooth.
Vom 18. bis 21. Januar findet das Eurosonic Noorderslag Festival auch im nächsten Jahr wieder in Groningen statt. Mit über 290 angekündigten Bands und Künstler:innen dürfte das Line-up für jede:n der knapp 40.000 Besucher:innen etwas zu bieten haben. Tickets gibt es online. Obwohl das ESNS in diesem Jahr nur online stattfinden konnte, können die Veranstalter:innen eine positive Resonanz ziehen und veröffentlichen nun die Ergebnisse des Exchange-Programms.
Das Exchange-Pogramm wurde 2003 initiiert um den Austausch zwischen Künstler:innen und Festival-Organisator:innen zu vereinfachen. So soll national bekannten Künstler:innen die Möglichkeit geboten werden, auch auf internationaler Ebene Erfolge zu verbuchen, indem sie neben der Möglichkeit für internationale Festivals gebucht zu werden, auch mediale Aufmerksamkeit bekommen. In der Vergangenheit konnte so bereits Bands wie Wet Leg und Fontaines D.C. ein Sprungbrett für ihre internationale Karriere geboten werden. Das ESNS möchte so einen Ausgleich zwischen der international präferierten US-Popkultur und der europäischen Musiklandschaft schaffen. Seitdem das Projekt ins Leben gerufen wurde, konnten so bereits über 4000 Auftritte von rund 1400 europäischen Künstler:innen auf internationalen Festivals vermittelt werden.
Die Ergebnisse für 2022 belaufen sich auf ganze 357 Shows von 149 Acts in 31 Ländern bei 86 Festivals in 28 Ländern. Von den zahlreichen Künstler:innen konnte die Schweizer RnB-Sängern Priya Ragu mit elf Auftritten am häufigsten gebucht werden, knapp gefolgt von der ukrainischen Rapperin Alyona Alyona. In der Top 5 sind außerdem Singer/Songwriterin CMAT aus Irland mit dabei, ebenso wie Yard Act und Enola Gay. Neben den am häufigsten gebuchten Künstler:innen, werden auch die Festivals prämiert, die am häufigsten Newcomer:innen buchten. Angeführt wird diese Top 5 von dem Hamburger Reeperbahn Festival, das gleich 23 Newcomer:innen im diesjährigen Line-up hatte. Auch das Pukkelpop Festival, das Sziget Festival und das Primavera Sound Festival wurden dank der zahlreichen Auftritte von aufsteigenden Künstler:innen ausgezeichnet. Alle Ergebnisse des ESNS Exchange-Programms können online eingesehen werden.
Zusätzlich liefert das ESNS-Radar eine Übersicht über die Erfolge der Newcomer:innen: neben den Höchstplatzierten europäischen Künstler:innen in den offiziellen Charts, wird ein Überblick über die Aufsteiger:innen gegeben, ebenso wie über die zuletzt neu gebuchten Künstler:innen auf Festivals. So kann das ganze Jahr über ein Überblick über die Erfolge der Künstler:innen gegeben werden.
“Mit großer Trauer geben wir bekannt, dass Terry [Hall], unser wunderbarer Freund, Bruder und einer der brillantesten Sänger, Songwriter und Texter, den dieses Land je hervorgebracht hat, nach kurzer Krankheit verstorben ist”, schreibt seine Band The Specials in den frühen Morgenstunden über die sozialen Medien. “Terry war ein wunderbarer Ehemann und Vater und eine der freundlichsten, lustigsten und aufrichtigsten Seelen. Seine Musik und seine Auftritte verkörperten die Essenz des Lebens… die Freude, den Schmerz, den Humor, den Kampf für Gerechtigkeit, aber vor allem die Liebe.”
Die genaue Todesursache des 63-Jährigen wurde vorerst nicht öffentlich gemacht und die Band bat darum, “die Privatsphäre der Familie in dieser traurigen Zeit zu respektieren”.
Hall wurde 1959 in Coventry geboren und durchlebte vor seiner Zeit bei den Specials eine turbulente Kindheit: Wie er unter anderem gegenüber dem NME ausführte, wurde er im Alter von 12 Jahren von einem Pädophilenring in Frankreich entführt, was dazu führte, dass er eine Valium-Sucht und Depressionen entwickelte. Mit 14 brach er die Schule ab und arbeitete in Gelegenheitsjobs, bevor er gegen Ende der 70er bei The Coventry Automatics einstieg, die sich später in The Specials umbenannten.
1979 hatten Hall und The Specials mit “Gangsters”, einer Neuinterpretation von “Al Capone” von Ska- und Reggae-Produzent Prince Buster, bereits ihren ersten Top-10-Hit. Ihr gleichnamiges Debütalbum wurde von Elvis Costello produziert und im Oktober desselben Jahres auf dem eigens gegründeten Label 2 Tone veröffentlicht. Der Nachfolger “More Specials” erschien bereits im September 1980. The Specials wurden mit diesen Alben zu den bekanntesten Vorreitern des britischen Ska-Revival-Genres, das auch als Two-Tone bekannt ist.
Ungewöhnlich im Vergleich zu ihrem tanzbaren und teils lässigen Ska- und Rocksteady-Songs verkörperte die Band mit ihrem Image und Texten denselben Spirit wie die ersten Punkbands. Besonders mit der Hit-Single “Ghost Town” (1981) nahm sich die Band Themen wie städtischem Verfall, Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Gewalt in den Innenstädten an und traf damit den Zeitgeist, als es um den Release zu Unruhen zwischen schwarzen englischen Jugendlichen und der Polizei kam.
Hall verließ The Specials schon 1981 nach dem großen Erfolg von “Ghost Town”. Mit den ebenfalls ausgestiegenen Bandkollegen Lynval Golding und Neville Staple gründete Hall das kurzlebige New-Wave-Trio Fun Boy Three. 1983 verließ Hall die Band wieder und gründete mit Mitgliedern der Lightning Seeds seine nächste New-Wave-Band The Colourfield.
2008 stieg Hall mit weiteren ehemaligen Mitgliedern wieder bei The Specials ein und veröffentlichte 2019 das Comeback-Album “Encore”. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Band noch “Protest Songs 1924-2012”, auf dem die Band eine Reihe Protestsongs neuinterpretierte. Hall spielte sein letztes Konzert mit der Band am 20. August im Escot Park in Devon.
Hall wirkte in seiner Karriere auch an weiteren Platten der Lightning Seeds mit, arbeitete mit Dave Stewart von den Eurythmics in einem kurzlebigen Projekt namens Vegas zusammen oder auch Künstler:innen wie Lily Allen, Tricky oder den Dub Pistols. Er brachte auch die beiden Soloalben “Home” (1994) und “Laugh (1997) heraus. 2001 war Hall auf “911” von D12 zusammen mit den Gorillaz zu hören, mit deren Bandchef Damon Albarn er auch später noch für verschiedene Projekte zusammenarbeitete.
Zahlreiche Bands und Künstler:innen vor allem aus Großbritannien bekundeten ihr Beileid über die sozialen Medien, unter anderem The Libertines, Sleaford Mods oder Happy Mondays. Als Reaktion auf Halls Tod schrieb Ex-Bandkollege Neville Staple via Twitter: “Wir wussten, dass es Terry nicht gut ging, aber wir wussten bis vor Kurzem nicht, wie ernst es war. Wir hatten gerade erst einige gemeinsame Musikvereinbarungen für 2023 bestätigt.”
“I was deeply saddened to hear about Terry Hall’s passing on Sunday. @SugaryStaple was called as we arrived in Egypt. We knew Terry had been unwell but didn’t realise how serious until recently. We had only just confirmed some 2023 joint music agreements together. This has hit me pic.twitter.com/sHNMJIwPII
From THE SPECIALS Neville Staple (@NevilleStaple) December 19, 2022
+++ Dave Grohl und Phoebe Bridgers sind gemeinsam mit Billie Eilish aufgetreten. Eilish spielte vergangenes Wochenende drei Konzerte in ihrer Heimatstadt Los Angeles, während derer sie verschiedene Featuregäste auf die Bühne einlud. Angefangen mit Phoebe Bridgers, die gemeinsam mit Eilish ihren Hit “Motion Sickness” von ihrem Debütalbum “Stranger In The Alps” performte, wenig später folgte dann Foo Fighters-Frontmann Dave Grohl, mit dem sie gemeinsam eine akustische Version von “My Hero” zu Ehren des verstorbenen Foo-Fighters-Drummer Taylor Hawkins performte.
Video: Billie Eilish & Dave Grohl – “My Hero”
Video: Billie Eilish & Phoebe Bridgers – “Motion Sickness” Live
+++ Metallica haben die neue Single “Lux Æterna” zum ersten Mal live gespielt. Dies geschah am Samstag im Rahmen des dritten “The Helping Hands”-Benefizkonzerts. Neben Metallica traten außerdem Greta Van Fleet auf, moderiert wurde das Event von US-Show-Host Jimmy Kimmel. Das Event fand zugunsten der Organisation “All Within My Hands” statt, die mit Hilfsorganisationen auf der ganzen Welt zusammenarbeitet. Nachdem 2020 coronabedingt nur eine Online-Ausgabe stattfinden konnte, war in diesem Jahr wieder Publikum vor Ort dabei. “Lux Æterna” ist die erste Single des neuen Metallica-Albums “72 Seasons”, das am 14. April erscheint. Das Album kann vorbestellt werden. Im nächsten Jahr kommen Metallica auf Tour, Tickets für die Shows gibt es online.
Eine frühere Version dieses Artikels behauptet an dieser Stelle anhand einer Instagram-Story, dass Max Gruber alias Drangsal das Ende seines Soloprojekts bekannt gegeben hätte. Gruber bestätigte uns gegenüber, dass dies nicht der Fall ist.
+++ Pearl Jam arbeiten weiter an einem neuen Album. Das bestätigte Gitarrist Stone Gossard in einem Interview. In diesem berichtete er auch, dass sie versuchen würden das Album möglichst bald fertig zu stellen: “Wir haben etliche Demos. Jeder in der Band schreibt, also geht es jetzt wirklich nur noch darum, herauszufinden, was für uns etwas Neues und Aufregendes ist. Und daran arbeiten wir. Ich denke, wir haben einen guten Start für eine weitere Platte, die hoffentlich gut wird.” Die Veröffentlichung des Albums soll laut Aussage Gossards aber frühestens 2024 anstehen. Bereits im März bestätigte Gossard, dass die Band an einem neuen Album arbeiten würde. Zuletzt 2020 hatten Pearl Jam ihr elftes Studioalbum “Gigaton” veröffentlicht.
+++ Blink 182 arbeiten scheinbar an einem Nachfolger von “Anthem” und “Anthem Pt.2”. Die Songs erschienen auf den Alben “Enema Of The State” und “Take Off Your Pants And Jacket” und gelten als jahrelange Fan-Favoriten. Drummer Travis Barker postete nun ein Video von sich aus dem Studio mit der Bildunterschrift “Anthem Pt.3”. Im Oktober kündigte die Band ihre Reunion mit Tom DeLonge an und veröffentlichten kurz darauf die neue Single “Edging”. Im September kommen die Pop-Punks im Rahmen ihrer Welttournee nach Deutschland. Die Konzerte sind bereits ausverkauft.
Instagram-Beitrag: Travis Barker teast “Anthem Pt.3” an
09.09. Köln – Lanxess Arena
16.09. Berlin – Mercedes-Benz Arena
17.09. Hamburg – Barclays Arena
20.09. Wien – Stadthalle
+++ Billy Talent haben gemeinsam mit dem FC St.Pauli ein Charity-Shirt veröffentlicht. Die Erlöse aus dem Verkauf gehen an Kiezhelden, die sich für die Obdachlosenhilfe auf St.Pauli einsetzen. Das Shirt ziert die Textzeile “You don’t have to battle this alone” aus dem Song “I Beg To Differ”. Der Teil ist auch des neuesten Albums der Kanadier, “Crisis Of Faith”, das Anfang des Jahres erschien. Das Shirt ist auf der Seite des FC St. Pauli bereits vergriffen, allerdings auch in den Läden vor Ort erhältlich.
Instagram-Post: FC St.Pauli macht gemeinsame Sache mit Billy Talent
+++ The Sidekicks haben sich getrennt. Die Emo-Indierocker aus Ohio verkündeten die Nachricht am Wochenende auf ihrem Instagram-Profil: “Die Leute haben danach gefragt und es ist an der Zeit, dass wir allen mitteilen, dass wir aufhören. Wir sind unendlich dankbar für jeden, der uns zugehört, eine Show besucht oder uns für eine Nacht untergebracht hat.” Seit 2007 veröffentlichte die Band vier Alben, zuletzt 2018 “Happiness Hours”.
Instagram-Beitrag: The Sidekicks kündigen ihre Auflösung an
+++ Kendrick Lamar hat ein Musikvideo zur Single “Count Me Out” veröffentlicht. In dem neuen Video ist Schauspielerin Helen Mirren in der Hauptrolle zu sehen, die Lamars Therapeutin spielt. Der Song ist Teil des neuesten Albums des Rappers, “Mr. Morale & The Big Steppers”, das im März erschien und das von dem Rapper Ende Oktober im Rahmen seiner Tour bei einem fulminanten Livestream-Event in Paris präsentiert wurde. Zuletzt veröffentlichte Lamar ein Video zum Song “Rich Spirit”.
Video: Kendrick Lamar – “Count Me Out”
+++ Kratzen haben eine Tour angekündigt. Das Kölner Trio veröffentlichte im September ihr neues Album “Zwei”, ihren selbstbetitelten Krautwave-Sound wollen sie nun im nächsten Jahr bei einer Reihe Konzerte präsentieren.
So fühlt es sich an, wenn sich Kreise schließen. Das bisher letzte Präsenz-Interview war mit Bela, Farin und Rod anlässlich ihres Album-Comebacks, im Anschluss folgte, was zuvor bereits zur Arbeitsroutine geworden war: Zoom-Interview auf Zoom-Interview. Bis es endlich wieder mal hieß: Ein Gespräch mit Musikern in einem Raum, mit echtem Blickkontakt und Ellbogen-Check steht an. Der Ort: erneut das Gelände der Columbiahalle in Berlin. Die Band: wiederum Die Ärzte. Alles beim Alten also? Nicht ganz. Das Wiedersehen in diesen unverändert wunderlichen Zeiten ist noch ein wenig herzlicher; außerdem scheint auch der Groove innerhalb der Band sich noch einmal zurechtgeruckelt zu haben. War beim Treffen anlässlich von “Hell” ein unterschwelliges Gefühl von Neuland, gleichzeitig eine Art Rückbesinnung zu spüren, mit Blick auf die lange Pause zwischen zwei Platten aber auch eine unterschwellige Aufregung, so wirken die drei ziemlich genau ein Jahr später um einiges selbstverständlicher. Man könnte jetzt das Schlagwort “Routine” einwerfen, aber das trifft es nicht. Die kribbelige Ungewissheit ist einer fast euphorischen Neugier darauf gewichen, was die Welt wohl sagen wird zu “Dunkel”, diesem neuen Album, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. Schon gar nicht so schnell.
Dass man so bald schon wieder über einem neuen Album zusammensitzen würde, kommt etwas überraschend.
Bela: Wir hören es heute zum ersten Mal…
Farin: …laut zusammen.
Bela: Klar haben wir es zu Hause auf unseren Stereoanlagen gehört, im Studio beim Mastern, aber jetzt wo alles fertig ist und man auf nichts mehr achten muss, ist es das erste Mal. Einfach mal eine Flasche aufmachen und aufdrehen.
Bevor wir uns “Dunkel” widmen, erst mal ein paar Worte zum Vorgänger “Hell”, das ist ja alles noch einigermaßen frisch. Wenn ihr darauf zurückblickt: Wie hat es sich für euch, nach einer doch ziemlich langen Pause ohne neue Platte, angefühlt, wieder ein Album herauszubringen?
Rod: Ein bisschen komisch, so ohne Tour.
Farin: Ohne Tour war es, als würden wir ins Leere rufen. Wie beim Soundcheck.
Bela: Die Platte kommt raus, geht in die Charts. Das guckt man sich also aus der Entfernung an und fragt sich: Wie kommt es wohl an, gibt es neue Fans, was sagen die alten Fans dazu?
Farin: Das bekommst du halt nur unmittelbar mit, wenn du anschließend live spielst. Natürlich gibt es Einträge im Gästebuch auf der Homepage, aber es fühlt sich anders an. Das hat nichts damit zu tun, wie es sonst läuft. Das ist der unpersönlichste Release, den wir je gemacht haben.
Rod: Absolut. Du hast halt auch gemerkt, dass es viele gar nicht mehr interessiert. Die haben zurzeit andere Probleme, da kümmert sich keiner um die Platte von irgendeiner Band. Schön, ihr habt also ein neues Album, das kaufe ich mir vielleicht nächstes Jahr.
Der Fokus hat sich verschoben, was die Aufmerksamkeit angeht.
Bela: Ich merke das auch. Ich bekomme oft Platten von Freunden zugeschickt, die ein Feedback von mir erwarten. Ich kann dann oft auch nur sagen, dass ich bislang nicht dazu gekommen bin…
Farin: …ich guck mir grad die Inzidenzzahlen an. [lacht]
Rod: Die Corona-Hotline.
Schon wieder da, ohne wirklich weggewesen zu sein: Die Ärzte (Foto: Jörg Steinmetz)
Lest ihr die Reviews über eure Platte?
Bela: Ja, schon, wir bekommen das irgendwann zusammengestellt.
Farin: Axel [Schulz, Manager] schickt ab und zu mal einen Link. Lest das mal, schreibt er dazu, ist aber nie ein Verriss. Es wird auf jeden Fall immer unwichtiger.
Bela: Ich habe in einem Mailorder-Katalog eine Ankündigung gelesen, da ging es zum Großteil darum, wie wir auf dem Coverfoto aussehen. Schon ganz lustig.
Habt ihr das Gefühl, immer noch als Musiker wahrgenommen zu werden? Geht es immer noch um eure Songs, oder spielt sich vieles womöglich auch in einem Bereich ab, in dem ihr vornehmlich als Phänomen aufgefasst werdet, auf einer Art Metaebene?
Farin: Der “moment of truth” ist ja nicht mehr so sehr die Charts. Es ist nicht mehr so wie früher, um es mal ganz einfach zu sagen. Aber wenn wir mit Tourdaten an die Öffentlichkeit gehen, und ich zwei Stunden später einen Anruf bekomme, dass die schon wieder ausverkauft sind, merkst du halt, dass da immer noch was ist. Ich weiß nur nicht, ob die alle kommen, um “Schrei nach Liebe” oder “Westerland” zu hören. Ich kann nicht sagen, ob wir noch relevant sind nur nostalgisch geschätzt werden. Das weiß ich einfach nicht. Wir waren halt auch noch nicht auf Tour. Die letzten Konzerte, die wir gemacht haben, auf dieser Clubtour vor den Festivals, die haben sich total gut und frisch angefühlt. Da gab es aber auch nur zwei neue Lieder, die haben wir natürlich beide gespielt, weil wir sonst nichts Neues hatten. Jetzt kommen zu diesen zweien noch 37 weitere dazu, mehr noch, wenn wir die B-Seiten mitzählen. Da müssen wir dann mal sehen, was die Leute sagen, so von wegen “Jetzt aber mal wieder ‘Junge’ spielen!”, oder ob die das alles hören wollen.
Statt auf Tour seid ihr mal eben in die “Tagesthemen” gegangen. Ein ziemlicher Coup, wie kam es dazu?
Bela: Einer unserer Mitarbeiter, Chris, der die Online-Sachen macht, hatte die Idee schon ziemlich früh. “Ihr müsst mal in die ‘Tagesthemen’!”, meinte er. Wir sagten nur, dass wir da doch schon gewesen wären. Das kommt ja ab und zu vor, bei irgendwelchen relevanten Bands, dass die in den Nachrichten auftauchen, wenn es um eine Platte oder um eine Tour geht. Müsste man anders machen, war so der Gedanke, aber das geriet erstmal wieder in Vergessenheit. Als wir dann das Video zu ‘True Romance’ gemacht haben, mit den ganzen Bands im Clip, bekamen wir über Porky von Deichkind Kontakt zu Linda Zervakis, die sich als Ärzte-Fan entpuppte und super entspannt war. Sie meinte, das mit dem Singen wäre nicht so gut, also haben wir das mit Siri und ihrem Handy gemacht, das war witzig. Da meinte Chris wiederum: “Nun frag doch mal!” Erst wollten wir nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber sie fand die Idee sofort klasse und rief ihren Redakteur an, der uns wiederum auch wohlgesonnen war, das aber überregional klären musste. Das ging dann okay und plötzlich hieß es: “Ihr könnt die ‘Tagesthemen’-Melodie spielen.”
Farin: Ich dachte bis zu dem Tag, wir gehen ins Studio, spielen – Überraschung! – die Intro-Melodie, und das war es.
Bela: Das dachte ich auch.
Farin: Und jetzt kann ich es ja sagen, weil es lange genug her ist: Am Tag vorher ist meine älteste und beste Freundin gestorben. Ich war also nicht super drauf und habe zwölf Minuten in einem Gespräch gestanden, auf das ich nicht vorbereitet war, und war nicht in der Form meines Lebens. Hinterher war es mir auch unangenehm, denn hätte ich gewusst, dass wir über das Thema reden, also die Veranstaltungsbranche, die Probleme von Bands und Künstlern in Corona-Zeiten, hätte ich mich definitiv darauf vorbereitet. Das war nicht unbedingt eine Sternstunde.
Bela: Aber wir wussten es einfach nicht. Dieser Talk wurde ja aufgezeichnet, und Ingo Zamperoni sagte erst unmittelbar vorher, worum es gehen würde: “Alarmstufe Rot”, die Veranstaltungskrise, und über die Platte könnten wir nicht sprechen. Ach so, na dann. Und schon hieß es: Kamera läuft! Ingo Zamperoni hat schon gut durchs Thema geführt, aber das mussten wir uns alles noch mal vergegenwärtigen.
Rod: Was stand da noch mal auf dem Flugblatt? [alle lachen]
Bela: Wir hatten schon unsere Agenda, aber eben nicht alle Fakten parat.
“Ohne Tour war es, als würden wir ins Leere rufen.”
Farin Urlaub
Ganz ehrlich: Als Zuschauer habe ich das nicht bemerkt. Für mich hatte das Hand und Fuß.
Bela: Das haben danach viele gesagt. Das haute schon hin, aber ich wäre gern besser gebrieft gewesen. Auch vom Sound her war das nicht ganz ohne, wir hatten nur eine Monitorbox, da hat man wenig gehört. Aber am Ende hat ja alles geklappt, das war klasse. Ingo Zamperoni postete es danach in seinen Kanälen und schrieb, er wollte immer schon mal Late Night machen, ihm hätte bislang nur die richtige Band gefehlt.
Wie habt ihr die Reaktionen der Öffentlichkeit erlebt?
Bela: Das hat ziemlich gespalten. Viele haben es einfach beschissen gefunden, dass wir da so in den Medienbetrieb rein sind. Für die Querdenker, Kritiker, für Leute, die wir ablehnen und die uns ablehnen, war das natürlich eine Steilvorlage: “Guck sie dir an, die Medienhuren!” Viele haben uns aber auch abgefeiert für das, was es ist. Die Ärzte haben mal wieder etwas gemacht, was noch niemand vor ihnen gemacht hat.
Farin: In diesem ganzen Gestocher im Nebel haben wir eben auch drei Sätze gesagt, die wirklich gut waren, und da habe ich mich gefreut, dass die Medien genau die drei Sätze genommen und verbreitet haben. In dieser Reduktion war das schon in Ordnung, wie wir das geäußert haben.
Rod: Es ist gut ausgegangen.
Bela: Rod war noch der Eloquenteste von uns dreien.
Rod: Es ist letztlich für beide Seiten gut gelaufen, für eine Sendung wie die “Tagesthemen” war es natürlich auch das totale Risiko. Es ist nicht die Heilige Kuh um 20 Uhr, die Sendung ist ein etwas jüngeres Format, in dem man sich mehr trauen kann, dennoch haben die sich für uns weit aus dem Fenster gelehnt. Das gab viral schon eine Diskussion, Die Ärzte in den “Tagesthemen”, das kam ganz schön ins Rollen. Ich habe eine Woche später auf einer Soli-Veranstaltung für “Alarmstufe Rot” gespielt, da tat mir irgendwann die Schulter weh, soviel wurde mir draufgeklopft. [lacht] Das kam da ganz gut an.
Als wir uns im letzten Jahr vor dem Release von “Hell” getroffen haben, stand da schon fest, dass es “Dunkel” geben würde?
Farin: Wir wussten es bereits. Wir wussten nicht genau, wie es aussehen würde, es sind auch noch mal neue Songs entstanden in der Zwischenzeit, aber es war schon ein Album fertig, das “Dunkel” hieß.
Und ihr habt nichts gesagt.
Farin: Natürlich nicht! [lacht] Eine Ü-Ü-Überraschung ist schön, doch hat man sie dann erst gesehen, ist sie vorbei…
Bela: Wir hatten ein Album mit 18 Songs, das haben wir festgelegt. Dann wollte ich aber unbedingt noch was schreiben, weil ich mit ein paar Sachen nicht zufrieden war, die wir teilweise schon aufgenommen hatten. Hier fehlte mal eine Stelle, da ein Text, woanders wollte ich noch was Neues machen. Da sagte Jan dann: “Ich auch!” Und Rod hat auf den letzten Drücker auch noch mal abgeliefert. Am Ende waren es 14 Lieder, das letzte kam einen Tag, bevor wir ins Studio sind. Für den Titelsong “Dunkel” kam das Riff von Rod per Demo. Ich dachte so: Ja, vielleicht fällt mir ja noch ein Text und eine Gesangsmelodie ein, und dann kam das tatsächlich. Am nächsten Tag habe ich zu Hause eine Strophe und einen Refrain aufgenommen und den Leuten im Studio im vorspielt. Die fanden es geil. Anschließend habe ich es Rod geschickt, der hat weitergemacht. Am Ende haben wir von den alten Songs acht ausgetauscht.
Bela B 2021 (Foto: Jörg Steinmetz)
Das bedeutet ja…
Bela: Genau, wir haben ziemlich viele B-Seiten übrig. Ich habe für insgesamt 50 Lieder Schlagzeug eingespielt.
Mit Blick auf die unterschiedlichen Klangfarben, die Grundtöne der beiden Alben: War das von Anfang an geplant, war es Teil des Konzepts?
Bela: Nein.
Farin: Nee, das hat sich so ergeben, dass “Dunkel” jetzt musikalisch und auch textlich tatsächlich dunkler ist. Vielleicht haben wir uns auf Hell erst mal austoben müssen. Nach dieser langen Abwesenheit war es mehr so: “Ach, lass uns dies noch probieren! Und lass uns das mal machen!” Danach war das Gefühl eher so: “Jetzt mal mehr auf die Band gehen.” Aber das war von vornherein nicht so geplant. Es passierte organisch.
Bela: Bei “Hell” hatten wir zum ersten Mal in der Geschichte der Band die Möglichkeit, die perfekte Kopplung zu machen. Perfekt aus unserer Sicht heißt: keine Langeweile aufkommen lassen, große Unterschiede zwischen den Songs herausarbeiten. Da haben wir erst einen richtigen Rocker von einem Lied, danach gibt es für uns drei, vier Möglichkeiten, mit etwas völlig Konträrem anzuknüpfen. Das macht das Ganze zu einem vielschichtigen, abwechslungsreichen Album, das bei jedem Durchlauf noch mal neu entsteht. Die Chance hast du sonst nicht. Du nimmst ja nicht mal eben 40 Songs für ein Album auf, um anschließend die Rosinen zu picken.
Farin: Das ist eigentlich Wahnsinn.
Bela: Dadurch hatten wir quasi ein zweites Album parat. Anti zum Beispiel, der jetzt auf “Dunkel” ist, sollte auf “Hell” landen, aber wir haben ihn ganz am Ende dann doch gegen Plan B ausgetauscht, weil wir das Gefühl hatten, dass es nach acht Jahren Abstinenz der richtige Song ist, um sich bei den Fans zurückzumelden. Wohingegen “Noise” eigentlich die kalkulierteste Single seit Jahrzehnten ist. Das hat so einen typischen Ärzte-Sound.
Farin: Dit sind meine Ärzte.
Bela: Wobei es so eine Zusammenarbeit zwischen Jan und mir, bei der wir 50/50 wirklich alles teilen und auch singen, seit “Schrei nach Liebe” nicht mehr gegeben hat. Das ist schon dermaßen Richtung Erwartungshaltung, aber die Entscheidung ist auch erst vor zwei, drei Wochen gefallen.
“Jede Information, die wir herausgeben, wird total abgefeiert.”
Bela B
Wie habt ihr die Zeit nach der Veröffentlichung verbracht?
Bela: Nach “Hell” haben wir erst mal Pause gemacht, viel telefoniert und überlegt, wie wir weitermachen. Mit unseren Co-Produzenten musste ein Konzept gefunden werden. Wir sind in ein Studio in Brandenburg und haben die Aufnahmen dort fertiggestellt. In der Zeit habe ich da auch vor Ort gewohnt. Zu Hause kann ich zwar Sachen aufnehmen; mit dem guten Mikro, das ich habe, eigentlich auch Gesang. Aber ich finde es im Studio schon besser. Ich brauche…
Farin: …Feedback.
Bela: Genau, ich brauche da direkt eine Reaktion.
Stand der Zeitpunkt der Veröffentlichung fest, die Tatsache, dass es so schnell mit “Dunkel” weitergehen würde?
Farin: Das stand fest, nicht das genaue Datum, aber schon, dass es so schnell gehen würde.
Bela: Es gab zu Anfang sogar mal den Plan, beide Platten gleichzeitig herauszubringen. Schlagzeug und die ersten Basics haben wir ja schon 2019 aufgenommen, dann noch mal einen Break gemacht, weil Rod länger wegfahren wollte.
Farin: Und dann kam Corona.
Bela: Dann kam Corona, und wir haben uns entschlossen, erst einmal ein Album zu machen. Damit konnten die Presswerke und die Druckereien gut dealen. Das zweite dann ein Jahr später, war ja auch schon spektakulär genug. Erst acht Jahre weg, dann zwei Platten Schlag auf Schlag.
Wann ging es das letzte Mal so schnell?
Farin: Bei “Planet Punk” und “Le Frisur”.
Bela: Da lag sogar nur ein halbes Jahr dazwischen. Wir haben noch zwei Singles gemacht, erst sollte es eine EP werden, und dann wurde es doch ein Album.
Farin: Aus Versehen. Plumps.
Gab es von wirtschaftlicher Seite aus jemanden, der Bedenken anmeldete, dass man sich womöglich mehr Zeit lassen sollte?
Bela: Wegen dieser vagen Tour-Situation sagen die Leute, mit denen wir zusammenarbeiten, und auch unsere eigene Plattenfirma natürlich auch: Wenn jetzt die Platte kommt und wir wieder ein halbes Jahr nicht touren können, das ist vielleicht nicht so cool. Alles schwer zu sagen.
Farin: Irgendwann muss man es einfach mal machen.
In diesen Zeiten, da vieles so unwägbar ist, sicher keine schlechte Idee.
Bela: Jede Information, die wir herausgeben, wird total abgefeiert. Das ist natürlich ein Indiz dafür, wie sehr die Leute sich nach guten Nachrichten sehnen.
War darunter auch die Sehnsucht nach “Karnickelfickmusik”? Ich habe offen gestanden bei der Abkürzung im Songtitel, “KFM”, an KenFM gedacht und ein Lied über Verschwörungstheoretiker erwartet.
Farin: Nee nee, auf keinen Fall.
Ist das Wort ein Band-Joke? Ich habe das nie vorher gehört.
Farin: Nein, ich kannte das als feststehenden Begriff für diese schnelle Rumpelmusik, so von wegen: “Ihr immer mit eurer Karnickelfickmusik.” Bela kannte das auch nicht, aber für Rod und mich war das ein ganz normaler Ausdruck.
Rod: Das hat mal eine Freundin zu mir gesagt, als ich diesen melodischen Ami-Hardcore gehört habe. Das kannte ich schon seit den 90ern.
Farin: Ja, ganz genau, das ist ein alter Ausdruck. Bela dachte, ich habe mir das ausgedacht. Wir singen ja auch im ersten Song des Albums traditionell gern mal über uns, als Einleitung. Nicht auf jedem Album, aber das ist auf sehr, sehr vielen Alben der Fall, so auch diesmal. [lacht]
Beim einmaligen Durchhören gerade eben habe ich mir bei den Stücken ganz kurze Notizen gemacht. Da stehen jetzt Begriffe wie brachial, geradeaus, dunkel, “Killers-Beat”. Ein Wort, das mehrfach vorkommt: Brett.
Farin: Das klingt doch sehr gut.
Alle: [grinsen]
Vom Einstieg an dauert es bis zum Song Tristesse, der an siebter oder achter Stelle steht, bis ihr den Druck mal etwas rausnehmt. Habt ihr euch da gegenseitig angefeuert?
Farin: Nee, gar nicht. Das kam tatsächlich einfach so rum und hat mich letztlich selbst überrascht. Ich habe da ja auch Bandbreite angeboten quasi, aber da ham se jesacht, dit und dit und dit. Da dachte ich nur, okay, das sind die fetten Songs. Gerne.
Bela: Bei mir ist es schon ein bisschen länger so, eigentlich seit den 90ern, dass ich Angst habe, dass so eine gewisse Altersbehäbigkeit einsetzt. Wenn man lange zusammenspielt und wenn man besser spielt, passiert es, dass viele anfangen zu grooven und sich darin irgendwie gefallen. Ich habe das erlebt bei den Vibrators zum Beispiel, so Bands, die früher mal geil zickig waren, dann aber irgendwann komische Pubrocker wurden. Bei uns ist es jetzt der Fall, auch ohne irgendwelche Bedenken oder Gedanken an die Fans, ob das schnell genug oder zu schnell ist, dass wir uns viel besser verstehen als früher. Im Studio denkt man zuweilen langsamer, als die Songs womöglich sein sollten, weil man in einem bestimmten Groove ist. Bei “Hell” und “Dunkel” ist es aber einfach sehr gut gelaufen, was das angeht.
Farin Urlaub 2021 (Foto: Joerg Steinmetz)
Offen gestanden hatte ich früher das Gefühl, dass Härte bei euch auch immer etwas Selbstreferentielles hatte. Es ging um den Spaß an der eigenen Heaviness. Diesmal kommt es mir natürlicher oder auch musikalischer vor.
Farin: Selbst wir konnten uns nicht dem Besserwerden verweigern.
Alle: [lachen schallend]
Farin: Wir haben es jahrelang versucht, aber irgendwann ging es nicht mehr anders.
Bela: Das ist doch eine prima Überschrift: Auch wir konnten uns nicht dem Besserwerden verweigern.
So sei es.
Rod: Die sympathischen Ärzte aus Berlin.
Bela: Da werden die Ärzte-Feinde aufhorchen. “Ich hab’s immer gewusst!”
Farin: “Ich hasse sie!”
Noch mal zur Länge des Albums – stand die unverrückbar fest?
Bela: Wir können das ja ruhig jetzt so sagen – es gab mal das Gespräch, ob es der Platte nicht guttun würde, wenn zwei Songs weniger drauf wären, von wegen, mit 17 Stücken wäre es eine noch bessere, noch kompaktere Platte. Da waren wir beide [zeigt auf Farin] am Telefon und haben gesagt: Und, nehmen wir was runter?
Farin: Nee.
Bela: Nee, machen wir nicht.
Farin: So weit musste erst mal kommen als Band. [lacht]
Rod: Ich hätte ja gleich ein Zehn-Song-Album vorgeschlagen.
Farin: Da wären wir ja verrückt.
Rod: Nein, danach noch ein drittes rausbringen.
Farin und Bela: Das schaffen wir auch so noch.
“Die Leute haben zurzeit andere Probleme als die Platte von irgendeiner Band.”
Rodrigo González
Habt ihr Favoriten unter diesen vielen Songs?
Farin: Wenn ich jetzt sagen würde, dieses oder jenes ist mein Lieblingslied, wäre ich zu den anderen 18 Stücken ungerecht. Jedes Lied ist immer nur ein Aspekt dieser Platte, da gibt es keinen, der überwiegen soll.
Bela: Die Zusammenarbeit hat auch echt Spaß gemacht, weil jeder mit seinem Instrument den Song noch mal entdeckt hat. Farin hat seine Meinung über Equipment, nachdem er vor vielen Jahren seine Gitarren verkauft hat, völlig geändert und war offen für Sound-Experimente, speziell auch mit alten Gitarren und Verstärkern. Irgendwann sind wir so auf die Crucianelli gekommen, einer Billo-Gitarre aus den 60ern, die einen ganz eigenen Klang hat. Ein wunderschönes Instrument, da haben wir jetzt praktisch einen Fanclub gegründet. Mit der hat er jetzt das meiste eingespielt, was wirklich schwierig ist, weil die so komische Tonabnehmer hat.
Farin: Supermikrofonisch. Wenn du dich unterhältst, dann ist das in der Gitarre drin.
Rod: Sag doch einfach Sperrmüll. [lacht]
Farin: Stimmt, das ist wirklich Sperrmüll. Eine Hertie-Caster, eine gutaussehende Hertie-Caster.
Bela: Oben Kunststoff, unten Holz.
Farin: Pressspan!
Bela: Aber die klang so speziell, dass wir die fast überall eingesetzt haben. Die klang so zwischen Power Pop und Hardcore-Sounds teilweise, was ganz Eigenes.
Farin: Ich habe unterm Strich noch nie so viele verschiedene Gitarren gespielt wie auf diesem Album. Noch nie!
Bela: Wir haben uns ganz viel über Gitarrensounds ausgetauscht, das war schön. Dunkel ist halt auch noch viel mehr eine Gitarrenplatte als “Hell”.
Farin: Yes!
Bela: Bei diesen Twang-Sounds auf Danach kamen wir irgendwann auf diesen Typen, der viel Filmmusik macht, Ry Cooder. Da gibt es eine Stelle, wo er nur einen Ton spielt, in seiner Scheune, mit einem langen Kabel, der Ton kommt erst zehn Sekunden später an, so was spielte Farin auch in der ersten Strophe. Dann machte er Pause, Rod spielte den Bass ein, schnappte sich die Gitarre und spielte in der zweiten Strophe und im zweiten Refrain seine Form vom Bottleneck ein. Das wollten wir erst noch im Booklet vermerken.
Farin: Solo 1 und Solo 2.
Bela: Ja, das haben wir dann vergessen, aber so was liebe ich. Ganz geil. Die Zusammenarbeit, ich werde nicht müde, es zu erwähnen, die war wirklich großartig.
Farin: Da müssen wir an dieser Stelle mal Philipp Hoppe erwähnen, den Philsen. Den haben wir bisher immer verschwiegen. Das ist einer von den beiden, mit denen wir das Album gemacht haben, Oliver Zülch ist der andere. Philip ist ein totaler Gitarrenfan, der hat von sich aus im Studio schon immer um die 15 Gitarren-Amps da stehen und auch seine eigene Gitarrensammlung. Dann haben wir auch noch unseren Kram mitgebracht. Also, wir hatten echt Auswahl.
Bela: Wir haben halt auch eine Sammlung zu Hause.
Farin: Meine entsteht gerade neu. Das ist lustig, ich fang wieder bei null an. Rod kommt vorbei und sagt: “Was, du hast schon wieder eine neue Gitarre?” Ich sag: “Ja, aber die ist total geil”. “Viel zu teuer, du Idiot, die kriegst du doch für 500 Euro.” [lacht]
Bela: Man muss das echt mal sagen, es gab Ärzte-Platten, zum Beispiel “Jazz ist anders”, die hast du mit zwei Gitarren eingespielt. Das waren technisch einwandfreie Geräte, die einen ganz glasklaren Sound geschickt haben, aber aus meiner Sicht nicht so viel Seele hatten. Instrumente, die so kleine Macken haben, sind cooler. Wie Jack White es schon sagte: Auf einer Gitarre, die von sich aus gut klingt, kann ja jeder was. Du musst mit deinem Instrument auch ein bisschen kämpfen. Klar sind das jetzt so nerdige Details, die aber der geneigte Hörer schon entdecken kann.
Farin: Das hat schon echt Spaß gemacht. Horses for courses, immer wieder ein neues Instrument. Da, die! Nein, die hier ist geil! War schön.
Rod 2021 (Foto: Jörg Steinmetz)
Von der schönen Studioarbeit zum momentan eher schwierigen Geschäft. “Verschoben auf 20222 liest sich so lapidar. Wie aufwändig und schwierig ist der Prozess dahinter?
Farin: Frag am besten mal Kiki [Ressler, Booker]. Im Ernst. Was wir dir jetzt erzählen, ist total aus dritter Hand. Wir wissen nur, dass das unfassbar viel Arbeit ist.
Bela: Ein paar Sachen können wir schon sagen. Also die Tour musste verschoben werden, wobei wir da noch gelacht haben am Anfang und dachten, wir sind ja erst im Herbst dran. Antilopengang haben ihre Tour sogar zweimal verschoben, ZSK auch, Bands also, mit denen wir wegen “True Romance” in Kontakt waren.
Farin: Wir dachten ziemlich lange, wir wären safe.
Bela: Irgendwann war es bei uns dann auch so. Erst wurde es aufs nächste Jahr verschoben, dann dehnte sich das immer weiter. Wir starten jetzt zwei Wochen früher, aber nicht, weil es mehr Shows sind, sondern weil du keine Venues mehr bekommst.
Farin: Nächstes Jahr ist alles dicht. Deutschland ist dicht, du kriegst keinen Club, keine Halle, kein Zelt.
Bela: Das ist brutal schwer.
Farin: Kiki hatte einen riesigen Aufwand.
Bela: Man spricht mit Versicherungen, die dich sonst wegen Krankheiten versichern. Die sagen dann: “Pandemie? Ist doch keine Krankheit!”
Farin: Das ist sehr unschön gerade.
Rod: Vor allem für die örtlichen Veranstalter ist es scheiße. Da kann man nur hoffen, dass die das nächste Jahr noch im Business sind.
Farin: Nicht nur die, auch die ganzen Crews. Ein Jahr lang kellnern? Ach nee, geht ja auch nicht.
Bela: Wir konnten unserer Crew für die ausgefallene Wintertour ihre halbe Gage zahlen. Ihre Hilfsanträge haben die infolgedessen zurückgezogen, weil sich das nach Steuer sonst nicht gelohnt hätte. Das heißt, die haben halb so viel bekommen, als sie verdient hätten, haben aber dieselben Unkosten. Konnten aber gleichzeitig die staatliche Hilfe nicht in Anspruch nehmen, sonst hätten sie Geld verloren. Das war nicht so cool.
Farin: An allen Ecken und Enden war es scheiße. Wie gesagt, womit wir wieder am Anfang wären: Ein Album zu veröffentlichen, ohne Feedback, ohne Fan-Chöre, das ist schon seltsam.
Bela: “Hell” ist immer noch in den Charts, steigt jetzt gerade wieder.
Farin: 20 Alben mehr verkauft, zehn Plätze hoch. Yeah!
Rod: Ein Erdbeben in den Charts.
Die Berlin-Tour durch kleinere Clubs ist dagegen wieder eine klassische Ärzte-Idee. Nach dem Motto: Irgendwann sollten wir das einfach mal machen.
Farin. Genau so war es.
Bela: Es gab vor Ewigkeiten die Idee, eine Berlin-Tour zu machen, und zwar als Support. Bei zehn verschiedenen Acts spielen wir jeweils unangekündigt das Vorprogramm. Zehnmal unterschiedliches Publikum, das hat uns daran gereizt. Aber wir haben keine Bands gefunden.
Farin: Die natürlich so: “Hey klar, wir lassen Die Ärzte vor uns spielen. Aber sicher!”
Bela: Dann gab es eine Band, da hieß es, wir sollten dafür bezahlen, aber so weit wollten wir auch nicht gehen. Am Ende waren es zwei Bands, eine englische und eine deutsche, Human League und Bonaparte. Die spielten aber ausgerechnet am selben Tag, sodass wir uns entscheiden mussten, mit wem wir es machen. Wir haben abgestimmt, mit 2:1 für Bonaparte, haben auch gespielt, und das war total geil.
Wie reagierte das Publikum?
Bela: Die sind durchgedreht. Viele waren noch draußen, als die ersten Töne kamen, und die konnten es echt nicht glauben.
Farin: Wir haben in glückliche Gesichter geguckt.
Rod: Das war so geil. Die Fans wussten, Die Ärzte spielen irgendwo. Die Beatsteaks spielten am selben Tag, das war die eine Vermutung.
Bela: Es gab so ein Fantreffen in Berlin, da gab es den Tipp, die Leute sollten über Nacht bleiben. Die Ärzte spielen irgendwo. Viele haben sich Tickets für die Beatsteaks geholt, aber wir spielten eben bei Bonaparte.
Farin: Manchmal scheitern schöne Ideen ja an der Realität, aber die Berlin-Tour wollten wir unbedingt machen.
Bela: Es gab noch Diskussionen, welche Clubs wir nehmen.
Das stelle ich mir gut vor, wenn im Booking-Büro eines kleinen Ladens das Telefon klingelt: “Hallo, hier sind Die Ärzte. Wir würden gerne bei euch spielen.”
Bela: Am meisten freue ich mich auf den Schokoladen. Das ist kaum vorstellbar, wie das gehen soll. Die Backline passt da gar nicht rein.
Farin: Entweder die Backline oder die Band, ihr müsst euch entscheiden.
Bela: Ich war da ein paar Mal zum Biertrinken, Rod hat dort schon gespielt. Man kann es sich nicht vorstellen, dass da 200 Leute reinpassen. Da bin ich sehr, sehr gespannt drauf.
Stichwort Support: Wie sieht euer Vorprogramm aus?
Farin: Die Clubshows machen wir allein, bei den Open Airs hätten wir gerne Gäste.
Bela: Das müssen wir dann klären. Wenn wir dieses Jahr spielen, ist das die erste Tour nach neun Jahren. Da wollen wir auch allein auftreten. Wir wollen die Freiheit haben, auch mal länger zu spielen und das kurzfristig zu entscheiden.
Die Fans wird das sehr freuen. Ich danke euch für das Gespräch. Wenn es so weitergeht, dann…
Rod: …sehen wir uns in einem Jahr wieder.
Farin: Oder in einem halben Jahr. Das neue Ärzte-Album, jetzt noch schneller.