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Hoffnungsschimmer in dunklen Zeiten

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Miep Gies: Der Frau, die von 1942-1944 Anne Frank und ihre Familie in ihrer Wohnung versteckt hielt und in einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte bewiesen hat, was Mut bedeutet, wird nun eine achtteilige Serie gewidmet. Die amerikanische Produktion “A Small Light” erscheint am 1. Mai und würdigt das Leben und Wirken der Niederländerin. Dabei konfrontiert die Serie die Zuschauer:innen mit der Frage, wie sie selbst an der Stelle der 2010 verstorbenen Miep Gies gehandelt hätten und inwiefern ihr Mut auf heutige Zeiten übertragbar ist. Bereits vor einigen Wochen war der Trailer zur Serie erschienen, nun gibt es Details zum Soundtrack.

Executive Producer Este Haim (Haim-Bassistin) hat ein Album mit Coversongs angekündigt, das am 23. Mai erscheinen wird. Dazu sagt sie: “Ich kann gar nicht in Worte fassen, was für eine Ehre und ein Privileg es ist, an dieser Serie mitzuwirken, zumal es meine erste Rolle als EMP ist. Mieps Geschichte ist die einer modernen Frau, die sich für das Richtige einsetzt, und das sollte uns alle weiterhin inspirieren. Ich freue mich so sehr, dass ich dazu beitragen kann, dies durch die Kraft der Musik zum Leben zu erwecken.”

Beigesteuert wurden die Coversongs von ihrer Schwester und Bandkollegin Danielle Haim, Angel Olsen, Kamasi Washington, Weyes Blood, Moses Sumney, Remi Wolf sowie Sharon van Etten und Michael Imperioli. Die von Ariel Marx komponierte Filmmusik wird bereits ab dem 19. Mai bei verschiedenen Streaminganbietern erhältlich sein.

Daneben werden vor dem eigentlichen Veröffentlichungstermin ab Mai jede Woche zwei weitere Songs veröffentlicht: Mit “Till We Meet Again” von Danielle Haim, und “Cheryl” von Kamasi Washington erscheinen am 5. Mai die ersten beiden Coversongs. “Till We Meet Again” wurde 1918 im Original von Doris Day eingesungen, “Cheryl” (1947) stammt von Jazz-Legende Charly Parker.

“A Small Light” wird ab dem 1. Mai bei National Geographic sowie im Stream über Hulu und Disney+ abrufbar sein. Der Soundtrack kann bereits vorbestellt werden.

Tracklist: “A Small Light – Songs From The Limited Series”

01. “Till We Meet Again”
02. “Cheryl”
03. “I Don’t Want to Set the World on Fire”
04. “My Reverie”
05. “When You’re Smiling – Weyes Blood”
06. “Autumn Leaves”
07. “I’m Making Believe”
08. “I’ll Be Seeing You”

Aus der Vogelperspektive

Da, wo Bird’s View auf ihren bisherigen Singles noch entfernt an die Foo Fighters erinnern, ziehen sie jetzt einen Strich: Mit “Too Old” folgt ein Song, der in melancholische Tiefen herabsinkt und elementare Frage stellt und schon das bloße Handeln hinterfragt. “At some point you’re too old to die young“, heißt es im Refrain. So scheint auch die Protagonistin im dazugehörigen Video ihre Existenz zu hinterfragen, während sie bei diesigem Wetter nachts umherläuft.

Die Band erklärt den Ansatz des Songs so: “In ‘Too Old’ geht es darum, dass man jetzt leben sollte. Mit dem Kopf durch die Wand, nicht zu viel nachdenken, auf die Fresse fallen und wieder aufstehen, schnell Leben! Man redet oft aneinander vorbei und wir waren schon immer gut darin, Sachen nicht klar zu kommunizieren. Also sprich aus, was du denkst!”

Das Video verdeutlicht zudem psychischen Höhen und Tiefen durch wechselnde Farbgebung in Orange und Blau. “Too Old” lässt einen allerdings auch nicht völlig niedergeschlagen zurück, sondern erhebt sich den nach instrumentalen Tiefen auch wieder: durch lautere Gitarren und dem angerauten Gesang von Frontmann Niko Huber.

Bird’s View veröffentlichen am 19. Mai ihr Debütalbum “Red Light Habits”, das weiterhin vorbestellt werden kann.

Bird’s View – “Red Light Habits”

cover BIRD S VIEW - Red Light Habits

01. Lay Down”
02. “Phoning”
03. “Red Light Habits”
04. “Kamo”
05. “Ambivalent”
06. “Too Old”
07. “Spit”
08. “City of Sunshine”
09. “Somehow”
10. “Home to Home”
11. “No Champagne”
12. “Dressed Wrong”
13. “Make It Two”

“Ich kam mir schäbig vor”

Plötzlich geht nichts mehr. Dabei fängt alles an wie gehabt. Die Zwillingsbrüder Aaron und Bryce Dessner bereiten für das neunte Album von The National Songskizzen vor, die sie ihrem Sänger Matt Berninger schicken, damit er auf dieser Basis Texte und Gesangsmelodien entwickelt. Das Verfahren ist erprobt, zuletzt angewendet hat es die Band auf dem Album I Am Easy To Find” von 2019, mit mehr als einer Stunde Spielzeit ihr längstes Werk. Doch diesmal, irgendwann 2021, scheitert der Prozess. Matt Berninger, zuvor ein zuverlässiger Lieferant, leidet unter einer Schreibblockade, die bereits mehrere Monate andauert. Aufgrund der Pandemie ist die Band voneinander isoliert und fühlt sich machtlos. Berninger, ohnehin ein zweifelnder Mensch, sucht nach Gründen. Er findet und bekämpft sie. Am Ende dieser niederschmetternden Phase in der Bandbiografie finden The National zu neuer Kraft: Mehr als zweieinhalb Jahre nach dem letzten Prä-Corona-Gig steht die Band im Mai 2022 wieder auf der Bühne, ein Knoten löst sich, die Arbeiten zum neuen Album machen plötzlich große Fortschritte. First Two Pages Of Frankenstein heißt die Platte. Sie stellt die Klangwelt dieser Band zwar nicht auf den Kopf, zeigt aber: The National funktioniert noch. Eine simple Feststellung, die Matt Berninger 2021 intensiver denn je infrage gestellt hat.

Der Sänger und Texter von The National gibt weltweit nur sehr wenige Interviews zum neuen Album. Warum das so ist, wird im Gespräch schnell klar: Wenn er über die neuen Songs, ihre Inhalten und Entstehungsgeschichten spricht, wird es sofort persönlich, emotional, intensiv. Er spricht über die Ängste, die er ständig mit sich herumträgt.

Über die Befürchtungen, etwas für ihn enorm Wichtiges könnte kaputtgehen: die Band, seine Beziehung, sein Verhältnis zu sich selbst und zu seinem Gehirn, dem er einen Song widmet, den er zusammen mit Phoebe Bridgers singt: “Your Mind Is Not Your Friend”. Berninger spricht auch über das Stück “The Alcott”, in dem Pop-Superstar Taylor Swift die heikle Rolle des Counterparts übernimmt – beim Schreiben des Textes hatte Berninger seine Frau Carin Besser im Kopf. Wie grüblerisch er unterwegs ist, zeigt auch das Stück “Eucalyptus”, in der er sich sehr konkret mit der Frage auseinandersetzt, was passiert, nachdem eine Beziehung endgültig in die Brüche gegangen ist. Wobei ihn weniger der titelgebende Eukalyptus-Baum interessiert als die Frage, an wen die wichtigen Schallplatten gehen, die man sich im Laufe der Jahre gemeinsam angeschafft hat: “What about the Cowboy Junkies? What about the Afghan Whigs?”

The National (Foto: Josh Goleman)
The National (Foto: Josh Goleman)

Matt, was ist denn nun mit den Platten der Cowboy Junkies und Afghan Whigs, welche würdest du im Fall der Fälle behalten wollen?

Matt Berninger: Im Zweifel alle. [lacht]

Gibt es eine traurigere Situation, als die, wenn man im Zuge einer Trennung darüber entscheiden muss, wer welche Platten behalten darf?

Kaum vorstellbar, und sie passt zum Song “Eucalyptus”, der ja auch recht dunkel geraten ist. Er geht der Frage nach, was du mit all den Sachen machst, wenn alles zusammenbricht. Nicht nur mit den reellen Dingen, sondern auch mit den Erinnerungen oder Zukunftsplänen. Andererseits hatte ich beim Schreiben durchaus meinen Spaß.

Der sich woraus ergeben hat?

Direkt nach der Frage um die Platten von den Cowboys Junkies und den Afghan Whigs, also wirklich wichtigen Artefakten, geht es im Song um ein paar Kisten Mountain Valley Spring Water, die erst vor kurzem jemand geliefert hat – und damit auch um die Frage, wer das Abo für dieses Mineralwasser übernehmen wird.

Sprichst du hier aus Erfahrung?

Was das Wasser-Abonnement betrifft, ja, das haben wir tatsächlich. Eine häusliche Trennung habe ich aber noch nicht erlebt. Als Songwriter interessieren mich aber die Momente, wenn Beziehungen zerbrechen.

Weil mit jedem Bruch Licht ins Dunkel kommt.

Ja, es werden Dinge sichtbar und stellen sich plötzlich sehr pragmatische Fragen, über die man gut schreiben kann.

»Es kam mir so vor, als wäre mein Gehirn von einem Virus befallen. Die gute Nachricht ist: Du kannst das Virus wieder loswerden.« – Matt Berninger

Eine Frage im Song lautet: “What about the instruments?” Kann es sein, dass sich der Song nicht ausschließlich an Paare widmet, sondern auch an eine Band? An deine Band?

Offensichtlich ja. The National sind als Band die längste Beziehung, die ich in meinem Leben geführt habe. Und da der Ausgangspunkt meines Schreibens immer die Angst davor ist, dass etwas kaputtgehen könnte, stelle ich auch die Existenz der Band infrage.

Mit welchem Ziel?

Ich glaube daran – oder vielmehr: Ich hoffe, dass durch die direkte Konfrontation mit der Angst ein Bewusstsein dafür entsteht, dass genau das nicht passiert.

Es könnte auch der gegenteilige Effekt eintreten.

…weshalb die Angst davor bleibt. Aber ich habe ohnehin keine Wahl, ich muss ja über das Schreiben, was mich die ganze Zeit über beschäftigt, und wenn meine Gedanken ständig darum kreisen, etwas zu verlieren oder Zeuge davon zu werden, wie etwas zerbricht, dann sind diese Ängste das Material für meine Texte. Es ist beinahe unmöglich, nicht über diese Gedanken zu schreiben. Umso wichtiger ist es, den Texten auch eine humorvolle Ebene zu geben, dazu gewisse Zukunftsaussichten und einen Hoffnungsschimmer. So lasse ich ein wenig frische Luft an meine dunklen Gedanken – und dann lassen sich gute Songs daraus entwickeln. Das Paar in “Eucalyptus” berät auch darüber, ob der Plan, zurück nach New York zu ziehen, die Beziehung vielleicht noch retten könnte. Ich habe direkt Paare vor Augen, die vor einigen Jahren von der Stadt raus aufs Land gezogen waren – und dort alles in die Brüche ging. Dann werden Pläne geschmiedet, zurück in die Stadt zu ziehen.
Sowohl der Rückzug aufs Land als auch die aus der Not geborene Idee, es doch wieder in der Stadt zu versuchen, haben etwas damit zu tun, dass man glaubt, sich durch Ortswechsel neu erfinden zu können, als Mensch, als Paar. Ich glaube, jeder von uns hat diese Gedanken schon einmal gehabt: Wir müssen nur einen bestimmten Ort aufsuchen, und schon wird alles gut! Ich kenne das auch, konkret sogar mit dem Ziel New York. Ich nutze in diesen Songs eine gewisse Symbolik, aber sehr häufig stimmen die Details. [lacht]

Existiert das New Order T-Shirt aus dem Song dieses Namens auch?

Nein, das ist eine Erfindung. Aber im Text zum Song wimmelt es von anderen kleineren Details, die stimmen. Zum Beispiel das Apartment an der Atlantic Avenue, das meine heutige Frau damals mit ihrer Schwester bewohnte. Oder die japanische Spielzeugbombe aus Plastik, die ich bei einem Flug von Tokio nach Hawaii im Gepäck hatte und die dafür sorgte, dass man den gesamte Flughaften lahmlegte, aus Angst, es handele sich um eine echte. Und es stimmt auch, dass dann meine Frau zusammen mit ihrem Vater auftauchte und er es war, der mich beim Zoll aus dem Arrest befreite. [lacht] Der Kern dieser Songs ist sehr autobiografisch, da geht kein Weg dran vorbei.

Wo nimmst du diese Details her, aus deinem Gedächtnis oder aus Tagebüchern?

Ich habe früher viele Tagebücher geführt, voller Gedanken und Textfetzen, aber das hat sich mit den Jahren geändert. Ich assoziiere heute freier, ich singe vor mich hin, auf der Suche nach Melodien. In diesem frühen Zustand habe ich noch keinen blassen Schimmer, wovon der Song handeln könnte. Das ergibt sich erst später im Prozess. In diesem Sinne bin ich kein klassischer Songwriter. Ich schwimme vielmehr in der Musik. Sie ist mein Wasser, ohne sie wäre ich nichts.

 

Was macht die Musik von Aaron und Bryce Dessner für dich zu einem “Wasser”, das dich als Sänger und Texter besonders gut trägt?

Wenn Aaron und Bryce mir ihre Skizzen für neue Songs schicken oder vorspielen, entwickelt sich vor meinem Auge unmittelbar eine emotionale Landschaft. Ihre Musik besitzt eine Reihe von Informationen, die meine Sinne ansprechen und die dafür sorgen, dass ich die Welt um mich herum ignoriere und mich in diese Landschaften hineinflüchte.

Welche Informationen sind das?

Ich entdecke in den Tonfolgen und Harmonien genau die Gefühle, über die ich singen möchte und auch singen muss: Melancholie, Ängste, Liebeskummer. Es fällt mir daher leicht, mich in dieser Musik zu verlieren. Ich muss dafür nichts simulieren, muss mich nicht in einen Zustand begeben – denn ich bin dieser Zustand. Mit Aaron und Bryce zwei Songwriter in der Band zu haben, die diesen ähnlichen Grundzustand vertonen, ist ein Glücksfall. Für die Band generell, aber vor allem für mich. Denn anders könnte ich nicht schreiben.

Du hattest zu Beginn der Arbeit an “First Two Pages Of Frankenstein” eine längere Phase, in der du nichts schreiben konntest. Was war da los?

Manchmal ist es so, dass ich – um im Bild zu bleiben – im Wasser erstarre; dass ich nicht mehr schwimmen kann. Ich kannte das aus früheren Phasen, meistens handelte es sich nur um wenige Momente, manchmal Tage, wenn es hochkam, ein oder zwei Wochen. Diesmal zog sich diese Phase allerdings über Monate hin, sie dauerte am Ende fast ein Jahr. Das war eine furchteinflößende Zeit. Ich hatte Angst, meine Fähigkeit könnte verloren gegangen sein, in der Musik zu schwimmen und aus diesem Zustand heraus Texte und Melodien zu entwickeln. Hinzu kam, dass wir in dieser Zeit durch die Pandemie voneinander getrennt waren, ich fühlte mich isoliert und gelähmt und befürchtete, das Talent verloren zu haben, das mir am meisten bedeutet. Nicht nur, weil ich durch die Umdeutung meiner Gedanken zu Texten zum Erfolg der Band beigetragen habe, sondern vor allem, weil mir diese Tätigkeit dabei hilft, mit meinen eigenen dunklen Gedanken klarzukommen.

Songwriting als Therapie.

So in der Art, ja.

Hast du mittlerweile herausgefunden, woran es gelegen hat, dass du eine Zeitlang nicht schreiben konntest?

Es gibt keine Diagnose, aber eine Vermutung. Die Welt steckte während der Pandemie in einer nie dagewesenen Krise. Und auch, wenn Corona keine große Rolle mehr spielt – der krisenhafte Zustand dauert an, was ja offensichtlich ist. Wenn du die Nachrichten verfolgst und dabei erkennst, dass das Weltgeschehen aus den Fugen gerät, dann ist es schwierig, sich anschließend hinzusetzen und sich Gedanken über einen Songtext zu machen, der davon handelt, Angst davor zu haben, dass am privaten Glück etwas zerbrechen könnte. Es fühlte sich falsch an, mich auf meine kleinen Befindlichkeiten zu stürzen, während draußen die Welt in Schieflage geriet. Ich kam mir dabei schäbig vor, empfand eine Form von Selbstscham, die ich bis dahin noch nicht kannte. Denn wenn die Welt eh dunkel ist, warum widmest du dich noch deinen eigenen Schatten? Ich hatte genug von meinen eigenen kleinen, unbedeutenden Dramen, ich fühlte mich ausgebrannt. Ich konnte meinen Part im erprobten Zusammenspiel von The National nicht mehr übernehmen. Zuerst dachte ich, dass mir eine Pause guttun würde, doch das Gegenteil war der Fall. Denn wenn der Motor erst einmal gegen die Wand geknallt ist, setzt er schnell Rost an – und es dauert umso länger, bis er wieder in Schwung kommt.

Wann war das der Fall?

Als wir als Band wieder zusammenkommen konnten, im Sommer 2022 die ersten Konzerte spielten und ich wieder die Energie des Publikums spürte. Der Knoten löste sich, und das war ein im wahrsten Sinn des Wortes befreiendes Gefühl. Zumal ich jetzt die Gewissheit habe, dass eine solche Blockade vergehen wird, egal wie lange sie andauert. Und so anstrengend und manchmal quälend die erste Arbeitsphase zum Album war, so gewinnbringend war die zweite Hälfte.

Gab es einen Song, der für diesen Moment steht, ab dem du wieder als Texter funktioniert hast?

“New Order T-Shirt” war so ein Stück. Aaron hörte es sich an, und ich merkte, wie er mir, ohne etwas zu sagen, über seine Blicke vermittelte: Der Funken ist zurück. “Eucalyptus” haben wir dann während der Tour geschrieben, wir haben das Stück beim Soundcheck weiterentwickelt, kurz danach aufgenommen. Dann ist es mir sogar gelungen, einen Song zu schreiben, der auf der Meta-Ebene von den Problemen handelt, die ich hatte: “Your Mind Is Not Your Friend”.

Du singst: “Your imagination is in an awful place.” Und: “Your mind is not your friend again/ It takes you by the hand and leaves you nowhere.” Das klingt böse, wie eine Hexe im Märchen.

Ich glaube, es ist eine wichtige Erkenntnis, dein Gehirn in manchen Situationen als wirklich dysfunktional zu beurteilen. Das klingt beinahe wie der Plot eines Horrorfilms, aber es kam mir wirklich so vor, als wäre mein Gehirn von einem Virus befallen. Die gute Nachricht ist: Du kannst das Virus wieder loswerden. Und ist der ganze Müll erst einmal weg, ist Platz für frische Luft, für frisches Wasser.

Du singst “Your Mind Is Not Your Friend” zusammen mit Phoebe Bridgers, die in diesem Song als Sängerin eine Rolle spielt.

Sie personifiziert im Grunde meine Therapeutin. [lacht]

Bei “The Alcott” wirst du wiederum von Taylor Swift begleitet.

Ja, und sie spielt eher die Rolle der zweiten Person in diesem Lied. Es handelt sich ebenfalls um einen Song über eine Beziehung, die sich reflektiert. Das Paar hatte in einer frühen Phase einen von mir erfundenen Ort besucht. Einige Jahre später fragt es sich, ob es sinnvoll wäre, noch einmal dorthin zurückzugehen.

Um die Liebe zu erneuern?

Ja, vielleicht, aber auch, um sich der eigenen Geschichte bewusst zu werden. Man betrachtet das Wort Nostalgie gerne so, als würde man sich – ganz konservativ – etwas zurückwünschen, was nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Für mich bedeutet Nostalgie allerdings auch, die Vergangenheit wertzuschätzen und daraus Kraft für die Prozesse der Gegenwart zu finden. Die Geschichte einer Beziehung – ob als Paar oder als Band – bildet den Boden, auf dem man gemeinsam steht. Und manchmal kann es gut sein, sich für einen Moment zu entwurzeln, um einen anderen Ort aufzusuchen. Einen neuen oder einen, der diese Geschichte grundlegend mitgeprägt hat. Ich glaube, dass diese Vorstellung die Texte des Albums prägt: sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sie in die Gegenwart einzubeziehen, sie zu nutzen, um sich und die Menschen, die man liebt, besser zu verstehen.

Hast du Taylor Swift im Vorfeld die Bedeutung für dich erklärt?

Nein, das musste ich nicht. Es war interessant, denn dieser Song handelt im Grunde von meiner Frau Carin, die Autorin ist, und mir. Als Aaron den Song an Taylor weitergab, fand sie sofort Wege, ihn auf sich selbst und Joe Alwyn zu beziehen, mit dem sie zusammenlebt. [Anmerkung der Redaktion: Alwyn ist Co-Komponist einiger Songs von Swift. Kurz nach dem Interview wurde bekannt, dass sich die beiden getrennt haben.) Taylor fiel es leicht, diese Rolle anzunehmen. Sie fand als Sängerin eine eigene musikalische Sprache, auf Grundlage einiger Gespräche, die sie mit Carin führte, darüber, wie es ist, zusammen mit mir zu schreiben, und wie wiederum Taylor und Joe miteinander arbeiten.

Was sagt Carin zum Resultat? Immerhin wird sie in diesem Song von einem der derzeit größten Popstars gespielt.

Es ging alles sehr schnell. Aaron schickte Taylor das Demo, sie sprach mit meiner Frau, zwei Tage später war ihr Gesang fertig – das ist natürlich verrückt, wenn du innerhalb so kurzer Zeit hörst, wie sie diesen Charakter annimmt und ihn erweitert. Ich weiß, dass Carin damit genauso glücklich ist, wie ich es bin.

»Ich hasse nichts so sehr wie das Gefühl, auf der Bühne zu stehen, zu singen und keine Verbindung zur Musik zu spüren.« -Matt Berninger

Wenn du die Songs von “First Two Pages Of Frankenstein” nun mit der Band auf der Bühne aufführst, wie nahe gehen dir die dunklen Gedanken noch, die in den Texten stecken?

Es ist für mich alternativlos, mich bei der Performance jedes Mal wieder neu und komplett in diesen Stücken zu verlieren. Das ist keine schwere Aufgabe, schließlich handeln sie von mir. [lacht] Ich hasse nichts so sehr wie das Gefühl, auf der Bühne zu stehen, zu singen und keine Verbindung zur Musik zu spüren. Es ist entsetzlich, einen Song nur zu performen, ohne mich in ihnen zu verlieren. Es gibt nichts Schlimmeres.

Warum?

Weil ich dann sofort mein Selbstbewusstsein verliere. Es besteht die Gefahr, dass ich einen Blick auf mich von außen einnehme, dass ich also sehe, wie ich da oben stehe, auf der Bühne. Dieser Anblick kann sehr beschämend und erniedrigend sein. Zumal, wenn man Texte über sehr persönliche Dinge singt, mit denen du ja auch etwas preisgibst.

Wie verhinderst du, dass das passiert?

Du musst den Zugriff auf die Umwelt ablegen. Du musst ein bestimmtes Chaos und eine bestimmte Unordnung zulassen. Dafür ist ein bisschen mentale Vorbereitung notwendig, vor allem aber auch eine Nachbereitung, denn es nicht einfach, sich danach wieder mit der Welt zu verbinden, zur Ruhe zu kommen, Schlaf zu finden. Was mir bei diesem gesamten Prozess hilft, ist die Gewissheit, dass die Menschen im Publikum das ebenfalls wollen: Auch sie wollen sich in der Musik verlieren, und dabei hilft es ihnen, wenn der Typ da oben auf der Bühne das gleiche im Sinn hat. Wäre es anders, würden sie eine Show in Las Vegas besuchen – und kein Konzert von The National.

 

Stopptanz

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Der neue Song wird dabei von einer nervösen Gitarre dominiert, die ab der ersten Sekunde einen Spannungsbogen aufbaut. Frontmann Joe Casey beschreibt mit klarer Stimme, wie jeder Tag ein Balanceakt und eben auch ein Tanz der Unsicherheiten ist. “Terms of service aren’t so clear”, schreit er. “Pale youth is my replacement/ That’s how elimination dances/ Through this life of mine”.

In einem begleitenden Statement erklärt er die Entstehungsgeschichte und Inspiration hinter dem Song. Demnach ist “Elimination Dances” nach einem Kapitel aus einem “Tanzhandbuch für Teenager” aus den 1950er Jahren benannt und bezieht sich auf ein Spiel bezieht, bei dem “man rausfliegt, wenn man den Tanz verliert”, was sich laut Casey “wie eine Metapher für das Überleben im Alltag anfühlt”. Er fügt hinzu: “Du kannst genauso gut weitertanzen, bis das Ende kommt.”

Das dazugehörige Musikvideo zeigt den Tänzer Kota Yamazaki und wurde von Regisseur Yoonha Park gedreht und produziert. In einem Statement erklärt Park, dass die Idee für das Video durch ein Zitat vom Us-amerikanischen Journalisten und Autor Andy Rooney inspiriert wurde: “Das Leben ist wie eine Rolle Toilettenpapier. Je näher es dem Ende kommt, desto schneller vergeht es.” Zudem bringt der Clip Assoziationen zum gleichnamigen kanadischen Kurzfilm, indem einige Paare bei einem Jazztanz-Wettbewerb so lange gegeneinander antreten, bis nur noch eines übrig ist.

“Elimination Dances” ist die zweite Single aus dem kommenden Album “Formal Growth In The Desert”, das am 2. Juni via Domino erscheint und weiterhin vorbestellt werden kann. Zuvor war bereits der Song “Make Way” erschienen. Ihr bisher letztes Album “Ultimate Success Today” veröffentlichte die Band aus Detroit 2020. Mit dem neuen Album gehen Protomartyr im Sommer auch auf Tour und machen dabei auch für zwei Konzerte in Deutschland Halt. Tickets gibt es an allen bekannten Vorverkaufsstellen.

Live: Protomartyr

06.08. Frankfurt – Zoom
15.08. Hannover – Indiego Glocksee

Endlich wieder Liebeslieder

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Die Ankündiung wirkt fast schon spontan: In einer Instagram-Story aus dem Studio teilt Seeed-Frontmann Peter Fox mit, dass sein kommendes Soloalbum “Love Songs” heißen wird und am 26. Mai erscheint. In dem kurzen Video ist zudem der Anfang eines möglichen weiteren Songs im Hintergrund zu hören. Die Ankündigung kommt trotz der vier bereits erschienen Songs recht überraschend. Erst im Oktober war Fox mit “Zukunft Pink” nach 14 Jahren als Solokünstler mit neuer Musik zurückgekehrt. In den vergangenen Wochen waren dann in kurzen Abständen die Songs “Vergessen Wie”, “Weisse Fahnen” und “Ein Auge blau” erschienen. Fox selbst kommentierte die Ankündigung so: “Hey everybody! Getrieben von dem Willen, frische Musik und Energie rauszubringen und mit viel Liebe im Bauch (trotz Stress im Gepäck), bin ich kurz davor, ein Album fertigzubekommen […]”.

Peter Fox hatte 2008 mit “Stadtaffe” eines der erfolgreichsten Alben der deutschen Musikgeschichte veröffentlicht. Anschließend hatte er sich wieder hauptsächlich auf Projekte mit seiner Band konzentriert. Ein erster Hinweis auf sein Comeback ließ sich im letzten Jahr bereits mit der Ankündigung von Fox als Headliner der Zwillingsfestivals Hurricane und Southside erahnen. Mittlerweile wurde der Berliner auch unter anderem für das Line-up des Taubertal FestivalsOpen Flair Festivals und Rocco Del Schlacko bestätigt.

“Love Songs” erscheint am 26. Mai via Warner und kann ab sofort vorbestellt werden. Eine Tracklist gibt es bislang allerdings nicht.

Peter Fox – “Love Songs”

Peter Fox - "Love Songs"

Live: Peter Fox

28.05. Pouch – Sputnik Springbreak
03.06. Dudelange (Lux) – USINA
16.06. Scheeßel – Hurricane Festival
17.06. Neuhausen Ob Eck – Southside Festival
18.06. Wien (AT) – LIDO Sounds
30.06. St.Gallen (CH) – OpenAir St. Gallen
01.07. Köln – Summerjam
11.08. Rothenburg ob der Tauber – Taubertal Festival
12.08. Püttlingen – Rocco Del Schlacko
13.08. Eschwege – Open Flair Festival
19.08. Gampel (CH) – Open Air Gampel
02.09. München – Superbloom

Zurück in die Gegenwart

Jordan, nimmst du die Themen und Inhalte der “Wildlife”-Songs noch wahr, wenn du sie auf der Bühne singst? Oder sind das eher auswendig gelernte Zeilen?  

Jordan Dreyer: Letzteres. Auch wenn die Inhalte der Songs mit das Interessanteste an dieser Jubiläumstour sind. Wenn du Songs schreibst, machst du eine Momentaufnahme einer bestimmten Zeit deines Lebens – aber du wirst auch älter. Mit den Leuten im Publikum zu interagieren, hat mich auf jeden Fall dazu gebracht, mehr darüber nachzudenken, worum es auf der Platte ursprünglich ging und welche Aspekte davon heute noch relevant sind. Besonders nach drei Jahren, in denen die Welt merklich schlimmer geworden ist und die Menschen in kurzer Zeit viel durchgemacht haben. Es war interessant, darüber nachzudenken, wie die Themen der Platte mein Leben und wohl auch das Leben vieler Leute im Publikum noch betreffen. Aber so etwas passiert nicht auf der Bühne, sondern rund um die Shows. 

Welche Themen der Platte sind heute noch aktuell für dich? 

Das sind eher allgemeinere Dinge: Verlust zu erfahren, sich isoliert und allein zu fühlen. Auf der Platte geht es auch darum, einen Ort zu finden, an den du gehörst, an dem du ein Gemeinschaftsgefühl hast. Nach so langer Zeit wieder vor Menschen zu spielen, hat mich deutlich spüren lassen, dass der Grund, in einer Band zu spielen, für uns immer noch darin besteht, sich mit Menschen zu verbinden und sich in einem Umfeld zu bewegen, in dem man sich wohl fühlt. 

Chad Sterenberg (Foto: Dave Summers)
Chad Sterenberg 2011 (Foto: Dave Summers)

Die Songs auf “Wildlife” bestehen aus Kurzgeschichten, Einträgen und Anmerkungen eines fiktiven Autors, der sich unter anderem selbst hinterfragt. Du bist der Autor des Autors – wie viele deiner Gedanken und Sorgen gleichen denen des fiktiven Autors?

Im Laufe der Zeit und insbesondere für “Wildlife” habe ich Figuren erschaffen, durch die ich spreche. Die Grenze zwischen dem, was fiktionalisiert ist, und dem, was real ist, verschwimmt ganz schön. Einige Geschichten habe ich mir ausgedacht, aber die grundlegenden Themen der Isolation, die Suche nach einer Perspektive und der Umgang mit persönlichen Problemen ähneln meinen eigenen. Wenn ich nicht direkt aus meiner Perspektive schreibe, kanalisiere ich sicherlich meine eigene Perspektive, um eine realistischere Figur zu schaffen. Der “Wildlife”-Autor und ich sind in vielerlei Hinsicht also die gleiche Person, wir bewegen uns zumindest parallel auf dem Album.

Die Figuren sind realistisch und die Geschichten sehr direkt, weshalb viele Leute sie auf dich zurückführen. Ärgert dich das manchmal?

Manchmal schon. Wenn du über schwierige, emotionale Situationen schreibst und diese in der Öffentlichkeit preisgibst, nimmt der Zuhörer automatisch an, dass sie dich auch persönlich betreffen. Ich versuche mich nicht daran zu stören, schaffe das aber nicht immer. Es ist auf jeden Fall komisch, dass mir Leute Fragen zu Situationen gestellt haben, die ich für ein Album erfunden habe.

Wie nah bist du heute noch an deinen Figuren von vor zwölf Jahren?

Für unsere Patreon-Seite habe ich etwas über die Texte von damals geschrieben, und ich war überrascht, wie nah dran ich noch bin, näher als erwartet auf jeden Fall. Das hat wahrscheinlich auch mit den letzten drei Jahren zu tun. Die Gedankengänge auf dem Album kann ich jedenfalls noch mit meinem heutigen Denkprozess verbinden, es fühlt sich an, wie ein altes Bild von dir zu betrachten. Es gibt aber auch Dinge, die mich heute nicht mehr ansprechen.

Es wäre auch seltsam, wenn heute alles noch so wäre wie vor zwölf Jahren.

Ich glaube nicht, dass jemand beim Schaffen von Kunst – und das gilt für jede Art des Schreibens, für Musik und für Kunstwerke – darüber nachdenkt, sich diese eines Tages noch mal genau anzusehen. Ich habe jedenfalls nie über den unmittelbaren Moment hinausgedacht, in dem wir als Band etwas getan haben. Es gibt auch Dinge, auf die ich zurückblicke und die ich etwas erschreckend finde. Dinge, die mir ein wenig peinlich sind, etwa weil ich ein bestimmtes Wort verwendet habe. Den emotionalen Inhalt der Texte zu betrachten, ist genauso seltsam, weil man daran erkennen kann, inwiefern man erwachsener geworden ist und nicht mehr genau so fühlt wie damals. Aber der Punkt ist, dass ich das Album geschrieben habe, als ich 22 Jahre alt war. Und es wäre vergebliche Mühe zu denken, ich hätte damals die Perspektive eines 35-Jährigen haben sollen.

Adam Brad 2011 (Foto: Dave Summers)
Adam Brad 2011 (Foto: Dave Summers)

Wie ist es mit den Songs, die du nach “Wildlife” geschrieben hast: Besteht in denen eine größere Distanz zwischen den Figuren und dir?

“Rooms In The House”, die Platte, die wir nach “Wildlife” veröffentlicht haben, ist stärker fiktionalisiert. Es sind Aspekte meines Lebens eingearbeitet, aber zum größten Teil sind die Songs und die Figuren erfunden. Unser letztes Album, “Panorama”, ist wieder etwas repräsentativer für mein Leben. Ein persönliches Album, das absichtlich etwas abstrakter geschrieben ist, weil ich absichtlich weniger detailliert und dafür poetischer geschrieben habe, um mich so vom Inhalt der Platte zu distanzieren. Es handelt aber viel von meinem Leben, meiner Beziehung und meinem Zuhause.

Ist das auch eine Art Selbstschutz, damit du in 20 Jahren nicht noch einmal zurückblicken und darüber nachdenken musst?

Da ist auf jeden Fall etwas Wahres dran. Auf unserem ersten Album “Somewhere At The Bottom Of The River Between Vega And Altair” sind ein paar Songs, die von Leuten handeln, die ich kenne, und die Geschichten von Leuten erzählen, die ich kannte. Als ich die Songs damals geschrieben habe, war ich mir ziemlich sicher, dass die biografischen Informationen genug verschleiert waren, damit niemand erkennan kann, um wen sich die Songs drehen – was sich als falsch herausstellte. Jeder wusste, über wen ich geschrieben habe und worum es in den Songs geht. Die Leute, über die ich geschrieben habe, waren glücklicherweise mehr oder weniger zufrieden damit, wie ich das gemacht habe. Mir war es trotzdem unangenehm und mir wurde klar, dass ich zukünftig eine gewisse Distanz zwischen den Leuten, über die ich schreibe, dem Thema selbst und mir herstellen wollte.

Hast du in den letzten Jahren Geschichten erlebt, die thematisch zu “Wildlife” gepasst hätten und die du damals vielleicht in einen Song umgemünzt hättest? 

Das ist schwer zu sagen. Ich bin mehr oder weniger zufrieden damit, wie Wildlife” geworden ist. Der Song, der für mich heraussticht, ist “King Park”. Daran würde ich aber gerne ein paar Dinge ändern. Er hat sich so verselbstständigt, wie ich es nicht erwartet hätte, besonders im Rahmen der Internetkultur und mit der Art und Weise, wie Dinge aus einem Gesamtkontext herausgelöst werden. Allein durchs Streaming, bei dem Songs losgelöst vom Kontext eines Albums wahrgenommen werden und nicht, wie sie eigentlich geschrieben wurden. Im Kontext von “Wildlife” hat “King Park” einen Sinn, der oft verloren geht, wenn er unangemessen zitiert wird.  

Wie meinst du das genau?  

Es gibt eine Zeile am Ende des Songs, an der die Leute hängen, weil sie so emotional ist: “Can I still get into heaven if I kill myself?” Ein vermeintlich tatsächlich gesprochener Satz aus einer realen Situation. Wenn diese Zeile ins Netz gestellt oder von Leuten zitiert wird, verschweigt sie den kompletten Kontext der Geschichte. Auf eine bestimmte Weise bereue ich den Song deshalb, aber niemand kann Künstler von dieser Art der oberflächlichen Interpretation schützen. Wenn wir eine Platte aufnehmen, machen wir das für uns, wir machen das, weil es ein Kunstwerk ist, auf das wir hingearbeitet und über das wir sorgfältig nachgedacht haben. Was danach passiert, liegt nicht in unserer Verantwortung, und zu viel über das nachzudenken, was über die Veröffentlichung von Musik hinausgeht, würde einen kreativ lähmen. Trotzdem empfinde ich das oft als frustrierend. Manchmal muss man sich einfach mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Leute zu unseren Konzerten kommen, nur um diese eine Zeile zu hören.

Dass sich das falsch oder schlecht anfühlt, kann ich nachvollziehen. Das Problem ist, die Zeile funktioniert auch für sich allein – wenn auch anders. 

Genau. Ich glaube allerdings schon, dass sich die überwiegende Mehrheit der Leute mit unserer Musik und Band beschäftigt hat. Das ist unglaublich. Ich möchte das auch niemandem absprechen. Vielleicht ist es auch nur meine selektive Wahrnehmung, weil Streetwear-Unternehmen die Zeile auf T-Shirts gedruckt haben. Das macht sie zu einer Art Emo-Mode-Gadget. Ein Shirt mit der Aufschrift “Can I still get into heaven…” zu sehen, frustriert mich tatsächlich. 

Ich habe tatsächlich mal jemanden mit genauso einem Shirt getroffen, und sie kannte eure Band nicht mal. Das ist ähnlich wie mit den Nirvana-Shirts, die man bei H&M als Modeartikel kaufen kann und die Leute tragen, die nicht mal wissen, wer Kurt Cobain war.

Exakt. Vor einigen Jahren schrieb eine Zeitschrift etwas Unglaubliches über die Zeile aus dem Song. Die waren auf einem unserer Konzerte, haben die Zeile gehört und anschließend behauptet, wir würden unser junges Publikum zum Selbstmord ermutigen. Das ist eine dramatische und fast vorsätzliche Fehlinterpretation des Songs. Zumindest war das jemand, der sich keine Mühe gegeben hat, zu versuchen herauszufinden, worum es in dem Lied geht.

Ein anderes Thema: Schreibst du neben deinen Songtexten aktuell auch an anderen Arten von Texten?

Ja, ich schreibe unregelmäßig Gedichte, bin mal eine Zeit lang sehr aktiv, dann wieder länger nicht. Aber ich würde das gerne regelmäßig machen und irgendwann auch etwas veröffentlichen. Das ist eine Art zu schreiben, die ich schon lange liebe. Ich denke, ich kann noch um einiges besser werden, aber ich würde es gerne als zusätzlichen Karriereweg oder zumindest als ernsthaftes Hobby verfolgen. Es fühlt sich aktuell so ähnlich an, wie es sich lange Zeit beim Schreiben von Songtexten anfühlte. Aber ich war damals jung genug, um mich nicht zu hinterfragen und es einfach zu tun, weil ich verrückt danach war. Ich fühle mich erst in den letzten fünf oder sechs Jahren wohl dabei, zu sagen, dass ich Musiker bin. Ich denke also, es wird noch einige Zeit dauern, bis ich wirklich versuche, etwas außerhalb dieser Band zu schreiben, das Leute auch lesen werden, aber es steht auf meiner To-do-Liste.

Jordan Dreyer (Foto: Luke Dean)
Jordan Dreyer 2022 (Foto: Luke Dean)

Das hat sich offenbar geändert: 2011 hast du in VISIONS noch gesagt, dass die Musik deiner Band der einzige Rahmen für dich wäre, um zu schreiben.

Dann habe ich meine Meinung also geändert (lacht). Ich würde das wirklich gerne machen. Ich bin gerade auch dabei, andere musikalische Projekte mit Freunden zu verfolgen. Nichts Ernstes, aber ich fühle mich endlich wohler damit, das zu tun. Und ich würde das gerne ausbauen. Wir können mit La Dispute nicht jedes Jahr ein Album veröffentlichen, allein schon, weil wir an verschiedenen Orten leben. Deshalb würde ich gerne andere Dinge verfolgen, und ich denke, das gilt auch für die anderen in der Band.

2011 hast du außerdem gesagt, dass es dir eines Tages helfen könnte, die Situationen und Geschichten deiner Songs gedanklich durchgespielt zu haben – nämlich dann, wenn dir selbst so etwas widerfährt. Ist das eingetreten? 

Ich denke schon. In der amerikanischen Kultur ist es so, dass man sich mit dem Altern und dem Tod nicht beschäftigt: Wir lösen uns absichtlich von der einen Sache, die alle Menschen eint. Die Zeit, die ich damit verbracht habe, mich in bestimmte Situationen hineinzuversetzen, um die Songs zu schreiben, hat mich vermutlich etwas tröstlicher damit umgehen lassen, dass der Tod nicht nur für mich selbst, sondern auch für die Menschen in meinem Leben unausweichlich ist. Ich glaube dadurch, dass ich mir eines unvermeidlichen Verlustes in meinem Leben mit 22 Jahren schon so bewusst war, war ich ein bisschen besser gerüstet, als ich dann eine solche Erfahrung machen musste. 

Chad Sterenberg 2022 (Foto: Luke Dean)
Chad Sterenberg 2022 (Foto: Luke Dean)

Der Tod ist ein zentrales Thema auf “Wildlife”. Gleich der erste Song “Departure” funktioniert wie eine Einleitung, weil die Person in dem Song über den Tod nachdenkt.

Das stimmt, und ist es nicht seltsam für einen 22-Jährigen, so viel über den Tod zu schreiben? Vielleicht ist es aber auch schlau, sich dessen so bewusst zu sein.

Ich denke, es ist ganz normal. Auch Kinder machen sich schon Gedanken über den Tod, vermutlich, weil er nicht greifbar für sie ist.

Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind auch so war. Du hast als Kind nur ein geringes Verständnis vom Tod, aber du weißt, dass er existiert und dass darüber in einem sehr ehrfürchtigen Ton gesprochen wird. Das bringt einen ins Grübeln.

Und irgendwann muss man sowieso darüber nachdenken, warum sollte man es also hinauszögern.

Genau, das ist auf jeden Fall etwas, das wir lernen müssen. Es ist schwierig, sich damit abzufinden, denn der Tod ist unmöglich zu verstehen, aber er ist das, auf das wir alle zusteuern.

 

VISIONS empfiehlt:
La Dispute “Wildlife 10+2 Anniversary”

26.04.2023 Köln – Live Music Hall
28.04.2023 Hamburg – Uebel & Gefährlich
29.04.2023 Berlin – Astra Kulturhaus
30.04.2023 Dresden – Beatpol
02.05.2023 München – Backstage Werk
03.05.2023 Wiesbaden – Schlachthof Wiesbaden

Reise als Reporter:in zu gewinnen!

Bei dem wie immer ausverkauften Punk Rock Holiday im slowenischen Tolmin zeltet ihr nicht nur umgeben von Bergen sowie in direkter Nähe zu den zwei paradiesischen Stränden des Festivals – wir schicken euch auch in den Bühnengraben, um für VISIONS einen Nachbericht zu verfassen.

Input dafür gibt es reichlich, denn an dem wohl außergewöhnlichsten Festivalort der Welt spielen Anfang August wieder einige Punkrock-Größen. Neben Pennywise ebenso wie den Folk-Punks Dropkick Murphys, die mit ihrem neuen Album “Okemah Rising” unterwegs sind, treten auch Frank Turner And The Sleeping Souls, die schwedischen Skate-Punks Satanic Surfers, Me First And The Gimme Gimmes, Good Riddance, Agnostic Front und noch viele mehr auf. Das gesamte Line-up ist auf der Webseite des Festivals einsehbar.

Die Anreise zum Punk Rock Holiday für dich und deine Begleitung übernimmt der Bus. Zustiegsoptionen gibt es in Aachen, Köln oder Frankfurt am Main – dort werdet ihr auf Wunsch auch wieder abgesetzt.

Oops! Wir konnten dein Formular nicht lokalisieren.

Neue Folge mit Judith Holofernes

Mit ihrer Mutter, einer alleinerziehenden Übersetzerin, zieht Holofernes mit sechs Jahren von Berlin-Kreuzberg nach Freiburg im Breisgau. Dort wächst sie zwischen vielen Büchern und queeren Comics auf, geht zur Schule, beginnt irgendwann Gitarre zu spielen und verdient sich ab 14 Jahren erstes Geld als Straßenmusikerin. Dabei spielt sie, wie sie berichtet, lieber nerdige B-Seiten von Bob Dylan, statt offensichtlicher Hits.

An die Musik haben sie zuvor die Soundtracks von Filmen wie “Stand By Me” oder “Eis Am Stiel” herangeführt, kurz darauf stößt sie auf die Musik von Janis Joplin. Elvis Costello, David Bowie und Patti Smith sind in der kommenden Zeit ihre Idole, bevor sie mit den Ramones und den Undertones Punk für sich entdeckt.

Mit ihrem Leben und Schaffen vor allem nach dem Ende von Wir sind Helden befasst sich Holofernes in ihrem 2022 erschienen autobiografischen Roman “Die Träume anderer Leute”, in dem sie mal humorvoll und teils schmerzhaft ehrlich ihre körperliche und seelische Verfassung seziert, aber auch die Schönheit kreativen Arbeitens feiert.

Im Podcast erklärt Holofernes weshalb Freiburg für Straßenmusik ein Mekka ist im Gegensatz zu Berlin und wie ihr das, zurück in Berlin, den Studienstart vereinfacht. Außerdem spricht die Wir-Sind-Helden-Frontfrau über die Zusammenarbeit mit dem britischem Produzenten Ian Davenport, bekannt für seine Arbeit mit Band Of Skulls oder Supergrass. Davenport übernimmt beim letzte Wir-Sind-Helden-Album “Bring mich nach Hause” und dem erstem Soloalbum von Holofernes “Ein leichtes Schwert” die Produktion.

Welche Musiktipps Holofernes, die sich selbst als Musiknerd bezeichnet und Schwarzkamp mit allerhand Wissen zu unterschiedlichsten Genres verblüfft, noch auf Lager hat und weshalb sich beide auf eine unironische Verehrung von Country-Ikone Dolly Parton einigen können, hört ihr in der aktuellen Folge.

Diese und alle Folgen aus den vergangenen Staffeln gibt es hier zum Nachhören.

Schlag in die Magengrube

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Benannt nach der literarischen Märchenfigur des Elfenkönigs, erschien 2022 mit “Oberon” die bisher letzte EP der Hardcore-Band Fucked Up. Nun haben die Kanadier am 25. April via FU ihre neuestes Werk veröffentlicht: Die mit drei Tracks bestückte EP “Cops” spannt innerhalb von knapp sieben Minuten den Bogen um das Thema Polizeigewalt und schließt bereits mit dem Titeltrack an ihren Song “Police” aus dem Jahr 2002 an: Ein musikalisches Sequel, das thematisch um die Omnipräsenz der Polizei im öffentlichen und privaten Bereich kreist.

Ebenso wenig märchenhaft wie “Oberon”, betten Fucked Up ihre Kritik an der schwelenden Polizeigewalt auch auf ihrer neuen EP in ihre Soundästhetik ein: Zwischen ausufernden Sludge-Metal-Gitarrenriffs und dem Rotz in Sänger Damian Abrahams Stimme, betonen die Kanadier unüberhörbar die wachsenden Missstände, die sich in der Welt auftun: Gesellschaftskritik in kürzester Zeit.

Gegründet hat sich die Band 2001, 2006 war mit “Year Of The Dog” ihr Debütalbum erschienen. Ein Mammutwerk, dessen Entstehungsprozess sich über fünf Jahre und zwei Kontinente erstreckt hat. Unter anderem in Zusammenarbeit mit Matt Berninger (The National) und Julien Baker entstanden, beruhte “Year Of The Dog” auf einem Stück des Multiinstrumentalisten Mike Haliechuck. Dieser hatte gemeinsam mit Drehbuchautor David James Brock das Stück “Perceval” geschrieben, in dem es um die Geschichte eines entflohenen Pferds geht.

Im letzten Jahr veröffentlichten Fucked Up außerdem ihr sechstes Studioalbum “One Day” sowie “David Comes To LIVE – Live At Warsaw”: Eine Live-Aufnahme zum Album “David Comes To Life” (2011), die als Reaktion auf die Verschiebung ihrer US-Tour während der Pandemie verstanden werden kann. Daneben erschien mit “Do All Words Can Do” im März letzten Jahres eine weitere Raritäten-Compilation.

Tracklist: “Cops”


01. “Cops”
02. “Fucked”
03. “Quality Seconds” (Orbital-Cover)”

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