Parallel zur Ankündigung veröffentlicht die Band den Titelsong als erste Single, für das Regisseur Paul Thomas Anderson (bekannt durch Filmklassiker wie “Magnolia”, “The Master” und “There Will Be Blood”) ein Musikvideo gedreht hat. “Wall Of Eyes” dominiert ein softes und verhältnismäßig leichtes Akustikgitarren-Motiv, das aber immer wieder von düsteren Synth- und Orchestereinspielungen umschmeichelt wird.
Mit “Bodies Laughing”, “Friend Of A Friend” und “Colours Fly” wurden in den vergangenen Monaten bereits einige bislang unveröffentlichte Songs live gespielt, außerdem gab es mit “Bending Hectic” im Sommer einen Singlerelease von The Smile. Nicht alle dieser Songs sind jedoch auf der endgültigen Tracklist des Albums gelandet. Neben dem Titelsong sind “Bending Hectic” und “Friend Of A Friend” aufgenommen worden, die restlichen zwei Stücke bleiben fürs Erste unveröffentlicht.
Über neues Material von Yorkes und Greenwoods Hauptband Radiohead äußerte sich deren Schlagzeuger Philip Selway im Frühjahr mit der Nachricht, dass Gespräche darüber zwar stattfänden, ein neues Album aber noch in ungewisser Zukunft liegt. Mit “A Moon Shaped Pool” erschien deren letzte Platte 2016.
“Wall Of Eyes” kann man auf der Webseite der Band vorbestellen, zur Verfügung stehen zwei verschiedenfarbige Vinyl-Varianten sowie eine CD und neue Merch-Angebote.
The Smile – “Wall Of Eyes”
The Smile – Wall Of Eyes
1. “Wall Of Eyes”
2. “Teleharmonic”
3. “Read The Room”
4. “Under Our Pillows”
5. “Friend Of A Friend”
6. “I Quit”
7. “Bending Hectic”
8. “You Know Me!”
Die Chancen der Arctic Monkeys auf einen Grammy-Gewinn stehen im nächsten Jahr gut: Mit ihrem siebten Album “The Car” sind sie nicht nur in der Kategorie “Bestes Alternative-Album” nominiert, sondern auch in den Kategorien “Beste Alternative-Musik-Performance” mit dem Musikvideo für die Single “Body Paint” und “Best Rock-Performance” für “Sculptures Of Anything Goes” – in dieser Kategorie treten die Arctic Monkeys unter anderem gegen die Foo Fighters mit “Rescued” und Metallica mit “Lux Æterna” an. Diese Nominierungen sind bereits die neunten für Alex Turner und Co. – ein Grammy-Gewinn steht allerdings noch aus.
Bereits einen Grammy im Regal stehen haben dagegen Gorillaz, die mit der Nominierung von “Cracker Island” in der Kategorie “Bestes Alternative-Album” nun eine Chance auf einen weiteren Preis haben. Der Dom-Dolla’s-Remix der Gorillaz-Single “New Gold” ist zudem in der Kategorie “Beste Remix-Aufnahme” nominiert.
Ebenfalls zu den Nominierten für die 2024er Grammys können sich Boygenius zählen, die mit ihrem Debütalbum “The Record” gleich in zwei Kategorien nominiert sind: “Bestes Alternative-Album” und “Album des Jahres”. Mit der Single “Not Strong Enough” sind sie außerdem neben den Foo Fighters und Queens Of The Stone Age in der Kategorie “Bester Rock-Song” nominiert, ebenso wie mit “Cool About It” in der Kategorie “Beste Alternative-Musikperformance”.
Unter den Nominierten für die 2024-Ausgabe der Grammys ist außerdem PJ Harvey mit ihrem Album “I Inside The Old Year Dying”, ebenfalls in der Kategorie “Bestes Alternative-Album”. In der Kategorie “Beste Metal-Performance” treten im nächsten Jahr Disturbed, Ghost, Metallica, Slipknot und Spiritbox gegeneinander an. In der Kategorie zählen neben den Foo Fighters, Metallica und Queens Of The Stone Age auch Paramore und Greta Van Fleet zu den Nominierten. Wer sich zu den Gewinner:innen zählen darf, entscheidet sich dann bei der Grammy-Verleihung in Los Angeles am 4. Februar.
So verschwenderisch muss man erstmal sein: Mit “Regular John” und “No One Knows” beginnen die Queens Of The Stone Age ihr Set und haben die ausverkaufte Mitsubishi Electric Halle binnen weniger Minuten in der Hand. Danach könnten sie auch dazu übergehen, nur Deep Cuts aus der eigenen Diskografie zu spielen, aber Josh Homme & Co. wissen, was sie den Leuten schuldig sind, und liefern Hit an Hit. Die Stimmung auf und vor der Bühne ist gelöst, was dazu führt, dass Josh Homme spontan die Setlist umschmeißt, weil aus den ersten Reihen der vehemente Wunsch aufkommt nach “Burn The Witch”.
Alle fünf Queens Of The Stone Age in der Mitsubishi Electric Halle in Düsseldorf (Foto: Markus Ebbert)
“It’s better to hear it, then to live it”, kommentiert Homme den Wunsch danach, und dass die Queens das Stück zum ersten Mal auf dieser Tour spielen, merkt niemand. Überhaupt verfügt die Band in der derzeitigen Besetzung über eine Eingespieltheit, die ihresgleichen sucht. Jedes Break sitzt, nie verlieren sie sich in ausufernden Improvisationen, bleiben nah am Song, wechseln vom Robot-Rock des ersten Albums zum swingenden “The Way You Used To Do” zum brachial trockenen Sound der aktuellen Platte.
Musikalisch auf ihrem Peak: Josh Homme und Bassist Mikey Shuman (Foto: Markus Ebbert)
Einen in jeder Hinsicht überraschenden Höhepunkt setzt dann ein Song vom aktuellen Album “In Times New Roman…”: Bei “Straight Jacket Fitting” legt Homme seine Gitarre beiseite, um auf Tuchfühlung mit dem Publikum zu gehen, und lässt sich einmal quer durch die Halle tragen. “Things got carried away in Düsseldorf”, schreiben die Queens dazu am nächsten Tag auf ihrem Instagram-Account.
Neben der Musik das klare zweite Highlight: das Lichtkonzept (Foto: Markus Ebbert)
Auf diesen Ausflug folgen mit “Make It Wit Chu” und “Little Sister” zwei recht unterschiedlich temperierte Songs, ehe die Queens für die Zugabe noch einmal für vier Stücke auf die Bühne zurückkommen, die die Halle endgültig auf links drehen: Mit “This is a song for a friend” kündigt Homme “God Is In The Radio” an, und die Queens schießen “Go With The Flow” und “Song For The Dead” hinterher, ehe die Deckenlichter angehen.
Noch steht Homme auf der Bühne – aber bald lässt er sich auf Händen tragen (Foto: Markus Ebbert)
Was bleibt ist Euphorie in den Gesichtern und Stimmen aller, die dabei waren. Einem entfährt ein ehrfürchtiges “What the fuck?!” – und er zitiert (vermutlich) unwissentlich die Worte, die Dave Grohl benutzte, als er in einem Interview auf die Queens zu sprechen kam: “For musicality and as a musician, you sit watch Queens Of The Stone Age, and you say ‘that’s not fair, what the fuck?'” Nach diesem Abend weiß man nur zu gut, was er damit meint.
Knapp eine Woche nach dem überraschenden Rauswurf bei Slipknot, äußerte sich der ehemalige Schlagzeuger Jay Weinberg gestern über Instagram und zeigte, dass die Entscheidung seiner Bandkollegen ihn aus dem Nichts traf: “Der Anruf, den ich am Morgen des 5. November erhielt, hat mir das Herz gebrochen und mich völlig unerwartet getroffen.”
Weiter bedankte sich Weinberg bei den Fans für die Unterstützung, betonte allerdings seine Trauer über das Ende seiner Zeit mit Slipknot: “Dies ist nicht das Ende der Reise, das ich mir erträumt habe und für das ich mich eingesetzt habe – bei weitem nicht.” Trotz allem warf Weinberg einen ersten Blick in Richtung Zukunft: “Ich weiß nicht wie und ich weiß nicht wann, aber ich freue mich darauf, wieder laute, leidenschaftliche und von Herzen kommende Musik zu machen, die wir gemeinsam genießen können. Bis dahin, wisst bitte, dass es die schönste Zeit meines Lebens war, die letzten zehn Jahre mit euch zu verbringen.”
Vergangene Woche hatten Slipknot sich von Weinberg getrennt, laut ihrem Statement war es eine kreative Entscheidung, die dazu dienen soll, sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Weinberg war 2013 zur Band dazugestoßen, nachdem der mittlerweile verstorbene Drummer Joey Jordison die Band verlassen hatte. Zuvor war er zeitweise als Drummer bei Against Me und Madball tätig. Bereits im Juni hatte Keyboarder Craig Jones die Band verlassen.
Nach seiner Zeit mit Against Me war zudem ein Zwist zwischen Weinberg und Frontfrau Laura Jane Grace aufgekommen. Weinberg hat die Band 2012 verlassen und seine Bandkollegen über seinen Ausstieg via Social-Media informiert. In den folgenden Jahren kehrte der Zwist immer wieder an die Öffentlichkeit zurück, etwa 2014 als Grace Weinberg unter anderem als “Scheißkerl” bezeichnete. Auf Weinbergs Rauswurf bei Slipknot reagierte Grace mit zwei mittlerweile gelöschten Tweets: “Wahre poetische Gerechtigkeit” und “Ist es nicht scheiße, das über Twitter herauszufinden, kleiner Mistkerl?”, wie The PRP festhalten.
Krist, was kommt dir in den Kopf, wenn du heutzutage “In Utero” hörst? Krist Novoselic: Ich verbinde gemischte Gefühle damit. Ich empfinde Freude, aber zugleich sind die Erinnerungen daran auch bittersüß. Aber ohne Frage bin ich stolz auf das Album. Ich finde, “In Utero” ist eine richtig gute Platte, musikalisch sehr divers. Meinem Empfinden nach ist die Qualität der Songs einer der Gründe, warum “In Utero” so erfolgreich geworden ist. Es ist intensiv und schön, es gibt weiche und harte Momente – und alles dazwischen.
Hat sich die Bedeutung des Albums für dich über die Jahre verändert? Das Album ist auf jeden Fall ein starkes künstlerisches Statement. Es lädt einen in seine Welt ein und überlässt einem die Entscheidung, diese Einladung anzunehmen. Wenn man sich darauf einlässt, regt es die Fantasie in vielerlei Hinsicht an. Das gilt für jede Art von Musik: Sie beeinflusst dich. Für mich ist es wundervoll, wie viele Leute über die Jahre “In Utero” gehört haben und ihre eigene Geschichte mit dem Album verbinden.
Was denkst du, bedeutet “In Utero” für Leute, die in den 90ern oder noch später geboren sind und sich erst jetzt mit dem Album beschäftigen? Das Album gehört wohl nun zum Kanon der Rockmusik und hat den Leuten, die es hören, nach wie vor etwas zu sagen. Die Musik auf dieser Platte ist für die Ewigkeit, und die Reissue, die wir jetzt veröffentlichen, ist für alle Nirvana-Fans etwas, an dem sie sich im Wortsinn festhalten können. Wir brauchen solche Dinge nach wie vor.
Obwohl wir uns längst im digitalen Zeitalter befinden? Ja, ich glaube, das gilt auch für jüngere Generationen. Wir wollen einfach einen Teil von so etwas wie “In Utero” besitzen. Dahinter steckt die gleiche Motivation, wie wenn mich jemand auf der Straße nach einem Autogramm fragt. Das 30-jährige Jubiläum des Albums ist eine gute Gelegenheit, uns auf diesem Weg wieder mit den Leuten zu verbinden. Wie gesagt, die Musik wird die Zeit überdauern, aber mit dieser Reissue bekommst du etwas, an dem du dich festhalten kannst. Sie dokumentiert die damalige Zeit, weil sie nicht nur das Album in seiner ursprünglichen Form enthält, sondern auch Liveaufnahmen.
Du meinst die beiden Konzerten aus dem Dezember 1993 in Los Angeles und aus dem Januar 1994 in Seattle, die nun im Zuge der Reissue veröffentlicht werden. War das Konzert in Seattle euer letztes in den USA überhaupt? Das könnte sein. Ich kann mich zumindest daran erinnern, dass es ein super Konzert war. Es war für uns ein Heimspiel, und als Band waren wir damals wie eine gut geölte Maschine.
Würdest du sagen, dass Nirvana live nie besser waren als zu dieser Zeit? Wir hatten damals Pat Smear mit an Bord und eine Cellistin – Nirvana waren damals schließlich eine Band, die in riesigen Hallen auftrat. Diese Bandphase mit der zu vergleichen, als wir noch in Clubs gespielt haben, ist schwierig. Vor allem, weil es sich um zwei völlig unterschiedliche Situationen für uns als Band handelte. Pat mit in die Band zu nehmen, war unser Versuch, live den notwendigen Sound für die großen Hallen und Arenen hinzubekommen. Wenn man sich Videos aus diesen verschiedenen Phasen anschaut und miteinander vergleicht, sieht man, dass es sich eigentlich um zwei unterschiedliche Bands handelt, die jeweils über ihre eigene Anziehungskraft verfügen.
Musstet ihr die Liveaufnahmen vor der Veröffentlichung bearbeiten? Wir mussten sie schon etwas sauberer machen – mit Hilfe einer KI. Aber was man nun auf den Liveaufnahmen hört, sind nach wie vor die Leute, die damals gemeinsam auf der Bühne standen. Auf diese Weise kann man hören, wie wir damals als Band die Songs von “In Utero” auf die Bühne gebracht haben. Selbst wenn man nicht dabei war, kann man sich nun ein Bild davon machen. Es ist fast wie früher, als Konzerte im Radio übertragen wurden.
Kannst du dich noch erinnern, mit welchen Erwartungen du im Februar 1993 für die Aufnahmen zu In Utero ins Studio gegangen bist? Nun, wir kamen von der Tour zu “Nevermind” zurück, das bekanntermaßen ziemlich erfolgreich war. Was uns zu dieser Zeit zusammengehalten hat, war, dass wir wirklich gerne Musik gemacht haben. Als wir damals irgendwo im Nirgendwo von Minnesota ins Studio gegangen sind, war es gerade Winter – draußen war es arschkalt, es lag Schnee. Wir waren von der Außenwelt abgeschnitten und es gab nichts anderes, was wir hätten tun können, als dort gemeinsam Musik zu machen. Aus diesem Grund waren wir sehr fokussiert auf die Arbeit an den Songs. Wir haben einfach versucht, zu machen, was wir am besten können: gemeinsam Musik machen. Fast jeden Song haben wir im ersten oder zweiten Take eingespielt. Alle Stücke aufzunehmen, hat gerade einmal zwei Wochen gedauert. Es kam alles sehr spontan zusammen und lebte davon, dass wir als Band gemeinsam spielen. Wohlgemerkt, das war in einer Zeit vor Pro-Tools und anderen digitalen Hilfsmitteln. Wir haben einfach auf Band aufgenommen. Was man deshalb auf dem Album hören kann, sind Nirvana in einer sehr rohen Form.
War das eure Reaktion auf den Durchbruch mit “Nevermind” und allem, was dieser Übernachterfolg mit sich brachte? Es ist in dieser Zeit jedenfalls sehr viel passiert. Wenn ich mich an die Jahre 1991 bis 1994 zurückerinnere, dann sind das zwar kalendarisch nur drei Jahre, aber es hat sich in dieser Zeit so viel rund um Nirvana und mit Nirvana ereignet, dass es sich für mich aus heutiger Sicht wie zehn Jahre anfühlt. Es war sehr intensiv.
Gab es zwischendurch mal die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was euch da gerade passierte? Damals nicht, aber in den Jahren, die seitdem vergangen sind, hatte ich ausreichend Gelegenheit darüber nachzudenken – und auch mit dem Verlust von Kurt umzugehen. Das ist das Schöne an diesem Jubiläum: Es gibt mir die Möglichkeit, wieder über die Zeit damals nachzudenken und zugleich das Album zu feiern – und darum geht es doch schließlich bei einem Jubiläum.
Foto: Anton Corbijn
»›In Utero‹ gehört zum Kanon der Rockmusik.«
Krist Novoselic
1993 war das Internet noch nicht allgegenwärtig wie heute und Social Media gab es überhaupt noch nicht. Glaubst du die digitalen Möglichkeiten von heute hätten dafür gesorgt, dass eure Karriere anders verlaufen wäre? Tatsächlich war ich so ab 1992 online. Ich hatte einen Laptop und eine E-Mail-Adresse, aber so etwas wie Social Media gab es in der Tat nicht. Ich glaube, es gab noch nicht einmal einen Internetbrowser. Möglicherweise sind Nirvana deshalb die letzte Band, die es ohne das Internet geschafft hat. Unseren Durchbruch haben wir dem Radio, unseren Fernsehauftritten und Musikvideos zu verdanken. Als Kurt 1994 starb, war das auch die Zeit, als ich das erste Mal einen Browser benutzte. Ein Download dauerte ewig und die Webseiten haben sich furchtbar langsam aufgebaut, aber bereits vier oder fünf Jahre später gab es die erste digitale Musik. Wie man damit umgehen sollte, führte zu große Kontroversen. Als wir aufgewachsen sind, bestanden Communities noch aus echten Menschen. Man ist auf irgendwelche Punkrock-Konzerte gegangen, hat Flyer am Kopierer gemacht. Wir haben untereinander Kassetten getauscht und auf diese Weise neue Musik für uns entdeckt. Was ich sagen will: Es war eine ganz andere Zeit. Aber irgendwie haben Nirvana es geschafft, im digitalen Zeitalter anzukommen.
Hast du eine Ahnung, woran das liegen könnte? Man muss sich vor Augen halten: Als Nirvana groß rauskamen, handelten alle noch nach dem Push-Prinzip. Das heißt, man musste selbst dafür sorgen, dass die Informationen zu den Leuten gelangten. Heute ist es genau umgekehrt, es geht nun nach dem Pull-Prinzip – man muss die Leute in seine Welt reinziehen. Uns ist es wundersamerweise schon in der Push-Ära gelungen, die Leute in unsere Welt zu ziehen. Am Anfang hatten wir 50.000 Exemplare von “Nevermind” machen lassen und waren der Meinung, damit kommen wir locker ein ganzes Jahr aus – und plötzlich war die Nachfrage nach dem Album riesig. Wir ziehen offensichtlich die Leute an – bis heute – und das ist einfach irre.
Bist du manchmal froh darüber, dass Nirvana nie so ein Nostalgie-Act geworden sind wie andere Bands, die heute noch unterwegs sind, man von ihnen aber eigentlich nur noch die alten Hits aus den 90ern hören möchte? Ich stehe voll hinter solchen Bands, weil sie nach wie vor als Musiker arbeiten. Durch meine Zeit bei Nirvana verfüge ich über eine Menge Privilegien, einfach weil die Band so relevant war. Und wir nebenbei natürlich auch jede Menge Platten, Shirts und Tickets verkauft haben. Ich mache auch nach wie vor Musik, aber ich muss sie nicht machen, um meine Miete zu finanzieren.
Vergangenes Jahr hast du beim Tribute-Konzert für Taylor Hawkins in Los Angeles mal wieder mit Dave Grohl eine Bühne geteilt. Wie war es für dich, bei dieser Gelegenheit mit ihm zusammen zu spielen? Das war für mich ebenfalls eine bittersüße Erfahrung. Aber mit Dave und Pat zusammenzuspielen, macht immer Spaß. Ich bin stolz auf die beiden und die Foo Fighters. Für mich sind sie die beste Band der Welt. Dass ich die Möglichkeit habe, mit ihnen auf einer Bühnen zu stehen, ist ein großes Privileg.
Du denkst also, es war die richtige Entscheidung, dass sie weitermachen – auch ohne Taylor Hawkins? Das ist für mich schwierig zu beantworten. Ich vermisse Taylor. Aber das Leben ist so, dass man sich mit solchen Sachen auseinandersetzen muss. Alles was man tun kann, ist das Gedenken an Taylor aufrechtzuerhalten – und das tun die Foo Fighters.
Als Mitte 1992 die MTV-Show “Alternative Nation” an den Start geht, wird mit dem Programm einer musikalischen Umorientierung Rechnung getragen, die man sich im Rückblick sehr umfassend vorstellen muss. Mit der ähnlich gelagerten Sendung “120 Minutes” hat es schon seit 1986 ein Musikvideo-Magazin gegeben, das eher nischige und unkommerzielle Künstler:innen ins Schaufenster stellt und auch das weniger urbane und szenekundige Publikum mit spannenden neuen Bands in Kontakt bringt. My Bloody Valentine, The Jesus And Mary Chain, Pixies, Hüsker Dü, Dinosaur Jr. und Dutzende andere haben vielleicht nicht die raffiniertesten Videoclips zu bieten, aber dafür einen frischen, originellen und herausfordernden Sound für all diejenigen, die schon mit 16 genug Bon Jovi für ein ganzes Leben gehört haben. Der kommerzielle Erfolg dieser Bands hält sich damals wie heute in eher überschaubarem Rahmen, ihre Ästhetik dagegen ebnet dem großen Grunge-Boom definitiv den Weg. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass schon der Name “Alternative Nation” auf ein Paradox hindeutet. Wenn das ganze Land plötzlich “alternativ” unterwegs ist, was genau soll dann eigentlich die Alternative zur Alternative sein?
Es ist belegt, dass Axl Rose damals mehrfach den Versuch unternimmt, Kurt Cobain zu beglückwünschen und für eine gemeinsame Tour mit Guns N’ Roses zu gewinnen. Davon will der Nirvana-Sänger aber nichts wissen. Er nutzt stattdessen die Gelegenheit, sich möglichst gründlich von den Hardrockern mit dem nicht gerade schmeichelhaften Frauenbild abzugrenzen. Damit mag er seinem eigenen Anspruch als alternativem und integrem – heute würde man wahrscheinlich “woke” dazu sagen – Rockidol gerecht werden, den Rückhalt der großen Käuferschichten hat er damit nicht. Die mögen an Grunge eben ganz besonders die aggressive Schweißnaht, an der sich Punk und Hardrock treffen und für ordentlich Triebabfuhr sorgen. College-Kids, die in Olympia, Washington oder Athens, Georgia ihre eigenen Indieszenen etabliert haben, bleiben zunehmend außen vor, denn Pearl Jam, Alice In Chains und Soundgarden, die anderen Lokalmatadore der Alternative Nation, können auch Jugendliche begeistern, die es in puncto Lebensanschauung ansonsten eher mit Beavis und Butt-Head halten.
Wenn man Juliana Hatfield nach ihrem Lieblingsalbum von 1993 fragt, nennt sie eines von PJ Harvey. Aber nicht “Rid Of Me”, das tatsächlich 1993 erschienene, sondern das Debüt “Dry”. Mit dem kann man auch heute noch sich und allen anderen eine Menge Angst einjagen, damals läuft das Album in Hatfields Tourbus rauf und runter. Harveys unerschrockener Eklektizismus steht dabei durchaus im Gegensatz zu Hatfields eher zutraulichem Indierock. Mit ihrer Band Blake Babies hat sie es in Boston und Umgebung zu regionalem Ruhm gebracht, ein mittelgroßer Fisch im kleinen Teich des Universitätsmilieus.
Hatfield um 1993. Lange spielte sie das Major-Spiel nicht mit (Foto: Paul Natkin/Archive Photos/Getty Images)
»Die großen Plattenfirmen witterten einen Indie-Goldrausch, und ich hatte das Glück, davon zu profitieren.«
Juliana Hatfield
Die örtliche Szene köchelt damals gemütlich vor sich hin. Pixies, Dinosaur Jr., Throwing Muses, Galaxie 500, Buffalo Tom und die Lemonheads geben sich in den Clubs die Klinke in die Hand und bilden dabei eine latent inzestuöse Jeder-kennt-jeden-Szene. “Das lag aber nicht an einem wie auch immer gearteten Boston-Sound, sondern an dem Run auf alternative Musik, der mit Nirvana begonnen hatte”, erinnert sich die Sängerin. “Gleichzeitig hatte ich nicht das Gefühl, dass die Bands von hier unbedingt auf Erfolg aus waren. Untereinander waren sie sehr verschieden, gemeinsam war ihnen nur das Interesse an Musik. Konkurrenz habe ich auch keine wahrgenommen; es war insgesamt eine sehr angenehme Atmosphäre.”
Es ist vor allem dieses Gefühl der Nestwärme, das Juliana Hatfield zu schätzen weiß. Bei den Blake Babies habe sie sich “wie das Mitglied einer Gang” gefühlt, sagt sie, oder wie ein Teil einer lebendigen Großfamilie. Als die Blake Babies zwischendurch mal einen Livebassisten brauchen, springt Evan Dando von den Lemonheads ein; als die kurzfristig ohne Drummer dastehen, springt John Strohm ein, der bei den Blake Babies Gitarre spielt. Für die Aufnahmen des Lemonheads-Klassikers “It’s A Shame About Ray” ist es Hatfield, die als Bassistin aushilft, auf dem folgenden Album “Come On Feel The Lemonheads” gastiert sie als Sängerin. Einige Fans wollen sich damals eine Liebesbeziehung zwischen Hatfield und Dando herbeifantasieren, wahr ist aber vor allem, dass Atlantic, das Majorlabel, bei dem die Lemonheads unter Vertrag stehen, nun auch Lust auf Hatfield bekommt. “1993 fühlte es sich an, als ob plötzlich jede Band einen Vertrag bekäme”, sagt die Sängerin. “Die großen Plattenfirmen witterten einen Indie-Goldrausch, und ich hatte das Glück, davon zu profitieren. Ich hatte mir mit den Blake Babies und mit meinem ersten Soloalbum zwar schon eine kleine lokale Gefolgschaft aufgebaut, aber Atlantic hatte wesentlich größere Ressourcen und Budgets, um der Welt meine Musik zu präsentieren.”
Die Zusammenarbeit gestaltet sich von Anfang an schwierig. Atlantic besteht darauf, die neu gegründete Band The Juliana Hatfield Three zu taufen und die Sängerin demonstrativ in den Fokus zu stellen. Was ihr schon vom Naturell her nicht entspricht. “Als Songwriterin habe ich mich immer zuversichtlich gefühlt; es war nur der Rest, der mich oft überfordert hat”, berichtet sie. “Damit besser zurecht zu kommen, ist bis heute nicht ganz leicht für mich, aber 1993 war es persönlich besonders schwierig. Ich war sehr unglücklich und deprimiert, weil ich dachte, dass mir einfach die Sozialkompetenz in diesem Business fehlt. Mir war klar, dass mich die Plattenfirma zu einem Popstar aufbauen wollte, aber ich fühlte mich dem überhaupt nicht gewachsen. Und das war schon früh ein Konflikt für mich.”
Damit ist Hatfield nicht allein. 1993 ist das Jahr, in dem sich auch insofern die Spreu vom Weizen trennt, als dass viele Underground-Darlings nicht mit den Anforderungen einer Major-Karriere zurande kommen. Manche fühlen sich in ihrer künstlerischen Vision beschnitten, andere können nicht mit dem plötzlichen Geldsegen umgehen, wieder andere internalisieren die Ausverkaufsvorwürfe, die plötzlich im Raum stehen. Für jeden Billy Corgan mit einem Riesenego gibt es ein Dutzend Indie-Boys und -Girls, die sich in derselben Situation zutiefst unwohl fühlen.
Nein zur Besetzungscouch
“Ich bin eine komplizierte Person”, sagt Juliana Hatfield. “Und im Musikbusiness ist es nun einmal leichter, wenn man versteht, seine Persönlichkeit auf eine griffige Essenz herunterzubrechen. Ich wollte immer authentisch sein, in meinen Songs die Wahrheit sagen und mich auch sonst vollkommen unverstellt präsentieren. Ich habe nie Make-up getragen und auch keine raffinierten Kleider. Ich habe auf Fotos nicht gelächelt, wenn mir nicht danach war, und auch meinen Körper nicht zur Schau gestellt. Der Plattenfirma hat das aber nicht gefallen. Die haben meine Stimme gehört und mein Gesicht gesehen und sich gedacht: Oh, die ist hübsch, das lässt sich sicher vermarkten. Damit waren sie aber auf dem Holzweg, denn anders als andere Leute hatte ich überhaupt keine dahingehenden Ambitionen. Ich hatte keinen Vertrag mit dem Konzept des Image, ich konnte nicht mal wie Billy Idol meine Oberlippe hochziehen. Und das macht das Leben in diesem Geschäft nicht einfacher.”
Als “Become What You Are” im August erscheint, avanciert das Album zu einem Überraschungserfolg, der maßgeblich von Hatfields eingängigen Songs und ihren entwaffnenden Texten profitiert. Die Single “My Sister” entwickelt sich sogar zu einem kleinen Hit, der seiner Urheberin in diesem Sommer immer wieder im Radio begegnet. “Jedes Mal, wenn das passiert ist, habe ich einen Anflug von Freude und Stolz empfunden”, sagt sie. “Rückblickend war das der schönste Aspekt meiner Karriere. Ich hatte wohl auch den vagen Wunsch, von vielen verschiedenen Leuten gehört zu werden, denn die Kommunikation von Gedanken und Gefühlen war mir schon wichtig. Von Angesicht zu Angesicht ist mir das schwergefallen, aber über Musik hat es immer funktioniert. So gesehen habe ich mir meine Träume damals erfüllt.”
In anderer Hinsicht sind sie dagegen unerreichbar geblieben. “Musiker sind im Durchschnitt unsicherer als andere Menschen”, glaubt die Sängerin, die schon bald am eigenen Leib erfährt, wie wankelmütig die Gunst des Publikums – und die der Plattenfirmen – sein kann. Ihr nächstes Album “Only Everything” bleibt kommerziell hinter den Erwartungen zurück, ein drittes wird von Atlantic zwar noch produziert aber nicht mehr veröffentlicht. “Viele Bands wurden damals unter Vertrag genommen und dann wieder vor die Tür gesetzt, sobald es mit den Verkäufen nicht hinhaute. Aber ich will nicht mosern. Es war eine kurze und besondere Zeit, in der sich auch unkommerzielle Bands wie meine beweisen konnten.”
Ein anderes Thema bleibt für Hatfield über das Jahr 1993 hinaus relevant. Die Sängerin, deren Bewunderung für PJ Harvey bis heute ungebrochen ist, kann sich noch lebhaft daran erinnern, in der vermeintlich egalitären Alternative Nation oft als Frau marginalisiert worden zu sein. Und eben nicht nur sie selbst. “Es gab damals eigene Programmplätze für Frauen in den Radio-Playlists”, berichtet sie. “Aber die waren abgezählt, und natürlich immer wesentlich weniger als die für Männer. Auch auf Festivalplakaten wollte man nicht zu viele Frauennamen sehen. Ich weiß noch, dass wir einmal eine gemeinsame Tour mit den Primitives spielen sollten, es aber dann hieß, zwei Sängerinnen hintereinander wären zu viel.” Sexismus, sagt sie, habe in der Branche schon immer existiert und würde vermutlich auch immer existieren. “Mein Manager hat versucht, das vor mir zu verstecken. Das ist ihm auch recht gut gelungen, gleichzeitig hat er mir ein paar merkwürdige Geschichten erzählt. Etwa die von einer anderen Musikerin, die auch bei Atlantic unter Vertrag stand, und die sich einem Radio-DJ während eines Interviews auf den Schoß setzen musste. Man hatte das Flirt-Spiel mitzuspielen, und sie hat das im Sinne ihrer Karriere wohl auch getan. Ich fand das widerlich, und ich habe etwas Derartiges auch nie mitgemacht. Aber mir war immer klar, dass ich diese Option gehabt hätte. Die Besetzungscouch gibt es nämlich wirklich.”
Was ihre Musikerkollegen angeht, hätte sie nichts Schlechtes zu berichten, sagt die Sängerin. Die Männer aus den Boston-Bands wären alle Gentlemen gewesen, ihr Blake-Babies-Bandkollege John Strohm gar ein erklärter Unterstützer feministischer Ideen. “Er hat mir und unserer Schlagzeugerin Freda nie das Gefühl gegeben, dass unser Geschlecht eine besondere Rolle spielt. Generell hatte ich den Eindruck, dass das in der Indieszene aber auch anders gehandhabt wurde als in der Popwelt. Man war frei, die kreative Person zu sein, die man war, ohne dass Erwartungen an einen gestellt wurden.” Als die kanadische Sängerin Sarah McLachlan 1997 das rein weiblich besetzte Lilith-Fair-Festival ins Leben ruft, ist Juliana Hatfield neben Fiona Apple, Sheryl Crow, Beth Orton, Emmylou Harris und vielen anderen ebenfalls mit von der Partie; die ganz große Karriere hatte sie sich da aber schon abgeschminkt. Über der Alternative Nation wehen zu dieser Zeit ohnehin ganz andere Flaggen. College-Rock und Grunge sind wieder in der Schublade verschwunden, die neuen Helden heißen Korn, Limp Bizkit und The Prodigy.
Für Juliana Hatfield hat sich der Geist von 1993 deswegen aber nicht in Luft aufgelöst. Die Sängerin, die eigenen Angaben zufolge eh nie für das Rampenlicht geschaffen war, gründet mit American Laundromat ein eigenes Label, auf dem sie unermüdlich Platten veröffentlicht. Mehr als 20 sind es bis heute, darunter Kooperationen mit Matthew Caws von Nada Surf und Paul Westerberg von den Replacements, sowie drei Coveralben, die sich Neuinterpretationen der Werke von Olivia Newton-John, The Police und ELO widmen. 2008 bringt Hatfield unter dem Titel “When I Grow Up” ihre Memoiren heraus, und auf ihrem Blog konnte man bis zuletzt verfolgen, welche Filme sie sich gerade angesehen hat. Wenn es nach ihr geht, wird ihre Karriere bis an ihr Lebensende weiter so verlaufen, auch wenn die sich längst wieder im Underground abspielt. “Ich glaube, dass ich immer noch etwas zu sagen habe, was ich noch nicht gesagt habe”, meint sie. “Es ist ein fortwährender Kampf, der vermutlich typisch ist für alle Künstlerinnen. Musik ist eine Lebensanschauung, bei der es keine Ziellinie gibt. In kommerzieller Hinsicht sind mir sicher einige Gipfel verwehrt geblieben, aber ich beneide die wirklich erfolgreichen Menschen in diesem Geschäft auch nicht. Dazu gehe ich viel zu gerne inkognito vor die Tür.”
Scott, wie fühlte es sich 1993 für dich an, in einer bekannten 80er-Metalband zu spielen? Scott Ian: Das war eine aufregende Zeit des Übergangs für uns. Wir hatten eine große Veränderung beim Gesang. Joey (Belladonna, Anthrax-Sänger) hatte 1992 die Band verlassen, nachdem wir mit “Persistence Of Time” und der Compilation “Attack Of The Killer B’s” über zwei Jahre unterwegs waren. Es war die größte Tour, die wir bis dato gespielt hatten. Die neuen Songs für “Sound Of White Noise” schrieben wir da auch schon. Ich wähnte Anthrax mitten in einem Hoch. Und das war es zu diesem Zeitpunkt wohl auch noch.
Mitten in einer Zeit, in der Metal insgesamt schon kräftig gestrauchelt hat. Das sollte uns auch treffen, aber zeitverzögert. 1993 zeigten alle Wegweiser noch nach oben. Wir hatten einen absurd guten Plattenvertrag bei Elektra unterschrieben und mit John Bush einen starken neuen Leadsänger. Unsere Erwartungen waren riesig und schienen sich auf der Tour zu “Sound Of White Noise” auch zu erfüllen. Den ganzen Sommer 1993 waren wir mit White Zombie unterwegs, was eine starke Paarung war. Außerdem hatten wir Quicksand mit an Bord, weil wir so auf sie standen. Die Promoter waren davon überhaupt nicht begeistert, aber das war uns egal. Anthrax waren zu der Zeit groß genug. Wir spielten regelmäßig in Venues vor 15.000 Zuschauern. Ab 1994 ging es dann auch bei uns spürbar bergab.
Den Wandel im Metal habt ihr entscheidend mitentwickelt. Die “Bring The Noise”-Tour Anfang 1992 in Deutschland war damals revolutionär. Anthrax und Public Enemy an einem Abend – plötzlich traf man die HipHop-Typen aus der Schule, mit denen man sonst musikalisch wenig zu tun hatte. Zumindest in Deutschland kamen weiße Mittelklasse-Kids mit unterschiedlichen Musikgeschmäckern zusammen. Würdest du sagen, dass es in den USA eine andere Dimension gab und diese Tour auch afroamerikanische und weiße Communitys einander nähergebracht hat? Leider nicht. Dabei war genau das meine Hoffnung. Als wir 1991 das “Bring The Noise”-Video und die Pläne für die Tour machten, war meine Erwartung, dass sowohl die weißen als auch die schwarzen Kids verstehen, worum es uns ging. Den Zahn hat Chuck D. von Public Enemy mir schnell gezogen. Er sagte, dass ein großer Teil – vielleicht sogar der größere – ihrer Fans ebenfalls aus weißen Mitteklasse-Kids besteht. Sobald eine andere weiße Rockband im Spiel sei, würden sich die schwarzen Kids davon nicht angesprochen fühlen. Mit einem Opener wie Primus aus dem Alternative Rock erst recht. Die schwarzen Fans tauchten nur auf, wenn Public Enemy in einem reinen HipHop-Billing unterwegs waren.
Wie enttäuscht warst du darüber? Ziemlich. Ich hatte echt ein 50/50-Publikum erwartet. Statt schwarzen Teenagern Heavy Metal näher zu bringen und den weißen Teenagern Rap, gab es eher eine musikalische Horizonterweiterung unter den weißen Kids. Aber ich will auch nichts kleinreden. Die Idee war großartig. Allein die Tatsache, dass das damals überhaupt passiert ist, war sensationell. Auch wenn wir gerne noch andere Grenzen überschritten hätten – der Crossover-Effekt war definitiv da.
Was hat “Bring The Noise” mit der Musikbranche gemacht? Wir haben Dämme eingerissen. Niemand wollte diese Tour mit uns machen. Beide beteiligte Labels – Island und Def Jam – hatten noch nicht einmal Bock auf den Song. Ständig haben sie uns schulterzuckend gefragt, wo man eine Sache wie “Bring The Noise” denn herausbringen soll. Auf einem Anthrax-Album? Auf einem Public-Enemy-Album? Alle, die mit dem Business zu tun hatten, fanden immer einen Grund, es nicht zu tun. Chuck D, Flavor Flav und wir hatten aber immer einen Grund mehr, es doch zu tun. Am Ende mussten wir es auf eigene Kappe durchziehen. Und als es sich gut verkaufte, sagten natürlich alle: “Wow, was für eine großartige Idee! Wir haben es immer gewusst!”
Welche anderen Metalbands haben dich 1993 beeindruckt? Da muss ich vor allem Pantera nennen. Sie waren nicht nur auf Alben wie “Vulgar Display Of Power” eine ganz neue Liga, sondern auch live. Verfolgt hatte ich sie schon seit 1986, aber “Cowboys From Hell” war der Game Changer. Dann waren Rage Against The Machine natürlich am Start und haben die Regeln von heavy Musik für alle neu definiert. Ich habe aber auch Sepultura und Helmet in guter Erinnerung. Auch wenn ich mich immer dafür rechtfertigen musste, warum ich Helmet irgendwie Metal fand. Fast hätte ich jetzt Faith No More vergessen. Sie haben aus meiner Sicht die besten Metal-Alben der 90er gemacht, obwohl sie ideell meilenweit vom klassischen Metal entfernt waren.
Wie sehr hast du Metalbands wahrgenommen, die 1993 wenig Anstalten einer Stiländerung, aber dennoch gute Alben gemacht haben? Overkill zum Beispiel. Ich habe zu der Zeit eigentlich kaum noch 80er-Metal gehört. Mit Ausnahme von Slayer. Die waren immer da. Davon ab bin ich in meinen eigenen Hörgewohnheiten schon in den 80ern weg vom Thrash und hin zu Hardcore und Rap. Dazu kommt sicher die Tatsache, dass ich ja in meiner eigenen Band dauernd Thrash gespielt habe.
Wie war es zu dieser Zeit für dich, Songs von “Spreading The Disease” oder “Among The Living” zu spielen? War das Bedürfnisbefriedigung für die Fans? Oh nein. Ich war es nie leid, Songs dieser Alben zu spielen. Ganz einfach, weil es gute Songs sind.
Hatte der Begriff “Big Four Of Thrash” damals eine Bedeutung für dich? Der Begriff nicht, aber die Bands dahinter schon. Die ersten Alben von Metallica und Megadeth fand ich genauso phänomenal wie die von Slayer. Aber diese Sachen sind ebenso wie Mercyful Fate und andere Lieblingsbands von mir aus den 80ern eine Weile hinten in meiner Plattensammlung gelandet. Später hat sich das wieder geändert, ich entdeckte diese Sachen und meine Liebe dazu neu. Dafür musste ich sie aber wohl erst aus den Augen verlieren.
Wenn man unterstellt, dass jedes Album kreative Spuren bei einer Band hinterlässt – welche davon haben Anthrax von “Sound Of White Noise” mitgenommen? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Betrachten wir die Situation, in der Anthrax waren: Wir wollten große Hooklines schreiben, standen aber eine Zeit lang ohne Sänger da. Einen Teil der Songs haben wir sehr früh geschrieben, schon Anfang 1992. Das war eine abstrakte Lage, denn wir mussten Gesangsnoten schreiben, von denen noch nicht klar war, wer sie singt. “Only” und “Room For One More” waren gänzlich ausgearbeitet, als wir sie John Bush vorgespielt haben.
Ist euch das schwergefallen? Große Hooks haben Anthrax ja schon in den 80ern ausgezeichnet. Stimmt, “Among The Living” hat coole Hooks, aber die waren anders. Wir waren Mitte 20 und gut darin, typische Gang Shouts des Thrash hinzulegen. Auf so etwas hatten wir aber spätestens seit “Persistence Of Time” keinen Bock mehr. Da wollten wir melodischere Refrains, die Joey Belladonnas Möglichkeiten mehr ausreizen als das Hardcore-lastige Stakkato-Gebrüll in Songs wie “Efilnikufesin (N.F.L.)”. Das Ganze war also ein Prozess, der sich über mehrere Alben entwickelte. Auf “Sound Of White Noise” hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, das mit den Refrains draufzuhaben. Ich denke, dieser Aspekt reicht bis in unsere Gegenwart hinein.
Nach “Sound Of White Noise” rissen die Veränderungen bei Anthrax nicht ab. Euer langjähriger Leadgitarrist Dan Spitz verließ die Band, was ein ziemliches Personenkarussell in Gang setzte. Hatte sein Weggang musikalische Gründe? Das müsstest du ihn am besten selbst fragen. Er hat sich in dieser Zeit innerlich bei Anthrax ausgeklinkt und tauchte immer seltener bei den Proben auf. In den Monaten, in denen wir die Songs für “Stomp 442” geschrieben haben, war er kaum da und hielt sich aus der Arbeit heraus. Heute kann ich darüber nur mutmaßen. Ich selbst bin spät Vater geworden, aber Dan war damals der erste von uns. Er war verheiratet und hatte ein Kind. Heute habe ich eine bessere Vorstellung davon, wo er damals mit seinen Gedanken gewesen sein könnte. Eher nicht in Proberäumen, sondern bei seiner Familie.
In den 2000ern wurde es eher ruhig um Anthrax. 2011 wart ihr mit Joey Belladonna nahezu wieder in klassischer Besetzung unterwegs. Du hast die Off-Zeiten gut genutzt und mit deiner Autobiografie “I’m The Man” ab 2014 auch viele Leute als Autor beeindruckt. Darunter auch mich – ich habe in deinem Buch eine Menge über die Geisteswelt eines jüdischen Teenagers im New York der 70er gelernt. Das ist schräg, denn ich bin der unreligiöseste Jude, den man sich vorstellen kann. Aber wie auch immer – das Buch ist primär die Geschichte von einigen pickeligen Teenagern in New York, unabhängig von ihren Backgrounds. Charlie [Benante] und Frank [Bello] sind italienischstämmig, und wir kennen uns seit über 40 Jahren. Auch wenn unsere familiären Hintergründe unterschiedlich waren, haben wir dieselben Dinge zusammen durchgemacht. Keiner von uns hatte viel Geld. Keinem von uns fiel es leicht, erwachsen zu werden. “I’m The Man” ist ein Buch über New York und sicher auch eine Liebeserklärung an diese Stadt.
Anthrax 1993 mit ihrem damals neuen Sänger John Bush (z.v.l.) – Foto: Mick Hutson/Redferns/Getty Images
»Auf ›Sound Of White Noise‹ hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, das mit den Refrains draufzuhaben.«
Scott Ian
Mit “Access All Areas: Stories From A Hard Rock Life” hast du 2017 ein zweites Buch nachgelegt. Wenn es ein drittes Buch von Scott Ian gäbe, wovon würde es handeln? Ich weiß es nicht. Momentan habe ich keine Pläne in der Richtung und als Musiker mehr als genug zu tun. Ich habe ehrlich gesagt auch immer viel Spaß bei meinen Spoken-Word-Abenden, aber mein Leben als Familienmensch steht jetzt im Mittelpunkt. Ich suche nicht nach Gründen, weg von zuhause zu sein. Bei Anthrax und Mr. Bungle bin ich gut eingebunden, da ist für Extraprojekte keine Zeit. Das ist vermutlich der größte Unterschied in meinem Leben zwischen 1993 und 2023: Ich bin jetzt Vater, und die Schwerpunkte in meinem Leben haben sich enorm verlagert.
Wäre eine Anthrax-Tour in Europa ein guter Grund, mal wieder von zuhause weg zu sein? Oh, bestimmt. Das wird mit Sicherheit nächstes Jahr passieren.
Zuletzt hast du deine Skills als einer der besten Rhythmusgitarristen des Thrash bei Mr. Bungle gezeigt. Ein Song wie “Raping Your Mind” ist wie eine Droge für alte Thrash-Fans. Beeinflusst so ein Album dich dabei, wenn du Riffs für Anthrax schreibst? Ich fürchte, du musst das neue Album abwarten. (lacht) Um ehrlich zu sein bin ich momentan zu nahe an der Materie dran, um das zu beantworten. Auf jeden Fall bin ich gespannt, was die Leute in dem neuen Material alles hören werden.
In welchem Stadium sind die Aufnahmen für das zwölfte Anthrax-Album denn? Im Dezember werden wir noch einige Songs aufnehmen. Auf meinem Aufgabenzettel stehen auch noch einige Texte für das Album, die ja meist von mir kommen. Man kann sagen, es ist in Sichtweite, dass Joey ins Studio geht, um einzusingen. Dann fehlen nur noch Leadgitarren und der Mix.
In wenigen Wochen wirst du 60 Jahre alt. Wird der 31. Dezember 2023 ein bedeutungsvollerer Geburtstag für dich als die davor? In jedem Fall wird die Party dafür größer sein als alle anderen. (lacht) Ich mache mir keine Sorgen um diesen Tag, um mein Alter oder meine Sterblichkeit. Ich würde auch nicht mit dem 30-jährigen Scott tauschen wollen, selbst wenn das möglich wäre. Wenn ich 30 weitere Jahre Lebenszeit geschenkt bekäme, das wäre schon cool genug.
Wir haben heute viel über 1993 gesprochen. Was würdest du dem 30-jährigen Scott durch einen Zeittunnel ins Ohr flüstern, wenn du das könntest? Ich würde mir sagen: Bring auf keinen Fall “Black Lodge” als zweite Single von “Sound Of White Noise” heraus. Gib einen Scheiß darauf, was die von Elektra wollen. Höre auf deine innere Stimme und nimm “Room For One More”! Außerdem würde ich mir raten, nachts besser nicht betrunken ins Trainingslager der New York Yankees einzubrechen, um Fan-Devotionalien zu klauen. Es lohnt sich nicht.
Als Tanya Donelly Belly gründet, ist sie erst 25 Jahre alt und bereits doppelte Veteranin. Mit ihrer Stiefschwester Kristin Hersh hat sie bei Throwing Muses gespielt, mit Kim Deal die Breeders ins Leben gerufen. Doch um ihre persönliche Vision umzusetzen, muss eine eigene Band her. Die heißt Belly, weil sich das Wort “zugleich hübsch und hässlich” anhört, so Donelly, aber auch weil ihre lyrischen Welten gerne mit Körperthemen hantieren. Auf “Star” finden sich immer wieder Bezüge zu Geburt und Schwangerschaft, die Introspektion ist ganz buchstäblich eine Reise ins Ich – die durchaus auch ihre dunklen Seiten hat. “I will only hurt you in my dreams” singt Donelly auf dem Überraschungshit “Feed The Tree”, was dank ihrer sonst so zutraulichen Elfenstimme gleich noch einmal bedrohlicher klingt. Weil “Star” seine Mischung aus Indie, Folk und Dreampop in betörende Melodien gießt, verkauft die Band plötzlich Hunderttausende Alben und hievt ihre ruhelose Sängerin für kurze Zeit in den Alternative-Rock-Himmel. Markus Hockenbrink
Im Weißwasser der Grunge-Welle veröffentlichen Dylan Carlson, ein enger Freund von Kurt Cobain, und der Bassist Dave Harwell eine Platte, die ein neues Genre begründet: Drone. Carlson lädt den bisher vor allem elektronisch definierten Stil Ambient mit monotonen, erdbebenartigen Gitarrenriffs auf und verpasst ihm einen ironischen Anstrich, der sich im Artwork der Platte manifestiert. Eine Auswahl an Pillen, Buddha-Statuen, dazu fingierte Pressezitate (“A physical presence in the room… I can almost touch the sounds”) und Testimonials (“My tension headaches have disappeared!”) gleich mitgeliefert, ist das Album nicht nur fordernd, sondern scheint sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen. Davon abgesehen entfaltet “Earth 2” eine unglaubliche, transzendentale Wucht. Diese Wirkung hallt nach bis in die Neuzeit, in der die selbsterklärten Earth-Epigonen Sunn O))) das Genre weiterentwickeln. Zum 30-jährigen Jubiläum haben Earth eine Reissue mit Remixen von Justin Broadrick (Godflesh, Jesu) angekündigt. Andreas Kohl
In der Liste mit den anbetungswürdigsten Album-Openern in Stein gemeißelt, ganz oben auf dem Siegertreppchen: Wie J Mascis die Intro-Riffs von “Out There” ins Licht schiebt, direkt danach mit dem ersten Solo bereits ein ganzes Buch schreibt und dabei noch nicht einen Ton gesungen hat, das ist emotional so einnehmend, dass man kaum weiß, ob man zur Luftgitarre oder zum Taschentuch greifen soll. Nach Mascis’ Quasi-Alleingang auf “Green Mind” sind Dinosaur Jr. hier zwischen “Bug” (1988) und “Beyond” (2007) das einzige Mal als echte Band im Studio. Bassist Mike Johnson ist neu dabei, für Drummer Murph stellt “Where You Been” vorerst den Abschied dar. Und zwar einen der Extraklasse: Der MTV-Hit “Start Choppin'” mit seiner Stop-and-go-Dynamik, die Highspeed-Salve “On The Way” und das von Streichern und verhuschtem Piano getragene Kammerpop-Drama “Not The Same” sind nur drei von etlichen Hits. “Without A Sound” schlägt im Jahr darauf in dieselbe Kerbe, kommerziell ist es sogar noch einen Tick erfolgreicher. Ingo Scheel
Ende der 80er ist Walter Schreifels vorerst durch mit dem Youth-Crew-Hardcore, mit dem Sound seiner Bands Gorilla Biscuits und Youth Of Today. Mit dem Schlagzeuger ersterer – Luke Abbey – nimmt er ein Demo unter dem Namen Moondog auf. Schreifels singt erstmals, spielt Bass und Gitarre. Es ist die Vorstufe zu Quicksand, für die er sich kurz danach mit Schlagzeuger Alan Cage und Tom Capone von Beyond sowie Bassist Sergio Vega zusammentut. 1990 veröffentlichen sie die erste EP. Der Opener “Omission” schafft es drei Jahre später auch auf das Album “Slip”. Der Sound der zwölf Songs darauf hat zwar noch die Wut und Energie des Hardcore, aber es ist so viel mehr. Cages Rhythmen spielen sich zwischen HipHop und Groove Metal ab. Der Sound ist düster, nicht allzu weit davon entfernt, was zu dieser Zeit auch Tool und Helmet spielen. Quicksand werden zu Geburtshelfern eines neuen Genres: Post-Hardcore. Mit dem eröffnenden Trio aus “Fazer”, “Head To Wall” und “Dine Alone” bescheren sie dem jungen Genre direkt mehrere unverwüstliche Klassiker. Jan Schwarzkamp
Man sagt, dass es keine zweite Chance für einen ersten Eindruck gibt. Dessen sind sich die New Bomb Turks bewusst. “Destroy-Oh-Boy!” ist wie eine Schulhofprügelei ohne Aufsichtsperson. Einer tritt dir den Schulranzen vom Rücken, einer zieht dir die Boxershorts bis unter die Ohrläppchen und Sänger Eric Davidson schreit dir derweil in zehnfacher Iggy Pop-Geschwindigkeit Unflätigkeiten ins Gesicht. Außerdem ist das Debütalbum der Punkband aus Ohio wie ein Griff in die Fritteuse: heiß, fettig, triefend. Allerdings Testosteron und kein Rapsöl. Es markiert einen Höhepunkt für Crypt Records, und weil alles in Wellen passiert: Standesgemäß hat man 1993 das Vinyl gekauft, denn bei dieser etwas mehr als dreißigminütigen Lektion in Krach ist es dann auch egal, ob deine Anlage 50 oder 5.000 D-Mark gekostet hat. Am Ende bedankt man sich für den Tinnitus, während der Kioskbetreiber ums Eck den Laden zusperrt, weil er sein Monatssalär mit Getränken an diesem einen Plattenabend gemacht hat. Nils Klein
Es ist auf den ersten Blick zu sehen, dass bei “Stain” etwas anders ist. “Vivid”, “Time’s Up” und die EP “Biscuits” sind musikalisch so bunt wie ihre collagierten Cover. Das von “Stain” hingegen reflektiert die düstere Stimmung der Platte. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen die Band Metal so funky spielt wie keine zweite. Songs wie “Postman”, “Leave It Alone” oder “Never Satisfied” sind vom fast maschinellen Groove von Schlagzeuger Will Calhoun geprägt, dessen Spiel in vielen Momenten absichtlich steif und eckig wirkt. Inhaltlich sind Living Colour noch expliziter als zuvor und ihre Themen auch 30 Jahre später aktuell: Bisexualität in “Bi”, Polizeigewalt in “This Little Pig”, Fremdenfeindlichkeit in “Ausländer”. Ihren Anliegen verleihen Living Colour musikalisch zusätzliches Gewicht, indem sich die drei Jazz-geschulten Instrumentalisten in den Dienst der Songs stellen. Ähnlich erfolgreich wie die Vorgänger ist “Stain” unverständlicherweise nicht – und Living Colour sind kurze Zeit später vorerst Geschichte. Florian Schneider
Mit dem achten Album werden die einstigen Synthie-Pop-Pioniere zur Rockband. Es hat sich angebahnt. Schon für den Vorgänger “Violator” (1990) schreibt Martin Gore am liebsten auf der Gitarre, und der Erfolg der bluesbasierten Hitsingle “Personal Jesus” gibt ihm Recht. Doch die stilistische Metamorphose vollendet nicht nur der Songwriter, sondern sein Sänger mit ihm: Als wäre es ein Spiegelbild seines Faibles für Alternative Rock bringt Dave Gahan aus seiner neuen Wahlheimat L.A. einen Biker-Look mit – bärtig, langhaarig, tätowiert. Sein Lifestyle am Limit wird schon bald zur Zerreißprobe für Depeche Mode, doch auf “Songs Of Faith And Devotion” ringen sie dem Chaos noch genügend Kreativität ab. Sie schreiben einige der besten Songs ihrer Karriere und verbreitern dafür das Spektrum von Grunge bis Gospel, von untertourig bis überkandidelt. Es ist ihr letztes Album mit Sound-Architekt Alan Wilder, der nach der Tour frustriert aussteigt – und beinahe auch das letzte mit Gahan, der in der Folge mehrere Nahtoderfahrungen macht. Dennis Plauk
Möchte man unbedingt an die Sinnhaftigkeit der Dinge glauben, dann ist “Who Was In My Room Last Night?” einer der Gründe, weshalb einst Rockmusik erfunden wurde. Gitarrist Paul Leary sagt derweil, man hätte im Studio auch zufällig herausgefunden, dass die Butthole Surfers aus Texas und ihr Produzent, Led Zeppelin-Bassist John Paul Jones, die gleiche Lieblingsmarke Whisky teilen – und regelmäßig gemeinsam darauf angestoßen hätten. Die Noiserock-Legenden gehen bei ihrem Major-Debüt “Independent Worm Saloon” dennoch überraschend pragmatisch vor. Weniger nervtötende Soundscapes, mehr Rock’n’Roll und Punk wie “Dancing Fool”, “Goofy’s Concern” oder das etwas an Mudhoney erinnernde “Some Dispute Over T-Shirt Sales”. Beinahe schön sind der Cowpunk-Trainbeat von “You Don’t Know Me”, der Doom-Bluesgrass von “The Ballad Of Naked Man” und der Folkrock von “The Wooden Song”. Und vielleicht ist “Independent Worm Saloon” einfach nur das smootheste Zeugnis, wie schrullige Bands trotz Majorlabel geil bleiben können. Wenn sie nur wollen. Michael Setzer
Im engen Zusammenspiel mit den Medien gelingt es Suede, über 1992 hinaus den Hype hochzuhalten, bis in den Spätfrühling des Jahres, als endlich das erste Album der Band in den Läden steht. In Sachen Sensationsgier beginnt hier die Ära des Britpop. Was niemand ahnt, bevor das Album damals zum ersten Mal läuft: Die Londoner toppen locker die drei Singles, die sie vorab ausgekoppelt haben. Klar, “The Drowners”, “Metal Mickey” und “Animal Nitrate” sind die Hits – Neo-Glamrock, androgyn, funkelnd, mysteriös. Doch die wahren Höhepunkte sind die Balladen, gesungen vom leidenden Brett Anderson, geadelt von Bernard Butlers unglaublich eleganter Gitarre. “Pantomime Horse” und “Sleeping Pills” gewinnen mit jeder Minute an Intensität, “The Next Life” ist das orchestrale Finale. Ein Debüt, dass die Versprechen der Vorabsingles einhält und neue macht: Wie gut wird diese Band erst werden, wenn sie abseits des Hypes frei aufspielen kann? Ein Jahr später gibt das zweite Meisterwerk “Dog Man Star” die Antwort. André Boße
Mit “Opiate” (1992) brauchen Tool nur eine EP Anlauf, um auf ihrem Debütalbum einen Sound zu formulieren, der bis heute unverkennbar ist und den sie auf den folgenden vier Alben lediglich modifizieren und erweitern. Da sind die melodischen Grooves von Danny Carey, die flirrende Gitarre von Adam Jones, die so schnell die Temperatur wechselt, da ist Maynard James Keenans Gesang, der aus guten Gründen bis heute keine Nachahmer findet. Und es gibt den gegen den Strich gespielten Bass von Paul D’Amour, der nach dem Album Tool den Rücken kehrt und sich vermutlich bis heute darüber ärgert. Trotzdem nimmt “Undertow” eine Sonderrolle in der Diskografie von Tool ein, weil sie hier ihre Songs noch deutlich kompakter und konventioneller arrangieren. Das gilt in besonderem Maß für die Single “Sober”, deren Video auf MTV einem auch visuell das Tor zur speziellen Welt der Band öffnet. Alles Gründe, “Undertow” für das beste Tool-Album zu halten, doch es bleibt ihr zweitbestes – hinter dem Nachfolger “Aenima”. Florian Schneider
Schon kurz nachdem AC/DC ihr erstes Konzert seit sieben Jahren im Rahmen des Power-Trip-Festivals gespielt hatten, wurde auch dank der wohl überraschend guten Form während ihres zweistündigen Sets über eine große Tour im kommenden Jahr spekuliert. Angeheizt werden diese Gerüchte nun durch einen Bericht der Süddeutschen Zeitung: Angeblich sollen die australischen Hardrock-Legenden am 12. Juni 2024 im Münchener Olympiastadion spielen.
Die bayerische Tageszeitung will aus Kreisen des Münchener Rathauses nämlich erfahren haben, dass die Organisator:innen der Fußball-EM 2024 ursprünglich mit einem Auftritt von Popstar Ed Sheeran im Olympiastadion für ihre Eröffnungsfeier am 12. Juni geplant hatten. Die Veranstalter:innen hätten es aber nicht geschafft, die verbindliche Zusage rechtzeitig abzugeben, sodass das Konzert auf der Theresienwiese stattfinden soll. AC/DC sollen ihnen mit einer Buchung des Olympiastadions für den Tag zuvorgekommen sein. Offiziell bestätigt wurden allerdings weder der Auftritt von Ed Sheeran noch der von AC/DC.
Sollte was an dem Stadion-Auftritt mit rund 77.000 Besucher:innen dran sein, ist nicht auszuschließen, dass AC/DC noch weitere Tourtermine in Deutschland folgen lassen. Ihre bislang letzten Shows spielten die Australier 2016 in Deutschland.