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Scott Ian (Anthrax) im Interview

Scott Ian über "Sound Of White Noise"

»1993 zeigten alle Wegweiser noch nach oben«
Anfang der 90er muss Heavy Metal seinen Status zwischen Stagnation und Wandel intensiv neu verhandeln. Anthrax gestalten diese Veränderung in der Musikwelt als Grenzgänger aktiv mit. Mit einer Aufsehen erregenden Co-Headliner-Tour mit Public Enemy räumen die New Yorker den Weg für ein Jahrzehnt des Crossover endgültig frei. Als Band haben Anthrax die richtig großen Herausforderungen aber noch vor sich. Gitarrist Scott Ian erinnert sich.
Scott Ian Anthrax 2015
Scott Ian (Foto: Jimmy Hubbard)

Scott, wie fühlte es sich 1993 für dich an, in einer bekannten 80er-Metalband zu spielen?
Scott Ian: Das war eine aufregende Zeit des Übergangs für uns. Wir hatten eine große Veränderung beim Gesang. Joey (Belladonna, Anthrax-Sänger) hatte 1992 die Band verlassen, nachdem wir mit “Persistence Of Time” und der Compilation “Attack Of The Killer B’s” über zwei Jahre unterwegs waren. Es war die größte Tour, die wir bis dato gespielt hatten. Die neuen Songs für “Sound Of White Noise” schrieben wir da auch schon. Ich wähnte Anthrax mitten in einem Hoch. Und das war es zu diesem Zeitpunkt wohl auch noch.

Mitten in einer Zeit, in der Metal insgesamt schon kräftig gestrauchelt hat.
Das sollte uns auch treffen, aber zeitverzögert. 1993 zeigten alle Wegweiser noch nach oben. Wir hatten einen absurd guten Plattenvertrag bei Elektra unterschrieben und mit John Bush einen starken neuen Leadsänger. Unsere Erwartungen waren riesig und schienen sich auf der Tour zu “Sound Of White Noise” auch zu erfüllen. Den ganzen Sommer 1993 waren wir mit White Zombie unterwegs, was eine starke Paarung war. Außerdem hatten wir Quicksand mit an Bord, weil wir so auf sie standen. Die Promoter waren davon überhaupt nicht begeistert, aber das war uns egal. Anthrax waren zu der Zeit groß genug. Wir spielten regelmäßig in Venues vor 15.000 Zuschauern. Ab 1994 ging es dann auch bei uns spürbar bergab.

Den Wandel im Metal habt ihr entscheidend mitentwickelt. Die “Bring The Noise”-Tour Anfang 1992 in Deutschland war damals revolutionär. Anthrax und Public Enemy an einem Abend – plötzlich traf man die HipHop-Typen aus der Schule, mit denen man sonst musikalisch wenig zu tun hatte. Zumindest in Deutschland kamen weiße Mittelklasse-Kids mit unterschiedlichen Musikgeschmäckern zusammen. Würdest du sagen, dass es in den USA eine andere Dimension gab und diese Tour auch afroamerikanische und weiße Communitys einander nähergebracht hat?
Leider nicht. Dabei war genau das meine Hoffnung. Als wir 1991 das “Bring The Noise”-Video und die Pläne für die Tour machten, war meine Erwartung, dass sowohl die weißen als auch die schwarzen Kids verstehen, worum es uns ging. Den Zahn hat Chuck D. von Public Enemy mir schnell gezogen. Er sagte, dass ein großer Teil – vielleicht sogar der größere – ihrer Fans ebenfalls aus weißen Mitteklasse-Kids besteht. Sobald eine andere weiße Rockband im Spiel sei, würden sich die schwarzen Kids davon nicht angesprochen fühlen. Mit einem Opener wie Primus aus dem Alternative Rock erst recht. Die schwarzen Fans tauchten nur auf, wenn Public Enemy in einem reinen HipHop-Billing unterwegs waren.

Wie enttäuscht warst du darüber?
Ziemlich. Ich hatte echt ein 50/50-Publikum erwartet. Statt schwarzen Teenagern Heavy Metal näher zu bringen und den weißen Teenagern Rap, gab es eher eine musikalische Horizonterweiterung unter den weißen Kids. Aber ich will auch nichts kleinreden. Die Idee war großartig. Allein die Tatsache, dass das damals überhaupt passiert ist, war sensationell. Auch wenn wir gerne noch andere Grenzen überschritten hätten – der Crossover-Effekt war definitiv da.

Was hat “Bring The Noise” mit der Musikbranche gemacht?
Wir haben Dämme eingerissen. Niemand wollte diese Tour mit uns machen. Beide beteiligte Labels – Island und Def Jam – hatten noch nicht einmal Bock auf den Song. Ständig haben sie uns schulterzuckend gefragt, wo man eine Sache wie “Bring The Noise” denn herausbringen soll. Auf einem Anthrax-Album? Auf einem Public-Enemy-Album? Alle, die mit dem Business zu tun hatten, fanden immer einen Grund, es nicht zu tun. Chuck D, Flavor Flav und wir hatten aber immer einen Grund mehr, es doch zu tun. Am Ende mussten wir es auf eigene Kappe durchziehen. Und als es sich gut verkaufte, sagten natürlich alle: “Wow, was für eine großartige Idee! Wir haben es immer gewusst!”

Welche anderen Metalbands haben dich 1993 beeindruckt?
Da muss ich vor allem Pantera nennen. Sie waren nicht nur auf Alben wie “Vulgar Display Of Power” eine ganz neue Liga, sondern auch live. Verfolgt hatte ich sie schon seit 1986, aber “Cowboys From Hell” war der Game Changer. Dann waren Rage Against The Machine natürlich am Start und haben die Regeln von heavy Musik für alle neu definiert. Ich habe aber auch Sepultura und Helmet in guter Erinnerung. Auch wenn ich mich immer dafür rechtfertigen musste, warum ich Helmet irgendwie Metal fand. Fast hätte ich jetzt Faith No More vergessen. Sie haben aus meiner Sicht die besten Metal-Alben der 90er gemacht, obwohl sie ideell meilenweit vom klassischen Metal entfernt waren.

Wie sehr hast du Metalbands wahrgenommen, die 1993 wenig Anstalten einer Stiländerung, aber dennoch gute Alben gemacht haben? Overkill zum Beispiel.
Ich habe zu der Zeit eigentlich kaum noch 80er-Metal gehört. Mit Ausnahme von Slayer. Die waren immer da. Davon ab bin ich in meinen eigenen Hörgewohnheiten schon in den 80ern weg vom Thrash und hin zu Hardcore und Rap. Dazu kommt sicher die Tatsache, dass ich ja in meiner eigenen Band dauernd Thrash gespielt habe.

Wie war es zu dieser Zeit für dich, Songs von “Spreading The Disease” oder “Among The Living” zu spielen? War das Bedürfnisbefriedigung für die Fans?
Oh nein. Ich war es nie leid, Songs dieser Alben zu spielen. Ganz einfach, weil es gute Songs sind.

Hatte der Begriff “Big Four Of Thrash” damals eine Bedeutung für dich?
Der Begriff nicht, aber die Bands dahinter schon. Die ersten Alben von Metallica und Megadeth fand ich genauso phänomenal wie die von Slayer. Aber diese Sachen sind ebenso wie Mercyful Fate und andere Lieblingsbands von mir aus den 80ern eine Weile hinten in meiner Plattensammlung gelandet. Später hat sich das wieder geändert, ich entdeckte diese Sachen und meine Liebe dazu neu. Dafür musste ich sie aber wohl erst aus den Augen verlieren.

Wenn man unterstellt, dass jedes Album kreative Spuren bei einer Band hinterlässt – welche davon haben Anthrax von “Sound Of White Noise” mitgenommen?
Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Betrachten wir die Situation, in der Anthrax waren: Wir wollten große Hooklines schreiben, standen aber eine Zeit lang ohne Sänger da. Einen Teil der Songs haben wir sehr früh geschrieben, schon Anfang 1992. Das war eine abstrakte Lage, denn wir mussten Gesangsnoten schreiben, von denen noch nicht klar war, wer sie singt. “Only” und “Room For One More” waren gänzlich ausgearbeitet, als wir sie John Bush vorgespielt haben.

Ist euch das schwergefallen? Große Hooks haben Anthrax ja schon in den 80ern ausgezeichnet.
Stimmt, “Among The Living” hat coole Hooks, aber die waren anders. Wir waren Mitte 20 und gut darin, typische Gang Shouts des Thrash hinzulegen. Auf so etwas hatten wir aber spätestens seit “Persistence Of Time” keinen Bock mehr. Da wollten wir melodischere Refrains, die Joey Belladonnas Möglichkeiten mehr ausreizen als das Hardcore-lastige Stakkato-Gebrüll in Songs wie “Efilnikufesin (N.F.L.)”. Das Ganze war also ein Prozess, der sich über mehrere Alben entwickelte. Auf “Sound Of White Noise” hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, das mit den Refrains draufzuhaben. Ich denke, dieser Aspekt reicht bis in unsere Gegenwart hinein.

Nach “Sound Of White Noise” rissen die Veränderungen bei Anthrax nicht ab. Euer langjähriger Leadgitarrist Dan Spitz verließ die Band, was ein ziemliches Personenkarussell in Gang setzte. Hatte sein Weggang musikalische Gründe?
Das müsstest du ihn am besten selbst fragen. Er hat sich in dieser Zeit innerlich bei Anthrax ausgeklinkt und tauchte immer seltener bei den Proben auf. In den Monaten, in denen wir die Songs für “Stomp 442” geschrieben haben, war er kaum da und hielt sich aus der Arbeit heraus. Heute kann ich darüber nur mutmaßen. Ich selbst bin spät Vater geworden, aber Dan war damals der erste von uns. Er war verheiratet und hatte ein Kind. Heute habe ich eine bessere Vorstellung davon, wo er damals mit seinen Gedanken gewesen sein könnte. Eher nicht in Proberäumen, sondern bei seiner Familie.

In den 2000ern wurde es eher ruhig um Anthrax. 2011 wart ihr mit Joey Belladonna nahezu wieder in klassischer Besetzung unterwegs. Du hast die Off-Zeiten gut genutzt und mit deiner Autobiografie “I’m The Man” ab 2014 auch viele Leute als Autor beeindruckt. Darunter auch mich – ich habe in deinem Buch eine Menge über die Geisteswelt eines jüdischen Teenagers im New York der 70er gelernt.
Das ist schräg, denn ich bin der unreligiöseste Jude, den man sich vorstellen kann. Aber wie auch immer – das Buch ist primär die Geschichte von einigen pickeligen Teenagern in New York, unabhängig von ihren Backgrounds. Charlie [Benante] und Frank [Bello] sind italienischstämmig, und wir kennen uns seit über 40 Jahren. Auch wenn unsere familiären Hintergründe unterschiedlich waren, haben wir dieselben Dinge zusammen durchgemacht. Keiner von uns hatte viel Geld. Keinem von uns fiel es leicht, erwachsen zu werden. “I’m The Man” ist ein Buch über New York und sicher auch eine Liebeserklärung an diese Stadt.

Anthrax 1993 mit ihrem damals neuen Sänger John Bush (z.v.l.) – Foto: Mick Hutson/Redferns/Getty Images

»Auf ›Sound Of White Noise‹ hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, das mit den Refrains draufzuhaben.«
Scott Ian

Mit “Access All Areas: Stories From A Hard Rock Life” hast du 2017 ein zweites Buch nachgelegt. Wenn es ein drittes Buch von Scott Ian gäbe, wovon würde es handeln?
Ich weiß es nicht. Momentan habe ich keine Pläne in der Richtung und als Musiker mehr als genug zu tun. Ich habe ehrlich gesagt auch immer viel Spaß bei meinen Spoken-Word-Abenden, aber mein Leben als Familienmensch steht jetzt im Mittelpunkt. Ich suche nicht nach Gründen, weg von zuhause zu sein. Bei Anthrax und Mr. Bungle bin ich gut eingebunden, da ist für Extraprojekte keine Zeit. Das ist vermutlich der größte Unterschied in meinem Leben zwischen 1993 und 2023: Ich bin jetzt Vater, und die Schwerpunkte in meinem Leben haben sich enorm verlagert.

Wäre eine Anthrax-Tour in Europa ein guter Grund, mal wieder von zuhause weg zu sein?
Oh, bestimmt. Das wird mit Sicherheit nächstes Jahr passieren.

Zuletzt hast du deine Skills als einer der besten Rhythmusgitarristen des Thrash bei Mr. Bungle gezeigt. Ein Song wie “Raping Your Mind” ist wie eine Droge für alte Thrash-Fans. Beeinflusst so ein Album dich dabei, wenn du Riffs für Anthrax schreibst?
Ich fürchte, du musst das neue Album abwarten. (lacht) Um ehrlich zu sein bin ich momentan zu nahe an der Materie dran, um das zu beantworten. Auf jeden Fall bin ich gespannt, was die Leute in dem neuen Material alles hören werden.

In welchem Stadium sind die Aufnahmen für das zwölfte Anthrax-Album denn?
Im Dezember werden wir noch einige Songs aufnehmen. Auf meinem Aufgabenzettel stehen auch noch einige Texte für das Album, die ja meist von mir kommen. Man kann sagen, es ist in Sichtweite, dass Joey ins Studio geht, um einzusingen. Dann fehlen nur noch Leadgitarren und der Mix.

In wenigen Wochen wirst du 60 Jahre alt. Wird der 31. Dezember 2023 ein bedeutungsvollerer Geburtstag für dich als die davor?
In jedem Fall wird die Party dafür größer sein als alle anderen. (lacht) Ich mache mir keine Sorgen um diesen Tag, um mein Alter oder meine Sterblichkeit. Ich würde auch nicht mit dem 30-jährigen Scott tauschen wollen, selbst wenn das möglich wäre. Wenn ich 30 weitere Jahre Lebenszeit geschenkt bekäme, das wäre schon cool genug.

Wir haben heute viel über 1993 gesprochen. Was würdest du dem 30-jährigen Scott durch einen Zeittunnel ins Ohr flüstern, wenn du das könntest?
Ich würde mir sagen: Bring auf keinen Fall “Black Lodge” als zweite Single von “Sound Of White Noise” heraus. Gib einen Scheiß darauf, was die von Elektra wollen. Höre auf deine innere Stimme und nimm “Room For One More”! Außerdem würde ich mir raten, nachts besser nicht betrunken ins Trainingslager der New York Yankees einzubrechen, um Fan-Devotionalien zu klauen. Es lohnt sich nicht.


Dossier: 1993
Heart-shaped year

Inhalt

  1. Krist Novoselic über "In Utero" – Intensiv und bittersüß
  2. Juliana Hatfield und der Indierock – Sein was man ist
  3. Scott Ian über "Sound Of White Noise" – »1993 zeigten alle Wegweiser noch nach oben«
  4. 1993 in 50 Platten – Re(ar)viewmirror
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