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Sein was man ist: Juliana Hatfield über 1993

Juliana Hatfield und der Indierock

Sein was man ist
Im Zuge der Grunge-Explosion stellt sich für viele Indie-Bands, die schon vorher mit im Spiel waren, die Sinnfrage. Die Verlockungen des internationalen Erfolgs beginnen sich mit der künstlerischen Integrität zu reiben, der große Tisch ist nicht für alle gemacht. Juliana Hatfield erlebt diese Zeit in exponierter Stellung, denn ihr Album “Become What You Are” ist 1993 ein echter Sommerhit. Es steht bis heute sinnbildlich für den Zwiespalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit, der damals viele Bands ihre Unschuld kostet.
Juliana Hatfield by David Doobinin
Bis heute aktiv, seit langem unabhängig: Juliana Hatfield (Foto: David Doobinin)

Als Mitte 1992 die MTV-Show “Alternative Nation” an den Start geht, wird mit dem Programm einer musikalischen Umorientierung Rechnung getragen, die man sich im Rückblick sehr umfassend vorstellen muss. Mit der ähnlich gelagerten Sendung “120 Minutes” hat es schon seit 1986 ein Musikvideo-Magazin gegeben, das eher nischige und unkommerzielle Künstler:innen ins Schaufenster stellt und auch das weniger urbane und szenekundige Publikum mit spannenden neuen Bands in Kontakt bringt. My Bloody Valentine, The Jesus And Mary Chain, Pixies, Hüsker Dü, Dinosaur Jr. und Dutzende andere haben vielleicht nicht die raffiniertesten Videoclips zu bieten, aber dafür einen frischen, originellen und herausfordernden Sound für all diejenigen, die schon mit 16 genug Bon Jovi für ein ganzes Leben gehört haben. Der kommerzielle Erfolg dieser Bands hält sich damals wie heute in eher überschaubarem Rahmen, ihre Ästhetik dagegen ebnet dem großen Grunge-Boom definitiv den Weg. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass schon der Name “Alternative Nation” auf ein Paradox hindeutet. Wenn das ganze Land plötzlich “alternativ” unterwegs ist, was genau soll dann eigentlich die Alternative zur Alternative sein?

Es ist belegt, dass Axl Rose damals mehrfach den Versuch unternimmt, Kurt Cobain zu beglückwünschen und für eine gemeinsame Tour mit Guns N’ Roses zu gewinnen. Davon will der Nirvana-Sänger aber nichts wissen. Er nutzt stattdessen die Gelegenheit, sich möglichst gründlich von den Hardrockern mit dem nicht gerade schmeichelhaften Frauenbild abzugrenzen. Damit mag er seinem eigenen Anspruch als alternativem und integrem – heute würde man wahrscheinlich “woke” dazu sagen – Rockidol gerecht werden, den Rückhalt der großen Käuferschichten hat er damit nicht. Die mögen an Grunge eben ganz besonders die aggressive Schweißnaht, an der sich Punk und Hardrock treffen und für ordentlich Triebabfuhr sorgen. College-Kids, die in Olympia, Washington oder Athens, Georgia ihre eigenen Indieszenen etabliert haben, bleiben zunehmend außen vor, denn Pearl Jam, Alice In Chains und Soundgarden, die anderen Lokalmatadore der Alternative Nation, können auch Jugendliche begeistern, die es in puncto Lebensanschauung ansonsten eher mit Beavis und Butt-Head halten.

Wenn man Juliana Hatfield nach ihrem Lieblingsalbum von 1993 fragt, nennt sie eines von PJ Harvey. Aber nicht “Rid Of Me”, das tatsächlich 1993 erschienene, sondern das Debüt “Dry”. Mit dem kann man auch heute noch sich und allen anderen eine Menge Angst einjagen, damals läuft das Album in Hatfields Tourbus rauf und runter. Harveys unerschrockener Eklektizismus steht dabei durchaus im Gegensatz zu Hatfields eher zutraulichem Indierock. Mit ihrer Band Blake Babies hat sie es in Boston und Umgebung zu regionalem Ruhm gebracht, ein mittelgroßer Fisch im kleinen Teich des Universitätsmilieus.

Juliana Hatfield 1993
Hatfield um 1993. Lange spielte sie das Major-Spiel nicht mit (Foto: Paul Natkin/Archive Photos/Getty Images)

»Die großen Plattenfirmen witterten einen Indie-Goldrausch, und ich hatte das Glück, davon zu profitieren.«
Juliana Hatfield

Die örtliche Szene köchelt damals gemütlich vor sich hin. Pixies, Dinosaur Jr., Throwing Muses, Galaxie 500, Buffalo Tom und die Lemonheads geben sich in den Clubs die Klinke in die Hand und bilden dabei eine latent inzestuöse Jeder-kennt-jeden-Szene. “Das lag aber nicht an einem wie auch immer gearteten Boston-Sound, sondern an dem Run auf alternative Musik, der mit Nirvana begonnen hatte”, erinnert sich die Sängerin. “Gleichzeitig hatte ich nicht das Gefühl, dass die Bands von hier unbedingt auf Erfolg aus waren. Untereinander waren sie sehr verschieden, gemeinsam war ihnen nur das Interesse an Musik. Konkurrenz habe ich auch keine wahrgenommen; es war insgesamt eine sehr angenehme Atmosphäre.”

Es ist vor allem dieses Gefühl der Nestwärme, das Juliana Hatfield zu schätzen weiß. Bei den Blake Babies habe sie sich “wie das Mitglied einer Gang” gefühlt, sagt sie, oder wie ein Teil einer lebendigen Großfamilie. Als die Blake Babies zwischendurch mal einen Livebassisten brauchen, springt Evan Dando von den Lemonheads ein; als die kurzfristig ohne Drummer dastehen, springt John Strohm ein, der bei den Blake Babies Gitarre spielt. Für die Aufnahmen des Lemonheads-Klassikers “It’s A Shame About Ray” ist es Hatfield, die als Bassistin aushilft, auf dem folgenden Album “Come On Feel The Lemonheads” gastiert sie als Sängerin. Einige Fans wollen sich damals eine Liebesbeziehung zwischen Hatfield und Dando herbeifantasieren, wahr ist aber vor allem, dass Atlantic, das Majorlabel, bei dem die Lemonheads unter Vertrag stehen, nun auch Lust auf Hatfield bekommt. “1993 fühlte es sich an, als ob plötzlich jede Band einen Vertrag bekäme”, sagt die Sängerin. “Die großen Plattenfirmen witterten einen Indie-Goldrausch, und ich hatte das Glück, davon zu profitieren. Ich hatte mir mit den Blake Babies und mit meinem ersten Soloalbum zwar schon eine kleine lokale Gefolgschaft aufgebaut, aber Atlantic hatte wesentlich größere Ressourcen und Budgets, um der Welt meine Musik zu präsentieren.”

Die Zusammenarbeit gestaltet sich von Anfang an schwierig. Atlantic besteht darauf, die neu gegründete Band The Juliana Hatfield Three zu taufen und die Sängerin demonstrativ in den Fokus zu stellen. Was ihr schon vom Naturell her nicht entspricht. “Als Songwriterin habe ich mich immer zuversichtlich gefühlt; es war nur der Rest, der mich oft überfordert hat”, berichtet sie. “Damit besser zurecht zu kommen, ist bis heute nicht ganz leicht für mich, aber 1993 war es persönlich besonders schwierig. Ich war sehr unglücklich und deprimiert, weil ich dachte, dass mir einfach die Sozialkompetenz in diesem Business fehlt. Mir war klar, dass mich die Plattenfirma zu einem Popstar aufbauen wollte, aber ich fühlte mich dem überhaupt nicht gewachsen. Und das war schon früh ein Konflikt für mich.”

Damit ist Hatfield nicht allein. 1993 ist das Jahr, in dem sich auch insofern die Spreu vom Weizen trennt, als dass viele Underground-Darlings nicht mit den Anforderungen einer Major-Karriere zurande kommen. Manche fühlen sich in ihrer künstlerischen Vision beschnitten, andere können nicht mit dem plötzlichen Geldsegen umgehen, wieder andere internalisieren die Ausverkaufsvorwürfe, die plötzlich im Raum stehen. Für jeden Billy Corgan mit einem Riesenego gibt es ein Dutzend Indie-Boys und -Girls, die sich in derselben Situation zutiefst unwohl fühlen.

Nein zur Besetzungscouch

“Ich bin eine komplizierte Person”, sagt Juliana Hatfield. “Und im Musikbusiness ist es nun einmal leichter, wenn man versteht, seine Persönlichkeit auf eine griffige Essenz herunterzubrechen. Ich wollte immer authentisch sein, in meinen Songs die Wahrheit sagen und mich auch sonst vollkommen unverstellt präsentieren. Ich habe nie Make-up getragen und auch keine raffinierten Kleider. Ich habe auf Fotos nicht gelächelt, wenn mir nicht danach war, und auch meinen Körper nicht zur Schau gestellt. Der Plattenfirma hat das aber nicht gefallen. Die haben meine Stimme gehört und mein Gesicht gesehen und sich gedacht: Oh, die ist hübsch, das lässt sich sicher vermarkten. Damit waren sie aber auf dem Holzweg, denn anders als andere Leute hatte ich überhaupt keine dahingehenden Ambitionen. Ich hatte keinen Vertrag mit dem Konzept des Image, ich konnte nicht mal wie Billy Idol meine Oberlippe hochziehen. Und das macht das Leben in diesem Geschäft nicht einfacher.”

Als “Become What You Are” im August erscheint, avanciert das Album zu einem Überraschungserfolg, der maßgeblich von Hatfields eingängigen Songs und ihren entwaffnenden Texten profitiert. Die Single “My Sister” entwickelt sich sogar zu einem kleinen Hit, der seiner Urheberin in diesem Sommer immer wieder im Radio begegnet. “Jedes Mal, wenn das passiert ist, habe ich einen Anflug von Freude und Stolz empfunden”, sagt sie. “Rückblickend war das der schönste Aspekt meiner Karriere. Ich hatte wohl auch den vagen Wunsch, von vielen verschiedenen Leuten gehört zu werden, denn die Kommunikation von Gedanken und Gefühlen war mir schon wichtig. Von Angesicht zu Angesicht ist mir das schwergefallen, aber über Musik hat es immer funktioniert. So gesehen habe ich mir meine Träume damals erfüllt.”

In anderer Hinsicht sind sie dagegen unerreichbar geblieben. “Musiker sind im Durchschnitt unsicherer als andere Menschen”, glaubt die Sängerin, die schon bald am eigenen Leib erfährt, wie wankelmütig die Gunst des Publikums – und die der Plattenfirmen – sein kann. Ihr nächstes Album “Only Everything” bleibt kommerziell hinter den Erwartungen zurück, ein drittes wird von Atlantic zwar noch produziert aber nicht mehr veröffentlicht. “Viele Bands wurden damals unter Vertrag genommen und dann wieder vor die Tür gesetzt, sobald es mit den Verkäufen nicht hinhaute. Aber ich will nicht mosern. Es war eine kurze und besondere Zeit, in der sich auch unkommerzielle Bands wie meine beweisen konnten.”

Ein anderes Thema bleibt für Hatfield über das Jahr 1993 hinaus relevant. Die Sängerin, deren Bewunderung für PJ Harvey bis heute ungebrochen ist, kann sich noch lebhaft daran erinnern, in der vermeintlich egalitären Alternative Nation oft als Frau marginalisiert worden zu sein. Und eben nicht nur sie selbst. “Es gab damals eigene Programmplätze für Frauen in den Radio-Playlists”, berichtet sie. “Aber die waren abgezählt, und natürlich immer wesentlich weniger als die für Männer. Auch auf Festivalplakaten wollte man nicht zu viele Frauennamen sehen. Ich weiß noch, dass wir einmal eine gemeinsame Tour mit den Primitives spielen sollten, es aber dann hieß, zwei Sängerinnen hintereinander wären zu viel.” Sexismus, sagt sie, habe in der Branche schon immer existiert und würde vermutlich auch immer existieren. “Mein Manager hat versucht, das vor mir zu verstecken. Das ist ihm auch recht gut gelungen, gleichzeitig hat er mir ein paar merkwürdige Geschichten erzählt. Etwa die von einer anderen Musikerin, die auch bei Atlantic unter Vertrag stand, und die sich einem Radio-DJ während eines Interviews auf den Schoß setzen musste. Man hatte das Flirt-Spiel mitzuspielen, und sie hat das im Sinne ihrer Karriere wohl auch getan. Ich fand das widerlich, und ich habe etwas Derartiges auch nie mitgemacht. Aber mir war immer klar, dass ich diese Option gehabt hätte. Die Besetzungscouch gibt es nämlich wirklich.”

Was ihre Musikerkollegen angeht, hätte sie nichts Schlechtes zu berichten, sagt die Sängerin. Die Männer aus den Boston-Bands wären alle Gentlemen gewesen, ihr Blake-Babies-Bandkollege John Strohm gar ein erklärter Unterstützer feministischer Ideen. “Er hat mir und unserer Schlagzeugerin Freda nie das Gefühl gegeben, dass unser Geschlecht eine besondere Rolle spielt. Generell hatte ich den Eindruck, dass das in der Indieszene aber auch anders gehandhabt wurde als in der Popwelt. Man war frei, die kreative Person zu sein, die man war, ohne dass Erwartungen an einen gestellt wurden.” Als die kanadische Sängerin Sarah McLachlan 1997 das rein weiblich besetzte Lilith-Fair-Festival ins Leben ruft, ist Juliana Hatfield neben Fiona Apple, Sheryl Crow, Beth Orton, Emmylou Harris und vielen anderen ebenfalls mit von der Partie; die ganz große Karriere hatte sie sich da aber schon abgeschminkt. Über der Alternative Nation wehen zu dieser Zeit ohnehin ganz andere Flaggen. College-Rock und Grunge sind wieder in der Schublade verschwunden, die neuen Helden heißen Korn, Limp Bizkit und The Prodigy.

Für Juliana Hatfield hat sich der Geist von 1993 deswegen aber nicht in Luft aufgelöst. Die Sängerin, die eigenen Angaben zufolge eh nie für das Rampenlicht geschaffen war, gründet mit American Laundromat ein eigenes Label, auf dem sie unermüdlich Platten veröffentlicht. Mehr als 20 sind es bis heute, darunter Kooperationen mit Matthew Caws von Nada Surf und Paul Westerberg von den Replacements, sowie drei Coveralben, die sich Neuinterpretationen der Werke von Olivia Newton-John, The Police und ELO widmen. 2008 bringt Hatfield unter dem Titel “When I Grow Up” ihre Memoiren heraus, und auf ihrem Blog konnte man bis zuletzt verfolgen, welche Filme sie sich gerade angesehen hat. Wenn es nach ihr geht, wird ihre Karriere bis an ihr Lebensende weiter so verlaufen, auch wenn die sich längst wieder im Underground abspielt. “Ich glaube, dass ich immer noch etwas zu sagen habe, was ich noch nicht gesagt habe”, meint sie. “Es ist ein fortwährender Kampf, der vermutlich typisch ist für alle Künstlerinnen. Musik ist eine Lebensanschauung, bei der es keine Ziellinie gibt. In kommerzieller Hinsicht sind mir sicher einige Gipfel verwehrt geblieben, aber ich beneide die wirklich erfolgreichen Menschen in diesem Geschäft auch nicht. Dazu gehe ich viel zu gerne inkognito vor die Tür.”


Dossier: 1993
Heart-shaped year

Inhalt

  1. Krist Novoselic über "In Utero" – Intensiv und bittersüß
  2. Juliana Hatfield und der Indierock – Sein was man ist
  3. Scott Ian über "Sound Of White Noise" – »1993 zeigten alle Wegweiser noch nach oben«
  4. 1993 in 50 Platten – Re(ar)viewmirror