0,00 EUR

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

Start Blog Seite 558

Neue Folge mit Jochen Distelmeyer

1990 gründet der in Bielefeld aufgewachsene Jochen Distelmeyer mit Musikern von Der Schwarze Kanal die Band Blumfeld.

Das erste Album “Ich-Maschine” erscheint 1992 und bis 2006 folgen fünf weitere Alben. Blumfeld werden zu einer der einflussreichsten Bands der deutschen Indie-Szene, was auch daran liegt, das Distelmeyer literarisch textet und die Zeilen in einem angenehm klaren Duktus transportiert.

Mit “Heavy” erscheint 2009 Distelmeyers Solodebüt. 2015 erscheint der erste Roman “Otis” und dieses Jahr im Sommer das zweite Soloalbum “Gefühlte Wahrheit”.

Welche Band live auf Distelmeyer wirkt als wäre ein “Raumschiff mit Aliens gelandet” und welche Musikrichtung für den Sänger wie die “Entdeckung eines ganz neuen Kontinents war”, als die zeitgenössische Pop-Musik als Übermittler von Dringlichkeit versagt, hört ihr in der aktuellen Folge.

Diese und alle vorherigen Folgen gibt es hier zum Nachhören.

Podcast: “Der Soundtrack meines Lebens – Folge 42: Jochen Distelmeyer

Rock am Ring und Rock im Park: Neue Bandwelle mit Rise Against, Limp Bizkit und Incubus

Nach den Routiniers und festen Größen der ersten Bandwelle wie etwa die Toten Hosen oder Tenacious D erweitern die größten europäischen Zwillingsfestivals Rock am Ring und Rock im Park ihr Line-up nochmal in die musikalische Breite: Als neue Headliner stehen nun Kings Of Leon, Rise Against und Limp Bizkit fest.

Als weitere prominente Namen der zweiten Bandwelle wurden Incubus, Bring Me The Horizon, Gojira, Flogging Molly und Sum 41 bekannt gegeben. Außerdem hinzu gekommen im Line-up: Bounty & Cocoa, Brutus, Cleopatrick, Set It Off, Halestorm, Kontra K, Spiritbox und The Warning.

Rock am Ring und Rock im Park finden vom 2. Juni bis 4. Juni am Nürburgring/Eifel bzw. am Zeppelinfeld Nürnberg statt. Tickets für das ganze Wochenende gibt es ab 229 Euro zzgl. Tickets fürs Camping und Parken ab 69 Euro auf den jeweiligen Webseiten rock-am-ring.com und rock-im-park.com. Die für 2023 erstmals eingeführte Ticketkategorie “Car + Tent Camping”, die es ermöglicht, das Auto gleich neben dem Zelt zu parken, war ursprünglich bereits ausverkauft. Das Gelände wurde in diesem Zuge nun erweitert, um weitere Tickets verfügbar zu machen.

Das Ende des Regenbogens

Als am 2. Dezember 2000 die nominell letzte Smashing Pumpkins-Show über die Bühne geht, kämpft Billy Corgan mit den Tränen. Der glatzköpfige Zeremonienmeister ist nicht nur der Chef seiner Band, sondern gleichzeitig deren größter Fan. Einer, der bei allem, was er tut, schon die Annalen der Rockgeschichte im Blick hat. Und der sich seinen Platz darin vielleicht etwas größer vorgestellt hatte. “Lasst uns ein letztes Mal rocken”, sagt er dem Chicagoer Publikum vor dem letzten Song. “Nicht euretwegen, denn ihr habt es kapiert. Lasst uns für all diejenigen rocken, die es nicht kapieren. Die nicht verstehen, dass Musik diesen ganzen Bullshit überwindet.” Das Konzert dauert vier Stunden, Corgan bedankt sich mit “Gott segne euch!”, und dann sind die 90er endgültig vorbei. Im Nachhinein ist es schwer zu sagen, was “dieser ganze Bullshit” sein sollte, und wer “die” sind, die angeblich nichts kapieren. Die Formkurve der Smashing Pumpkins hatte zuletzt nach unten gezeigt, die Kernbesetzung hatte sich aufgelöst, und die meisten der Fans, die “Mellon Collie And The Infinite Sadness” zum Multimillionen-Seller gemacht hatten, waren weitergewandert. Für Corgan, für den die Welt nicht genug ist, und dessen Persönlichkeitsstruktur dem Größenwahn zumindest aufgeschlossen gegenübersteht, waren die vergangenen Jahre eine einzige gefühlte Demütigung. Und das ist nun einmal etwas, was dieser Mann nicht auf sich sitzen lassen kann.

Der erste, der den Anruf bekommt, ist Jimmy Chamberlin. Ein paar Monate lang hatte sich sein ehemaliger Bandleader nicht bei ihm gemeldet, aber nun hat er eine Bitte. “Er ist die Liebe meines Lebens”, wird der Schlagzeuger später ausrichten lassen: “Ich habe nicht einmal überlegt, nein zu sagen.” Es geht, wie soll es anders sein, um eine neue Band, für die Corgan bereits zwei weitere Mitglieder an der Angel hat. Der eine ist Matt Sweeney, der zuvor in den Bands Skunk und Chavez mitgewirkt hatte, der andere ist David Pajo von Slint, deren Post-Rock-Meilenstein “Spiderland” zu den prägenden Platten des Genres gehört. Mit Sweeney hatte Corgan schon in Chicago rumgehangen, bevor die Smashing Pumpkins durch die Decke gingen; von der wieder aufgewärmten Freundschaft verspricht sich der Bandleader eine ungezwungene musikalische Kameradschaft. Wobei ungezwungen im Fall von Billy Corgan immer ausgesprochen relativ ist: Statt sich mit seinem neuen Vorhaben direkt an eine potenzielle Plattenfirma zu wenden, finanziert der Ex-Pumpkin die Probeaufnahmen, die an verschiedenen Orten in den USA stattfinden, alle selbst. Im Gegenzug müssen seine Mitmusiker eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen – ein Akt, der eher zu einem dubiosen Ehevertrag passt als zu einer hoffnungsvollen neuen Band.

Utopische Ambitionen

Von der ist Billy Corgan zunächst rundheraus begeistert. “Das sind die besten Typen, die ich kenne”, lässt er bei einem der ersten Interviews vernehmen. “Dass sie die besten Musiker sind, liegt daran, dass sie großartige Menschen sind, nicht umgekehrt. Und großartige Menschen bringen großartige Dinge hervor.” Nicht zum ersten Mal gehen verbal die Pferde mit dem Sänger durch. “Utopie ist ein großes Wort”, schwärmt er. “Aber es ist eine utopische Idee, ein kollektives Set von Musikern zu haben, die kommen und gehen können wie sie wollen und unter dem Schirm der Band tun, was sie möchten.” Der Schirm bekommt bald auch einen Namen mit entsprechender Grandezza: The True Poets Of Zwan, bürgerlich auch einfach Zwan. Ein Name, der absichtlich nichts bedeutet, aber irgendwo trotzdem eine Supergroup mit schwanengleicher Flügelspannweite suggerieren soll. Im November 2001 absolvieren Zwan ihre ersten öffentlichen Auftritte; Songs wie “Chrysanthemum”, “Glorious” und “Shining Path” kommen gut an und verheißen eine Bandchemie, von der Großes zu erwarten ist.

Ein Elementarteilchen fehlt dazu aber noch, und das wird nach Konzert Nr. 5 in Los Angeles gefunden. “Billy suchte nach Musikern”, erinnert sich Paz Lenchantin. “Er hatte D’Arcy, die Blondine, und Melissa, den Rotschopf. Und da dachte er wohl: Eine einsame Brünette – die muss ich haben!” Lenchantin spielt als Bassistin bei A Perfect Circle, als sie die Bekanntschaft von Matt Sweeney macht. Der lädt sie spontan zum Zwan-Konzert ins Roxy und anschließend ins Chateau Marmont ein. “Sie meinten: Komm aufs Zimmer!”, sagt die Bassistin. “Mir war nicht klar, dass es ein Vorspielen war. Damals war ich besessen von Bossa-Nova-Akkorden, und ich hatte mir einen brasilianischen Song draufgeschafft. Den habe ich dann zum ersten Mal vor Leuten gespielt. Sie meinten nur: ‘Fuck you, wir haben gerade ‘Hotel California’ gespielt!’ Naja: Jedenfalls war ich danach in der Band.”

Mit der Verstärkung kehren Corgan & Co zurück ins Studio, wo sie prompt eine sagenhafte Anzahl neuer Songs aufnehmen. Schätzungen rangieren zwischen 100 und 150, und die plötzliche Kreativexplosion scheint auch den Bandleader zu elektrisieren. “Plötzlich hatte ich eine Band”, gibt Corgan in einem Interview zu Protokoll. “Und plötzlich fällt mir auf, dass ich tatsächlich Spaß habe. Ich hatte schon seit Jahren keinen Spaß mehr.” Der Spaßcharakter wird zunächst immer wieder ins Feld geführt, wenn es darum geht, Zwan in der Öffentlichkeit zu charakterisieren. Eine Platte wird erst für Anfang 2003 angekündigt, was fast ein ganzes Jahr Zeit lässt, Hype zu generieren. “Diese Band ist viel weniger wegen der Musik zusammen als die meisten anderen”, sagt Corgan seinerzeit im VISIONS-Gespräch. “Wir hängen eher deshalb gemeinsam rum, weil wir Lust dazu haben; die Musik, die dabei entsteht, ist eher ein Nebenprodukt unserer gemeinsam verbrachten Zeit.” Alles, so der Sänger, soll anders werden als bei den Smashing Pumpkins, die er zuletzt als freudlose Pflichtaufgabe angesehen hatte. “Es geht alles von vorne los”, sagt Corgan. “Auch die Gefahr, sich in einer Schnapsidee völlig zu verrennen. Das ist die Begleiterscheinung, wenn man etwas Neues ausprobieren will.”

“Es gab eine Zeit, da war Corgan wirklich offen und kooperativ. Es hat echt Spaß gemacht. Dann hat sich alles von einem Tag auf den anderen geändert.”
Matt Sweeney

Neu im Programm soll vor allen Dingen ein gewisser Optimismus sein. Das Publikum der ersten Konzerte sieht eine kraftvolle, zu Scherzen aufgelegte Band, deren Songmaterial eindeutig ein paar Schattierungen heller geraten ist als das, was es von den Smashing Pumpkins gewohnt war. Verantwortlich dafür sind neben Matt Sweeneys freundlich geschrammelter Gitarre frische Corgan-Melodien von ungeahnter Sonnigkeit, oder, wie es im Text von “El Sol” heißt: “A little sunshine just to butter my toast”. Der neuen Zuversichtlichkeit geht bei Corgan offenbar so etwas wie ein Vertrag mit Gott voraus. Der Sänger, in der Vergangenheit gerne schon esoterisch unterwegs, entdeckt anlässlich eines Studioaufenthalts in Florida eine Kapelle in Key West. “Am Straßenrand war eine Grotte, die der Jungfrau Maria gewidmet war”, berichtet er. “Dort habe ich ab und zu gebetet, um etwas Klarheit und Trost zu finden. Ich habe die Jungfrau gebeten, die Richtung meines Lebens zu ändern und mein gebrochenes Herz zu heilen. Als Gegenleistung versprach ich, das Album ihr zu Ehren zu taufen und so den Ort zu würdigen, wo ich in der Stunde meiner Not Zuflucht fand.”

“Mary Star Of The Sea” soll auch all denen Trost spenden, zu denen 2002 in musikalischer Hinsicht nicht besonders gut gewesen ist. Im Rückblick ist es tatsächlich ein mieser Jahrgang: Der erfolgreichste Rocksong des Jahres ist Nickelbacks “How You Remind Me”, auf den Plätzen folgen Stücke von Puddle Of Mudd, Creed und Linkin Park. “Was gibt es dagegen einzuwenden, einen schönen, ehrlichen und absolut wertvollen Popsong zu schreiben?”, fragt Corgan angesichts des Betroffenheits-Hardrocks, der an die Stelle von Grunge und Alternative Rock getreten ist. Der Mann, der immer das Erbe von Yes und Cheap Trick hochgehalten hatte, als Cobain & Co. von den Germs und den Raincoats schwärmten, wittert mit seiner neuen, positiv gestimmten Band endlich die Gunst der Stunde. “Like all great bands we don’t give a fuck”, diktiert er selbstbewusst ins VISIONS-Mikrofon, und groß muss eine Band mit ihm an Bord selbstverständlich sein.

Die Peitsche als Fetisch

Als “Mary Star Of The Sea” schließlich erscheint, bleibt das Album allerdings hinter den meisten Erwartungen zurück. In den Musikvideos zu den Singles “Honestly” und “Lyric” sieht man die Band ausgelassen durch die Straßen Chicagos spazieren, und vor allem Corgan und Lenchantin scheinen sich tatsächlich Sonnenschein auf den Morgentoast geschmiert zu haben. Songs wie “Come With Me” und “Endless Summer” sind ansteckend in ihrem Schmiss, während “Ride A Black Swan” und das ausufernde Titelstück den extravaganten Rock der 70er heraufbeschwören. In den Liner Notes der LP nennt sich Corgan Billy Burke – in Anspielung auf die Schauspielerin Billie Burke, die im Filmklassiker “Der Zauberer von Oz” die Gute Hexe aus dem Norden darstellt und damit offenbar Corgans neue Selbsteinschätzung reflektiert. Weite Teile von Publikum und Kritik lassen sich von der guten Laune aber nicht anstecken und bewerten das Album äußerst zurückhaltend. Unzeitgemäß, oberflächlich und kitschig lautet das Urteil. Die 270.000 Einheiten, die “Mary Star Of The Sea” in den USA verkauft, sind eine herbe Enttäuschung und für den ehrgeizigen Bandchef eine Zurückweisung sondergleichen.

Die Fans der jungen Band haben kaum Zeit, sich eingehender mit dem Album oder der anstehenden Europa-Tour zu beschäftigen, als Billy Corgan unvermittelt den Stecker zieht. Entsprechende Gerüchte machen bereits die Runde, als Paz Lenchantin im August 2003 ihren Ausstieg verkündet, die mulmigen Details der Trennung bestürzen fast so sehr wie Corgans ätzende Kommentare dazu. “Die Musik war nicht das Problem, eher ihre Einstellung”, giftet der Sänger. “‘Warum müssen wir proben? Ich würde viel lieber im Rainbow abhängen.’ Lifestyle-Kram. Öffentlicher Sex zwischen Bandmitgliedern. Leute, die Drogen über Landesgrenzen schmuggeln. Pajo, der mit der Freundin des Produzenten schläft, während wir die Platte machen.” All das, was der Ex-Pumpkin in den vergangenen 18 Monaten so positiv an seinen neuen Mitstreitern hervorgehoben hat, verkehrt sich mit einem Mal ins genaue Gegenteil. “Ich werde mich nie wieder in die Nähe dieser Leute begeben, jemals”, blafft Corgan, der bei der Gelegenheit seine alte Band neu lieben lernt. Bis auf Jimmy Chamberlin seien alle anderen Mitglieder von Zwan “schlechte Typen” gewesen, ganz anders als Iha und Wretzky: “James und D’Arcy sind gute Typen. Fehlgeleitet womöglich, aber gut.”

UNITED KINGDOM - JANUARY 01: Photo of ZWAN (Photo by Hayley Madden/Redferns)
Da hatten sie sich noch lieb: Zwan (Foto: Hayley Madden/Redferns/via Getty Images)

Zwei Dinge sind besonders unwürdig am Ende der mit großen Erwartungen gestarteten Band. Da wäre zum einen das seifernopernhafte Schmutzige-Wäsche-Waschen, das die Atmosphäre zwischen den Bandmitgliedern nachhaltig vergiftet. Von Corgan sind noch eine Reihe weiterer Ausfälle gegen seine Ex-Kollegen dokumentiert, die andere Seite zeigt sich – vielleicht auch wegen der bereits erwähnten Verschwiegenheitsklausel – zurückhaltender. Ein Interview, das Paz Lenchantin Ende 2022 dem amerikanischen Rolling Stone gibt, lässt trotzdem tief blicken. “Ich habe zwei Disziplinfanatiker von Eltern, in gewisser Hinsicht kann ich also gut mit Diktatoren”, sagt sie darin. “Billy war sehr kontrollierend, aber ich kam damit klar. Es war wie ein Fetisch, wenn Leute es genießen, ausgepeitscht zu werden.” Die Schuld am Aus schreibt sie in erster Linie dem Bandleader zu. “Ich sage es mal unverblümt: Wenn jemand mit Billy Corgan in den Ring steigt, dann ist es Billy Corgan. Dieser Mann wetteifert seit ‘Siamese Dream’ mit sich selbst. In der CD-Ära hatte er 16 Millionen Alben verkauft. Aber diese Ära ging zu Ende, und in der neuen Ära ging es um etwas anderes.”

Matt Sweeney scheint sich gemäß seiner Aussagen nicht ganz im Klaren darüber zu sein, was schief gelaufen ist. “Ich will auch nicht schlecht über den Kerl reden, obwohl er das über mich getan hat”, sagt er. “Es gab eine Zeit, da war Corgan wirklich offen und kooperativ. Es hat echt Spaß gemacht, als noch niemand wusste, woran wir arbeiteten. Wir haben hundert Songs aufgenommen, von denen keiner auf dem Album ist. Dann hat sich alles von einem Tag auf den anderen geändert. Ich glaube nicht, dass jemand im vergangenen Jahr Spaß an der Band hatte, aber ich erinnere mich gerne an die erste Zeit zurück. Aber dann war plötzlich Ende. Ich glaube, für ihn war es so etwas wie ein Experiment, wie viel Kooperation er vertragen würde. Und letzten Endes gefiel es ihm wohl nicht, auf diese Weise zu arbeiten.” David Pajo ist weniger diplomatisch. Erst vor wenigen Jahren verglich er den Bandleader mit Donald Trump. “Als seine Wahlkampagne losging, dachte ich: Wow, Trump ist so sehr wie Corgan”, sagt er. “Ich bin mir sicher, Billy liebt diesen Typen. Er hat Millionen von Dollar. Er hat diese Art von Ego. Er liebt die Mobbing-Mentalität. Ich weiß irgendwie, dass er Trump-Supporter ist. Er muss einer sein.”

Der andere Skandal hat mit der Musik selbst zu tun. In den Jahren seit seinem Erscheinen ist das Renommee von “Mary Star Of The Sea” stetig gewachsen; viele Fans halten es sogar für Corgans letzte Großtat, und wer sich das Album heute unvoreingenommen zu Gemüte führt, hört einen unverstellten Optimismus heraus, der durch die Jahrzehnte strahlt. Angeblich sitzt der Bandleader auch noch auf dem großen Haufen unveröffentlichter Songs, die während der Aufnahmen angefallen waren, anhören wolle er sich die aber erst, “wenn ich es wieder ertrage.” Vielleicht ist es bald so weit. Im Februar 2022 spielt Billy Corgan erstmals seit langer Zeit wieder ein paar Zwan-Songs live und liebäugelt öffentlich mit einem großzügigen Rerelease.

In Your Honor

Die Musik von Singer/Songwriter-Ikone Neil Young steht nicht mehr auf Spotify. “Ich tue das hier, weil Spotify Falschinformationen zu Impfungen verbreitet”, teilt er zwei Tage zuvor mit. Konkret stört sich Young am Spotify-exklusiven, enorm populären Podcast “The Joe Rogan Experience” des gleichnamigen Comedians. Es folgen weitere Stellungnahmen, in denen Young auf einen offenen Brief von Medizinprofis gegen Rogan verweist und Spotify-Chef Daniel Ek attackiert. Der distanziert sich von seinem Podcaster, will ihn aber nicht feuern. Young-Kolleg:innen wie Joni Mitchell und Graham Nash löschen aus Solidarität ebenfalls ihre Songs, Rogan selbst wiegelt ab: Er sei Trash-Talker, man solle halt keine Ratschläge zu Corona von ihm annehmen.
 


Russische Truppen marschieren in die Ukraine ein. Unzählige Musiker:innen von Bands wie Rage Against The Machine, Faith No More, Billy Talent und The Offspring sowie Festivals wie Wacken zeigen sich entsetzt. Auf zahlreiche Absagen von Konzerten in der Ukraine und in Russland folgt eine Welle der Solidarität: Vor allem Musiker:innen mit familiären Beziehungen in das angegriffene Land sammeln Spenden für die Opfer des Krieges, Soli-Sampler von Pelagic, Epitaph und Merchcowboy erscheinen. Beatsteaks, Tocotronic, Deichkind und viele mehr werben für die Sachspenden-Kampagne “Tour D’Amour”, Metallicas All Within My Hands Foundation bringt 500.000 US-Dollar auf – und Pink Floyd spielen zugunsten Hilfsbedürftiger erstmals seit 1994 nochmal einen Song ein.
 


Tech-Gigant Apple beendet die Produktion des Ipod. Der 2001 eingeführte Music-Player im Taschenformat mit dem charakteristischen Steuerkreuz inspirierte nicht nur die Entwicklung des modernen Smartphones, er besiegelte zur Jahrtausendwende – kurz nach der Aufregung um Musikpiraterie bei Filesharing-Portalen wie Napster – auch den Siegeszug des MP3-Formats: Zusammen mit der Musikbibliothek/Mediaplayer-Kombi Itunes und dem 2003 gestarteten Itunes-Store für kostenpflichtige Downloads verlagerte Apple den Musikkonsum erfolgreich ins Digitale. Das Ende des Ipod markiert nun erneut einen (bereits vollzogenen) Paradigmenwechsel: Streamingservices dominieren längst das digitale Musikhören, Bezahl-Downloads sind schon seit Jahren ein stark schrumpfendes Phänomen.
 


Nach zwei Jahren Corona-Zwangspause läutet Rock am Ring als erstes deutsches Großfestival der Saison die Rückkehr des Festivalsommers ein. Auf der Hauptbühne lassen es sich die Rock-am-Ring-Stammgäste Donots nicht nehmen, am frühen Freitagnachmittag als Erste das Comeback mit großem Elan zu feiern. Im Laufe des Wochenendes spielen auch Green Day, Muse, Volbeat und viele mehr endlich wieder befreit auf. Für Rock am Ring ist es in doppelter Hinsicht ein Neustart: Die Organisation und das Booking übernimmt nun die vom Tickethändler Eventim gekaufte Agentur Dreamhaus, zu der diverse Mitarbeiter des bisherigen Veranstalters Live Nation gewechselt sind. Der Festivalgründer und hiesige Live-Nation-Chef Marek Lieberberg ist nicht mehr an Rock am Ring beteiligt.
 


Kate Bushs 1985er Hit “Running Up That Hill” gelangt in vielen Ländern rund um die Welt erstmals auf Platz eins der Charts. Der Grund: In der vierten Staffel der populären Netflix-Serie “Stranger Things” ist der Song nicht nur wiederholt zu hören, sondern sogar ein Teil des Plots. Infolgedessen explodieren die Streaming-Zahlen, eine neue Fan-Generation entdeckt Bush und ihre Musik für sich, die Musikerin zeigt sich gerührt von der immensen Aufmerksamkeit. Es bleibt nicht das einzige Musikphänomen, das “Stranger Things” 2022 produziert: Im Staffel-Finale spielt Serienfigur Eddie Munson Metallicas “Master Of Puppets”, der Song landet ebenfalls wieder in den Charts – und der Schauspieler Joseph Quinn einige Wochen später folgerichtig in Metallicas Backstage-Raum zum Jammen.
 


Der Oberste Gerichtshof der USA votiert gegen das 1973 gefällte Urteil “Roe v. Wade” und schafft damit das Recht auf Abtreibung ab. In zahlreichen US-Bundesstaaten sind Abtreibungen nun illegal oder massiv erschwert, dutzende Kliniken müssen schließen. Vor allem Frauen machen ihrer Wut und Enttäuschung darüber bei Demonstrationen Luft, auch in der Musikwelt erheben viele ihre Stimme: Unter anderem Rage Against The Machine, Phoebe Bridgers und Garbage-Frontfrau Shirley Manson hatten sich schon im Mai solidarisch erklärt, als das drohende Urteil vorab durchgesickert war. Nun machen auch Green Day, Rise Against, Idles, Coheed And Cambria und Jack White Front gegen das Votum, bewerben Spendenkampagnen für sichere Abtreibungen oder geben selbst Geld.
 


Zum ersten Mal seit elf Jahren stehen Rage Against The Machine (RATM) wieder gemeinsam auf der Bühne. Die Show in Wisconsin ist der Auftakt einer Welttournee, die jedoch nur zwei Tage später in Chicago einen Dämpfer erhält: Frontmann Zack de la Rocha verletzt sich am Fuß, den Rest der Show und die folgenden Konzerte in den USA und Kanada muss er sitzend absolvieren. Am 11. August kommt die Hiobsbotschaft: Die Band sagt alle für den Spätsommer geplanten Europa-Shows ab, de la Rochas Verletzung erlaube kein intensives Touren. Kurz darauf plaudert Rock-Fotograf Glen E. Friedman aus, dass es sich angeblich um einen Achillessehnenriss handele. Der braucht offenbar viel Zeit, um zu heilen: Im Oktober canceln RATM auch noch die US-Termine für März und April 2023.
 


In London verabschiedet die erste von zwei Tribute-Shows den ver­storbenen Foo Fighters-Schlagzeuger Taylor Hawkins. Dieser war am 25. März auf Tour im kolumbianischen Bogotá leblos in seinem Hotelzimmer gefunden worden. Zahlreiche Kolleg:innen hatten schon damals in emotionalen Statements den Menschen und Musiker gepriesen, die Tribute-Show gerät nun zum Triumph: Innerhalb von sechs Stunden geben sich Superstars wie Liam Gallagher, Brian Johnson, Lars Ulrich, Stewart Copeland, Brian May, Josh Homme, John Paul Jones, Paul McCartney und viele mehr die Klinke in die Hand, um Hawkins die Ehre zu erweisen. Foo-Fighters-Chef Dave Grohl widmet seinem Freund bewegende Worte, einige Wochen später findet eine ähnlich besetzte Show in Los Angeles statt.
 


Der 2015 aus der Band ausgeschiedene Gitarrist Tom DeLonge ist wieder Teil von Blink-182. Offenbar hatten sich der Rückkehrer und Bassist Mark Hoppus im Zuge der Krebserkrankung von letzterem wieder angenähert. Die Rückkehr hatte sich in den Monaten zuvor angekündigt: Schon im Juli hatte DeLonges Nachfolger Matt Skiba (Alkaline Trio) mitgeteilt, er wisse nicht, ob er noch Mitglied von Blink-182 sei. Zudem machten DeLonge und seine Ex-Bandmitglieder in den sozialen Medien Andeutungen und erklärten eine Versöhnung für denkbar. Das wiedervereinte Trio schöpft direkt aus dem Vollen: 2023 gehen die Pop-Punks mit einem neuen Album auf Tour. Die Trennung von Matt Skiba erfolgt im Guten: Jener dankt für seine Zeit bei Blink-182, DeLonge ihm für seine Arbeit mit der Band.
 


Die britischen Poprocker Coldplay nutzen zwei Livestream-Konzerte im argentinischen Buenos Aires für ein politisches Statement: Gegen Ende des Sets spielen sie an beiden Abenden den Song “Baraye” – zu Deutsch etwa “für” – des iranischen Musikers Shervin Hajipour. Der Songtext listet Gründe auf, wofür Menschen im Iran seit September auf die Straße gehen, die Schlüsselzeile “Für Frau, Leben, Freiheit” ist der bekannteste Slogan der Proteste. Für ihre Interpretation lassen Coldplay den persischen Text des Songs von der iranischen Schauspielerin Golshifteh Farahani singen. Auch andere Musiker bewegt das Thema: Samavayo um Sänger und Gitarrist Behrang Alavi widmen ihren Song “Pāyān” mit einem Video der misshandelten Mahsa Amini, nach deren Tod die Proteste ausgebrochen waren.
 


2022: Der Jahresrückblick
Bleibt alles anders

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2022: Die Momente des Jahres – In Your Honor
  2. Jahresrückblick 2022: Das Albumformat – Auf ganzer Länge?
  3. Jahresrückblick 2022: Die Live-Branche – Kuh auf dem Eis
  4. Jahresrückblick 2022: Grunge-Sänger und ihr Erbe – Ohne euch
  5. Jahresrückblick 2022: Das Comeback der CD – Perfekter Kompromiss
  6. Jahresrückblick 2022: Das Post-Punk-Revival – Post-Post-Punk
  7. Jahresrückblick 2022: Die Nerven im Interview – »Feiern wir die Widersprüche«
  8. Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit

Auf ganzer Länge?

Wer im Netz bei der Suche die Begriffe “album” und “dead” kombiniert, findet eine ausgewogene Mischung an Features, die entweder feststellen, das Album sei tot, oder das komplette Gegenteil davon formulieren: Das Album sei eben nicht tot. Eine Story im Businessmagazin Forbes bringt diesen Entweder-oder-Zustand auf den Punkt, wenn es heißt: “The music album is dead, but not everyone’s accepted it yet.” Was denn nun?

Schaut man auf den großen Pop-Markt, zeigen Daten des Online-Musikvertriebs Ditto Music, dass dort die Anzahl veröffentlichter Alben seit 2016 um 25 Prozent zurückgegangen ist; um fast genau diesen Anteil zugelegt haben in diesem Zeitraum EPs, die “kleinen Schwestern” des Albums, mit vier bis sechs Tracks sowie Laufzeiten von 15 bis 22 Minuten, wie Ditto Music die Grenzen definiert. Unter den Gründen für diesen Trend führt das Unternehmen auf, dass EPs – zumal als Digital-only-Veröffentlichungen – deutlich günstiger zu produzieren sind, jedoch wie Alben die Funktion erfüllen, sowohl neue Fans zu gewinnen als auch alte zu bedienen. Mehr noch: Wenn sich die Nutzer der Streamingportale, wie es bei Alben der Fall ist, gleich durch ein Dutzend oder mehr Tracks hören müssen, könnte das eher abschreckend wirken, vermutet man bei Ditto Music. Die EP wirke daher einladender, weil sie niemanden überfordere.

Eine Erfindung des digitalen Zeitalters ist die EP-Methode nicht, die britische Indie-Szene arbeitete schon in den 80ern mit diesem Format, um neue Hype-Bands zu etablieren. Shoegazer wie Ride oder Proto-Britpopper wie die Stone Roses, The Charlatans, Inspiral Carpets oder Suede bekamen bei den Weekly-Magazines bereits Coverstorys, bevor sie ein Album draußen hatten. Mehr noch, als die LP dann in die Läden kam, war der Hype manchmal schon wieder vorbei. Im Streaming-Zeitalter ergibt sich durch EP-Veröffentlichungen ein neuer Vorteil: Bei den großen Portalen sind Algorithmen am Werk, die ständig auf der Suche nach Neuem sind. Eine Single-Auskopplung aus einem bereits mehrere Monate alten Album fällt nicht in diese Kategorie. Die Kernsingle einer gerade gedroppten EP sehr wohl. Und weil das Geld bei den Streaming-Diensten nicht mit Alben, sondern mit Hilfe massenhaft abgerufener Tracks verdient wird (die sich dafür in Playlists befinden müssen), ist die EP/Single-Kopplung kommerziell erfolgversprechender.

Lässt man den Kommerz außen vor, ergibt sich kein Bild einer Wachablösung. Ob in den gedruckten oder digital verfügbaren Musikmagazinen, ob bei Youtube-Influencern wie Anthony Fantano oder in den Schaufenstern der Plattenläden – es sind 2022 weiterhin die Alben, die besprochen und herausgestellt werden. Das liegt, ganz profan, daran, dass viele EPs eben gar nicht als haptische Produkte erscheinen. Der Streaming-Welt ist das Schnuppe. Der weiterhin stark produktbezogenen Alternative-Welt nicht. Rivers Cuomo von Weezer ist sich dessen bewusst, als er mit Weezer 2022 vier jahreszeitlich sortierte EPs veröffentlicht, die jeweils auch als CD sowie 12-Inch-Vinyl zu haben sind, wobei diese Platten mit sieben Stücken (auf der Vinyl-Veröffentlichung findet sich dann jeweils noch ein Bonustrack) und bis zu 24 Minuten Spielzeit auch als Mini-Alben durchgehen würden.

Nun spielen Weezer bereits seit einigen Jahren mit den Formaten (man denke an die Metal-Motto-Platte “Van Weezer” von 2021 oder die “Africa”-Tausch-Single mit den Mainstream-Rockern Toto). Andere Gruppen bleiben jedoch dem traditionellen Albumformat treu. “Wenn ich als Künstler eine größere Story zu erzählen habe, dann wähle ich als Format das Album, denn nur so kann ich der Geschichte gerecht werden”, formuliert Brett Anderson, Chef von Suede, zum 2022er-Album “Autofiction”, einer Platte, auf der er sich intensiv mit seiner persönlichen Entwicklung beschäftigt.

Dass einige Künstler mit reinen EP-Veröffentlichungen wohl die Befürchtung verbinden, unter dem Radar zu bleiben, beweist die jüngste Kampagne von Johnny Marr: 2021 und 2022 veröffentlicht der Gitarrist, Songschreiber und Sänger drei EPs mit dem Titel “Fever Dreams I”, “II” und “III”, bevor Ende Februar 2022 das Doppelalbum “Fever Dreams Pts 1-4” erscheint, mit den Stücken der drei EPs plus Songs eines vierten Teils, den es als EP aber gar nicht gab. Warum diese Stücke noch einmal auf ein Album packen, wenn sie doch größtenteils als EP-Tracks längst kursieren? Im Interview sagt er, dass es schon eine Rolle gespielt habe, dass “Fever Dreams Pts 1-4” nun seine vierte Studio-LP sei – und er damit seine Ex-Band The Smiths bei der Zahl der Albumveröffentlichungen eingeholt habe. Die Langformate sind es also, die eine Diskografie prägen. Nicht die Singles und EPs.

Es gibt in diesem Jahr dennoch Bands, die bewusst auf Singles gesetzt haben. Jimmy Eat World etwa bringen im Verlauf der zurückliegenden zwölf Monate die neuen Songs “Something Loud” und “Place Your Debts” heraus, die ersten Veröffentlichungen auf ihrem eigenen Label. Ein Album folgt nicht; die Band entscheidet sich dafür, die post-pandemischen Monate des Jahres 2022 mit zahlreichen Auftritten zu verbringen, statt isoliert im Studio zu arbeiten. In einem Interview mit der britischen Zeitung The Guardian sagt Sänger Jim Adkins, hinter der Veröffentlichungsstrategie habe der Wunsch gestanden, sich noch einmal so frei zu fühlen wie eine junge Band, die nicht in LP-Rhythmen denkt, sondern Singles raushaut, wann immer sie Bock dazu hat: “Wir alle identifizieren uns auch weiterhin mit einem 19-Jährigen, der schläft, wo er will, und abends zu irgendeinem Live-Gig geht. Wir sehen uns zu einem Teil selbst als solche Kids, das ist es, was uns antreibt.” Die Aufnahmen zum jüngsten Jimmy-Eat-World-Album “Surviving” von 2019 seien, der Titel verrät es bereits, dagegen sehr aufreibend gewesen. Entsprechend war der Rhythmus aus Singles und Konzerten ein Weg, die mentale Gesundheit der Band aufrechtzuerhalten. Zumal man sich mit Digital-only-Veröffentlichungen den Stress mit den Presswerken erspart: Wer immer 2022 Vinyl veröffentlichen will, muss lange Wartezeiten und immens gestiegene Rochstoffpreise in Kauf nehmen. “Mal eben” ein Album rauszuhauen, das funktioniert auf Vinyl bis auf Weiteres nicht mehr. Vielleicht wird es sogar nie wieder funktionieren. Weshalb die schnelle, digitale One-off-Single als Tour-Booster, Lebenszeichen oder spontane Aktion für einige Künstler weiter an Bedeutung gewinnen wird.

Andere Veteranen arbeiten 2022 ganz anders: Die Red Hot Chili Peppers feiern 2022 die Rückkehr von Gitarrist John Frusciante mit zwei Doppelalben, “Unlimited Love” und “Return Of The Dream Canteen”; die Zusammenkunft der Traumbesetzung hat kreative Energie freigesetzt, die Bands wie die Red Hot Chili Peppers weiterhin am liebsten in Alben umsetzen. Bei NoFX ist keine Rückkehr, sondern das nahende Ende der Boost: Fat Mike kündigt für 2023 die Auflösung der Band an, verbunden mit finalen Veröffentlichungen. So folgt auf das “Single Album” von 2021 (nach fünf Jahren ohne Langformat) Ende 2022 das “Double Album”; weitere Alben sollen bereits fertiggestellt sein. Torschlusspanik? Resteverwertung? Oder einfach nur Bock darauf, noch einmal alles zu geben? Die vielen begeisterten Fanreaktionen lassen auf letzteres schließen.

Vermutlich deutlich weniger begeistert sind die meisten Hörer von dem, was die Smashing Pumpkins ihren Fans 2022 um die Ohren hauen: Mit “Atum” hat die Band ein Drei-Akte-Werk konzipiert, das im Laufe von rund sechs Monaten in drei Teilen erscheint, jeder Akt umfasst dabei ein ganzes Album – und die Trilogie steckt schon jetzt nach dem ersten Teil knietief im qualitativen Morast. Selbst eine Persönlichkeit wie Billy Corgan verfügt offenbar über genug Selbstschutz, einen unfassbar miesen Song wie “Hooray!” – wenn überhaupt – nur als zehnten von elf Albumstücken zu veröffentlichen. In diesem Sinn bleiben Alben auch weiterhin die beste Möglichkeit, schlechte Musik zu ver­stecken. Auch wenn sie sonst das Maß der Dinge bleiben.


2022: Der Jahresrückblick
Bleibt alles anders

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2022: Die Momente des Jahres – In Your Honor
  2. Jahresrückblick 2022: Das Albumformat – Auf ganzer Länge?
  3. Jahresrückblick 2022: Die Live-Branche – Kuh auf dem Eis
  4. Jahresrückblick 2022: Grunge-Sänger und ihr Erbe – Ohne euch
  5. Jahresrückblick 2022: Das Comeback der CD – Perfekter Kompromiss
  6. Jahresrückblick 2022: Das Post-Punk-Revival – Post-Post-Punk
  7. Jahresrückblick 2022: Die Nerven im Interview – »Feiern wir die Widersprüche«
  8. Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit

Kuh auf dem Eis

Die Konzerte sind zurück – aber wo sind die Zuschauer? Im Juli waren wir dieser Frage in VISIONS 353 in einer großen Reportage nachgegangen, weil der Neustart der Konzertbranche holprig verlief. Offenbar waren Teile des Publikums noch zu verunsichert von ihren Pandemie-Erfahrungen und blieben nun den Shows fern. Seitdem hat sich die Lage in einigen Bereichen stark verbessert, in anderen wurde sie dagegen noch dramatischer. Kannte die Branche fast zwei Jahre lang nur den Winterschlaf, Social-Distancing-Open-Airs und Streaming-Konzerte, bewegt sich das klassische Live-Segment nun in alle Richtungen auf einmal. Seit dem Sommer vertrauen die Fans anscheinend wieder stärker darauf, dass Konzerte sicher sind und auch wirklich stattfinden, viele Shows – von der gehypten Club-Band bis zum Stadion-Act – sind ausverkauft. Andere Musiker:innen müssen dagegen ganze Touren aus vielfältigen Gründen absagen, im Graubereich dazwischen werden Konzerte aufgrund phänomenal großer oder niedriger Nachfrage hoch- und runterverlegt, und das genreübergreifend. Auf die lange Zwangspause, insbesondere den Lockdown im Winter 2021/22, folgt ein prallgefüllter Sommer und Herbst, der Veranstalter:innen und insbesondere Bands vor große Probleme stellt – und zwangsläufig viele Opfer fordert.

Absagen mit Ansage

Kommunizieren Bands in diesen Monaten mit ihren Fans über die sozialen Medien, fallen oft Worte wie “abgesagt”, “verschoben” und “logistische Gründe”. Letztere sollen demnach dafür verantwortlich sein, dass in den vergangenen Monaten Bands wie Primus oder Shinedown ihre Europa-Touren absagten. Bands also, deren Konzerte üblicherweise Besucherzahlen im vierstelligen Bereich verzeichnen. Dasselbe gilt für die Thrash-Legenden Anthrax, deren Bassist Frank Bello erklärt, dass sich die Kosten der im Vorjahr geplanten und kalkulierten Tour verdreifacht hätten – wodurch selbst bei vollen Hallen ein Minusgeschäft drohe. Genau ein solches macht unter anderem das Ruhrpott Rodeo, das größte Punk-Festival Deutschlands. Das hat zwar fast so viele Tickets verkauft wie vor der Pandemie, hätte im Vorverkauf aber 20 Euro mehr pro Karte nehmen müssen, um die gestiegenen Kosten zu decken.

rammstein-hamburg-presse-c-olaf-heine
Bands wie Rammstein füllen auch 2022 Stadien, andere können sich Touren kaum noch leisten (Foto: Olaf Heine)

Ging es im Sommer vor allem um die Frage, warum zu wenige Menschen im Vorfeld Tickets kaufen, gesellt sich nun noch das Problem dazu, dass selbst Vorverkaufszahlen, die bislang in Ordnung gewesen wären, nicht mehr gut genug sind. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass zumindest im Moment Touren relativ problemlos durchzuführen sind, wenn die Verkäufe stimmen. Wer wie Rammstein ganze Fußballstadien innerhalb von Stunden ausverkauft, muss sich weniger Sorgen machen, selbst die größte Produktion ohne logistische Probleme aufzufahren. Vereinfacht kann man bereits an dieser Stelle festhalten: Ohne Corona-Maßnahmen ist derzeit der Vorverkauf der bestimmende Faktor dafür, ob Konzerte stattfinden. Als Tocotronic Teile ihrer Tour auf 2023 verschieben, erklären sie: “Wir wollen ganz ehrlich sein: Im Augenblick sind die Vorverkäufe zu schwach, als dass sich eine Durchführung der Tour für die Clubs, die örtlichen Veranstalter:innen, uns und unsere Crew gerechnet hätte.”

Im Sommer waren wir gemeinsam mit Veranstalter:innen und einem Eventpsychologen auf Spurensuche gegangen, warum das Publikum beim Vorverkauf zögert; im Winter ist das Problem nun zwar immer noch vielschichtig, der Auslöser aber einfacher zu benennen: 10,4 Prozent Inflation herrschten im Oktober 2022 in Deutschland – wer plötzlich deutlich weniger für sein Geld bekommt, spart schnell am Luxusgut Konzert. Bands und Veranstalter*innen leiden hier gleich doppelt: Einerseits steigen die Kosten für die Durchführung eines Konzerts rapide an, gleichzeitig sinkt der Ticketabsatz aufgrund nachlassender Kaufkraft. Unter anderem die portugiesische Goth-Metal-Band Moonspell hat explizit die Inflation für sinkende Ticketverkäufe verantwortlich gemacht. Auch das Bremer Metal-Duo Mantar findet deutliche Worte. “Wir sind am Arsch”, lässt die Band verlauten und erklärt, was hinter den “logistischen Gründen” einer Absage meist steckt. “Der Grund dafür ist einfach: Es werden viel zu wenige Tickets gekauft.” Laut Mantar liegt der Vorverkauf nur bei etwa 30 bis 50 Prozent des Vor-Pandemie-Niveaus, teilweise sogar niedriger.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von MantarBand (@mantarband)

Dass eine Band, die noch im Juli mit ihrem aktuellen Album auf Platz 2 der deutschen Albumcharts stand, die Clubs nicht zu füllen vermag, zeigt, dass Erfolg 2022 schwieriger denn je zu messen ist. Auch sind die Märkte nicht überall für alle Bands gleich. Dadurch entstehen teilweise absurde Situationen. Während Emil Bulls auf ihrer jüngsten Tour in Deutschland öfters vor ausverkauftem Haus spielten, sagten sie die Konzerte in Österreich und der Schweiz wegen mangelndem Ticketabsatz ab.

“Shows abzusagen ist ein längerer Prozess”, sagt Fabian Livrée, Gitarrist der Dortmunder Surf-Punks Drens. “Man verfolgt den Vorverkauf und weiß, dass man dem Van-Verleiher zum Beispiel bis zu einem gewissen Zeitpunkt absagen muss. Die Crew blockt sich auch die Termine, das kann man nicht alles kurzfristig absagen. Also versucht man die Entscheidung eher früher zu treffen.” Mit anderen Worten: bevor im Vorverkauf überhaupt das letzte Wort gesprochen ist. Zwar waren Drens in der glücklichen Lage, nur einzelne Shows absagen zu müssen und den Großteil der Tour erfolgreich spielen zu können, dennoch ist die momentane Situation für eine solch junge Band deutlich schwieriger. Drens haben in diesem Jahr ihr Debütalbum veröffentlicht, wollen (und müssen) nun spielen, wann und wo immer möglich, um ihre Fanbase zu festigen und zu erweitern. Zumal das Interesse an der Band durchaus groß ist und sich lediglich nicht im Vorverkauf spiegelt.

drens-pressefoto-credit-jonas-wenz
Foto: Jonas Wenz

»Wenn man es nicht schafft, darüber zu reden, ändert sich nichts.«
Fabian Livrée, Drens

“Bei den Konzerten, die stattgefunden haben, war die Abendkasse nochmal ein erheblicher Faktor”, sagt Livrée. “Nach den Absagen haben uns viele Fans geschrieben, dass sie auf jeden Fall kommen wollten und sich schon verabredet hatten”, sagt Fabian Livrée. “Das freut uns zwar und wir glauben das. Aber ohne die feste Zusage durch den Vorverkauf können wir nicht planen. Und das tut doppelt weh, denn man enttäuscht damit die Leute, die kommen wollten.”

Wie bereits im Sommer gilt: Vor allem fehlt ohne einen ausreichend großen Vorverkauf schlicht das Geld, um die Veranstaltung auf die Beine zu stellen. Venues und Technik müssen gebucht, Transport organisiert und Visa beantragt werden. Und zwar bevor an der Abendkasse das letzte Ticket verkauft wird. Die vage Hoffnung auf Hunderte verkaufte Karten am Veranstaltungstag nützt nichts, wenn im Vorverkauf nur ein Dutzend Tickets über den virtuellen Ladentisch gehen und das unternehmerische Risiko unkalkulierbar wird. Vor allem, wenn im Endspurt deutlich wird, dass die Menschen nach über zwei Jahren Pandemie immer noch nicht so spontan wie zuvor sind. “Normalerweise zieht der Vorverkauf in den sechs Wochen vor dem Festival noch mal an”, sagt Slime-Schlagzeuger und Ruhrpott-Rodeo-Veranstalter Alex Schwers. “Dieses Mal ist da gar nichts mehr passiert. Auch bei anderen Festivals.”

Hohe Logistikkosten sind indes nicht nur in Deutschland mit seinen hohen Benzinpreisen ein Problem. So sagte etwa die Arena-Rock-gewordene Metalcore-Band Architects jüngst ihre US-Tour ab – ebenfalls aus logistischen und ökonomischen Gründen. Die Post-Grunge-Band Cold hingegen erklärte in ihrer Absage, schlicht und ergreifend keinen einzigen Bus auftreiben zu können. Weil in diesem Jahr dreimal so viele Bands auf Tour wollten, gehen manche leer aus. Für die Bands ist eine Absage auch aus einem weiteren Grund problematisch: dem eigenen Status. Wer zugibt, zu wenig Tickets verkauft zu haben, gibt sich in den Augen von Booking-Agenturen und Festivals die Blöße. Warum jemanden buchen, der nicht mal ein paar hundert Karten verkauft? Für Größeres empfiehlt man sich aus wirtschaftlicher Perspektive mit Ehrlichkeit nicht. “Abseits davon ist es ja auch einfach eine wahnsinnige persönliche Enttäuschung”, sagt Livrée. “Das tut unfassbar weh. Aber wenn man es nicht schafft, darüber zu reden, ändert sich nichts.”

Groß und Klein

Wie bereits im Sommer trifft auch diese Krise nicht alle Künstler:innen gleichermaßen. Das bestätigt Veranstalter Axel Ballreich, der in Nürnberg das Concertbüro Franken und die Clubs Hirsch und Löwensaal betreibt. “Bei uns funktionieren große Arena-Themen wie AnnenMayKantereit oder SDP durchgängig sehr gut”, sagt er. “Was sehr schlecht geht, ist der Sektor Newcomer und der Indie-Bereich.” Nehmen große Mainstream-Bands indirekt den kleineren die Butter vom Brot? “Das Konzertgeschäft für kleinere Bands läuft wirklich miserabel, die haben es schwerer, auf eine schwarze Zahl zu kommen”, sagt Chris Chohan, der als Lichttechniker und Produktionsleiter für Bands wie Turbostaat, Donots und Antilopen Gang arbeitet. Das ist auch eine Frage der Verfügbarkeit: Die Clubband, die gefühlt jedes Jahr tourt, lässt das Publikum eher mal sausen als den internationalen Headliner, der sich rarmacht.

Generell gilt: Wer die Jugend mobilisieren kann, steht im Moment gut da. “Die jungen Menschen bis 25 sind tatsächlich veranstaltungsgeil”, sagt Ballreich. “In dem Segment läuft es im Moment eigentlich besser als vor der Pandemie – auch wenn das wohl eine temporäre Erscheinung ist.” Dass ausgerechnet die Generation mit dem wenigsten Geld bereit ist, das meiste im Vorverkauf auszugeben, wirkt überraschend, ergibt aber Sinn. Für einen Teenager sind 50 bis 100 Euro für eine Arena-Show zwar viel Geld, aber eine weniger riskante Ausgabe, wenn man sonst seinen Lebensunterhalt nicht allein bestreitet und von Inflationsfolgen noch vergleichsweise abgeschirmt ist. Und es ist auch die Generation, die zwei Jahre lang nicht raus und etwas erleben konnte. “Je älter das Publikum ist, und je mehr es im Alltag aus Familie, Kinder und Beruf steckt, umso schwieriger ist es, die Leute auf ein Konzert zu ziehen”, sagt Booking-Agent Humberto Pereira von Kikis Kleiner Tourneeservice (KKT). Bei den Gruppen, die finanzielle Verantwortung tragen, schlägt die In­flation deutlich stärker zu. Dadurch sind Konzerte für diese Zielgruppe oft schwächer besucht. Ausnahmen wie jüngst The Cures höchst erfolgreiche Arena-Tour bestätigen die Regel.

Insbesondere deutsche Bands spielen außerdem oft auf prozentualer Basis, tragen also auch einen Teil des Risikos. Das kann bei gutbesuchten Konzerten lukrativer sein als eine feste Gage, führt bei nur 30 Prozent Belegung aber schnell in die Miesen. Sie tendieren also dazu, bei schwachem Vorverkauf eher die Reißleine zu ziehen als internationale Bands, die gewisse Summen als Garantie einfordern, ähnlich wie es bei Festivals der Fall ist. Für die sind die Kosten einer Europa- oder Deutschlandtour allerdings auch höher. Band, Crew, Equipment – alles muss erst teuer eingeflogen und verschifft werden. Selbst internationale Popstars kommen hier an die Grenzen, darunter die Alt-Pop-Größe Lorde. “Eine Bühne um die Welt zu verfrachten, kostet inzwischen dreimal so viel wie vor der Pandemie. Ich weiß nichts über Geld, aber doch genug, um zu verstehen, dass es in keiner Industrie eine so große Profitmarge gibt”, sagte die Musikerin. Vorerst bleibt den meisten Bands und Veranstalter:innen nur, die Kosten an die Konzert­besucher:innen weiterzugeben. Das wiederum können sich nur Bands mit regem Zulauf und viel Hype leisten. Ansonsten bricht das Interesse des Publikums erneut ein – und mit ihm der Vorverkauf.

08_Axel Ballreich-c-Alexandra Ballreich
Foto: Alexandra Ballreich

»Dass viele Bands jetzt voreilig ihre Touren auf 2023 verschoben haben, war eigentlich sehr ungeschickt«
Axel Ballreich, Concertbüro Franken

Bereits im Frühjahr wurde deutlich, dass die Verknappung von Ressourcen und Personal noch große Probleme nach sich ziehen würde. “Techniker, Security, Catering und die Energiekosten sind alle um 30 bis 40 Prozent gestiegen, da tut es richtig weh”, so Ballreich. Bei einer großen Halle summieren sich etwa die neuen Energiepreise gerne mal auf mehrere 1.000 Euro pro Abend – fressen also oftmals genau das wieder auf, was im Vorfeld einer Tour als Gewinn für die Bands eingeplant war. “Die Miete in Hallen ist ebenfalls gestiegen”, sagt Pereira. “Natürlich auch, weil sie einen relativ langen Zeitraum hatten, in dem sie nicht vermieten konnten.” Finanzielle Schieflagen entstehen gerade allerdings durch das Zusammenspiel von steigenden Kosten an allen Stellen gleichzeitig – auch denen, an die man nicht gleich denkt.

Je größer das Event, desto mehr Infrastruktur muss geschaffen werden. Und deren Bausteine sind inzwischen so knapp wie teuer. “Sanitäre Anlagen sind zum Beispiel richtig teuer geworden, und das nicht nur bei der Miete, sondern auch dem Transport”, sagt Alex Schwers. Die Container, die sie beherbergen, sind 2022 nicht nur auf Festivals im Dauereinsatz, sondern wurden auch oft als Corona-Schnelltestzentren in ganz Deutschland verstreut. Oder sie sind Teil der Unterkünfte für Geflüchtete aus der Ukraine. So wirkt sich der russische Angriffskrieg auch weit über den Februar und März hinaus auf den Live-Sektor aus. “Teilweise haben Lieferanten sie aber bei sich stehen”, so Schwers weiter. “Sie bekommen sie nur nirgendwohin, weil es an Transportern und Fahrern fehlt.” Die Fahrer fehlen in der ganzen Branche, vom Equipment-Truck bis zu den Nightliner-Bussen für Bands und Crew. “Wir haben zuletzt quasi eine Ausbildungstour gemacht”, sagt Chohan. “Die Fahrer sind davor nur Stadtbus gefahren und haben niemals mit Anhänger in so einem Festival-Kontext rangiert.” Insbesondere die Busse sind auf absehbare Zeit ausgebucht und eigentlich nur noch spontan durch Absagen zu bekommen. Und können inklusive Fahrer stramme fünfstellige Summen für einen Monat auf Tour kosten.

Der Stundensatz für Personal abseits der Veranstaltungsfachkräfte, also etwa für Security, Catering-Personal und Stagehands, ist aufgrund riesiger Nachfrage ebenfalls gestiegen – mal mehr, mal weniger, oft stark abhängig vom Verhältnis der einzelnen Firma zum jeweiligen Veranstalter. Da in diesen Bereichen öfter Nebenjobber arbeiten, standen nach zwei Jahren Brache viele nicht mehr zur Verfügung – etwa Student:innen, die in der Zwischenzeit ein Studium abgeschlossen haben und Vollzeit arbeiten. “Die wurden oft genug auch einfach scheiße behandelt”, sagt Chohan. “Die stehen bei 30 Grad auf dem Feld und bekommen nicht mal Getränke hingestellt – natürlich kommen die nicht zurück. Ich habe von genug Produktionsleitern gehört, die oftmals nur zehn Prozent der angeforderten Stagehands bekommen. Und das sind dann nur Leute, die das noch nie gemacht haben. Die kann man im Grunde gar nicht einsetzen.”

Fachkräftemangel

Eine Rückkehr zur Normalität war dieses Jahr dringend notwendig, gleichzeitig war die Branche für die Masse an Veranstaltungen und parallelen Touren nicht bereit. Im Zuge der pandemiebedingten Joblosigkeit sattelten viele Menschen auf andere Berufe um. Aus Licht- und Tontechniker:innen wurden Elektriker:innen, wer im Bühnenbau arbeitet, ist ohnehin oftmals schon Schreiner:in, und Rigger:innen, die die Trassen für Licht und Soundanlage in luftiger Höhe fixieren, sind ja nichts anderes als Industriekletterer:innen. Auch mit dem IT-Bereich gibt es einige Überscheidungen. Viele von ihnen haben Sicherheit, Vorhersehbarkeit und traditionelle Arbeitszeiten zu schätzen gelernt. Oder die Branche auf andere Weise verlassen. “Viele Menschen aus der Branche haben die Pandemie nicht gut verkraftet; sie sind schwer krank geworden und haben sich teilweise auch das Leben genommen”, sagt Chohan. Bei denen, die geblieben sind, greifen Angebot und Nachfrage – eine gute Crew ist essenziell für das Gelingen einer Tour.

“Techniker, die ein paar Jahre wenig bis nichts hatten, nehmen jetzt natürlich erstmal alles mit und pokern den für sie besten Preis heraus”, sagt Ballreich. “Und natürlich ist deine ganze Kalkulation hin, wenn der Rigger statt 450 Euro pro Tag jetzt das doppelte nimmt.” Das klingt erstmal fast so, als wären Techniker:innen gerade unsolidarisch. Eine goldene Nase verdienen die sich aber auch nur in wenigen Fällen – eher mildern sie Verluste und Härten, die sie in den vergangenen Jahren erdulden mussten. “In NRW gab es ja Corona-Soforthilfen, die aber zweckgebunden waren”, erklärt Tontechniker Lucas Schmitz. “Betriebsausgaben haben Soloselbstständige aber ja eher wenige. Diese Gelder muss man jetzt zurückzahlen. Teilweise habe ich also auch Geld auf dem Konto, das ich jeden Tag angucken kann, aber es ist nicht meins.”

alex-schwers-c-mirja-nicolussi
Foto: Mirja Nicolussi

»Eine Rückkehr zu alten Preisen wird es kaum geben.«
Alex Schwers, Ruhrpott Rodeo

Schmitz hat die Chance ergriffen und nach langer Zeit ohne Jobs den Sommer durchgearbeitet – und konnte dennoch nur die Hälfte der Jobs übernehmen, die ihm angeboten wurden. “Ich habe jeden Tag drei Anrufe bekommen, ob ich nicht irgendwo aufspringen könnte, weil zum Beispiel jemand krank geworden ist”, fügt Chohan hinzu. “Gleichzeitig musste ich als Produktionsleiter dasselbe machen.” Wer spontan bei einer Tour aufspringen kann, hat es im Moment deutlich leichter. Dennoch betreffen die Eventabsagen auch viele Techniker:innen. Allerdings sind die aufgrund der Nachfrage meistens in der Lage, spontan einen Ersatzjob zu finden. Eine gewisse Unsicherheit ist aber letztendlich auch hier vorhanden. Schmitz arbeitet aufgrund der größeren Sicherheit nun häufig im Theater. Hier ist die staatliche Förderung groß, Absagen selten.

Der Fachkräftemangel und insbesondere auch die nun rasant steigenden Lebenshaltungskosten haben auch in diesem Teil der Livebranche zu einer Erhöhung der Tagessätze geführt. “Wenn ich eine Anfrage bekomme, kann ich natürlich sagen, dass ich noch andere Jobs offen habe, die mir 600 statt 500 Euro bezahlen”, sagt Schmitz. “Ich habe allerdings auch schon Preisanstiege mitbekommen, die niemand bezahlen kann und will.” Wer es sich – auch dank eines stabilen Vorverkaufs – leisten kann, fragt Techniker:innen schon weit im Vorfeld an. Die freut es, da die Selbstständigkeit so planbarer wird. Das war vor der Pandemie anders, und die 100-Prozent-Verdienstausfall-Zeiten von damals haben bei vielen Spuren hinterlassen, egal wie rosig die Zeiten jetzt gerade für sie sind. “Die Angst schwingt natürlich die ganze Zeit mit”, sagt Schmitz.

Viele Dienstleister berechnen nun Beträge, die früher so nicht möglich waren, weil händeringend Leute gesucht werden – zu Recht? “Diese Leute arbeiten unter schwersten Bedingungen”, sagt Humberto Pereira. “Und dass Menschen, die viel gearbeitet haben, nach nur drei Monaten Pandemie Finanzprobleme bekamen, lag vielleicht auch daran, dass die Tagessätze einfach viel zu niedrig waren.” Das kann man so sehen: Möglicherweise ist manchen Techniker:innen erst seit 2020 schmerzhaft bewusst geworden, dass sie ihre Arbeit viel zu günstig anbieten. Dass Bands ihrer Crew jetzt höhere Tagessätze zahlen müssen, schlägt sich auch an anderer Stelle nieder. “Beim Booking für 2023 habe ich auch gemerkt, dass Bands teilweise massiv mehr Geld haben wollen, ohne dass man das mit einem Sprung in der Karriere oder der Popularität begründen kann”, sagt Alex Schwers. Stattdessen werde mit gestiegenen Kosten argumentiert. “Wenn zum Beispiel eine sechsköpfige Band mit Backliner, Front-of-House-Mischer und Tourmanager von Kiel nach München fährt, die Crew statt 300 aber 600 Euro am Tag bekommt und man die gestiegenen Spritkosten einrechnet, hat diese Band allein hier schon 1.500 Euro Mehrkosten.” Allerdings gilt: Je größer die Band, desto geringer fallen diese Mehrkosten im Vergleich zu Headliner-Gagen aus. “Wie wenig da zum Beispiel an die Crews weitergegeben wird, das ist schon unverhältnismäßig”, fügt Humberto Pereira hinzu. Die letzten Besucher:innen erkaufen sich Festivals in der Regel mit teuren Bands im Line-up. Das wird bei drastisch steigenden Gagen in absehbarer Zeit so nicht mehr möglich sein.

Also müssen Bands und Veranstalter:innen sparen. Nur wo? Kann man auf Teile der Crew verzichten, noch günstigere Hotels buchen oder einen Teil der Produktion zuhause lassen? “Ich habe volles Verständnis, wenn Künstler:innen sagen: ‘Mein künstlerisches Konzept funktioniert nur so.’ Aber wir haben geschaut, was man umstellen kann, um Kosten zu sparen”, sagt Drens-Gitarrist Fabian Livrée. Solche Bemühungen erlebt auch Chris Chohan: “Natürlich wird von Seiten des Managements an uns herangetragen: Wird denn alles gebraucht? Bei großen Bands, die Hallen ausverkaufen, ist das natürlich scheißegal. Aber da an allen Ecken und Enden Leute fehlen, weiß ich nicht, ob solche großen Produktionen sinnvoll oder gar nachhaltig sind.” Auch Humberto Pereira und KKT versuchen, ihren Bands Impulse zu geben. “Material und Transport zu sparen, führt natürlich auch dazu, dass man bewusster ein Konzert plant. Unsere Branche ist ja stark geprägt von einer Höher-Schneller-Weiter-Attitüde. Denn je größer eine Band wird, umso mehr Show wird auch erwartet. Bands können sich nicht mehr einfach auf die Bühne stellen und spielen. Es muss die ganze Zeit etwas passieren.” Allein aufgrund der Kostensteigerung müssen viele Bands einen Weg finden, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Neue Normalität

“Dass viele Bands jetzt voreilig ihre Touren auf 2023 verschoben haben, war eigentlich sehr ungeschickt”, sagt Axel Ballreich. “Dieses Jahr haben wir noch Hilfsfonds wie den Sonderfonds Kultur, die Wirtschaftlichkeitshilfe und Neustart Kultur.” Für 2023 gilt das nicht mehr. Bands und Veranstalter:innen stehen also vor der Herausforderung, ohne Hilfen und angesichts steigender Kosten schwarze Zahlen zu schreiben. Genau dabei war aber die Wirtschaftlichkeitshilfe ein wertvolles Instrument. Auch für Drens war diese Unterstützung entscheidend dafür, dass viele ihrer Konzerte stattfinden konnten – ohne, dass Investoren die Chance nutzen und finanziell in Schieflage geratene Clubs übernehmen. “Da kann eine Abwärtsspirale entstehen, wenn dann Firmen anfangen, die Venues zu kaufen und sich Monopole bilden”, sagt Fabian Livrée. Der wegen seiner Preispolitik und Geschäftspraktiken immer wieder in die Kritik geratene US-Konzertriese Live Nation drängt etwa seit der Pandemie verstärkt auf den deutschen Markt. Bands, unabhängige Venues und Booking-Agenturen tragen so auch die Verantwortung füreinander.

Einsparpotenzial existiert indes kaum. “Kleinere Veranstaltungen muss man jetzt abwickeln und hoffen, dass man mit einem blauen Auge davonkommt. Jetzt werden neue Veranstaltungen mit neuen Kalkulationen aufgesetzt, und wir müssen sehen, wie die vom Publikum angenommen werden, wenn der Eintrittspreis zehn bis zwanzig Prozent steigt”, sagt Axel Ballreich. Ähnlich schildert es auch Alex Schwers: “In meiner Welt steigen gerade die Eintrittspreise gewaltig. Und eine Rückkehr zu alten Preisen wird es wohl kaum geben.” Vielleicht wird es sich nicht so deutlich entwickeln wie bei Sportarten wie Skifahren, Segeln oder Golf, aber: Konzerte könnten künftig stärker zu einem Privileg für die werden, die es sich leisten können. Vermutlich wird kein Veranstalter seine Tickets demnächst wieder günstiger anbieten. Umgekehrt kann auch das zu Schwierigkeiten führen. “Eine Steigerung bei den Ticketpreisen führt zwangsläufig dazu, dass du Probleme bekommst, diese Tickets zu verkaufen”, sagt Pereira. Weil Besucher:innen nicht einfach zahlen, was sie können, sondern immer nur, was ihnen die Bands wert sind.

humberto-c-lucja-romanowska
Foto: Lucja Romanowska

»Es wird für kleine Bands ein Luxus werden zu touren.«
Humberto Pereira, KKT

Das massive Überangebot an Konzerten wird sich nach dem Stau der vergangenen Jahre wieder einpendeln. Aber insbesondere bei internationalen Größen wurde laut Informationen aus der Branche Deutschland für 2023 aus dem Tourplan genommen. Grund war die im Vergleich zum Ausland striktere Corona-Politik der vergangenen zwölf Monate. Für kleinere Bands, die sich ein Publikum erspielen wollen, ist zurzeit anscheinend die beste Option, bei etablierteren Acts als Support aufzuspringen, um ohne Verluste zu touren – zumindest, wenn sie von deren Management ausreichend gut bezahlt werden. Aber auch bei den “Großen” gilt, dass viele der Konzerte, die diesen Herbst aus allen Nähten geplatzt sind, einen Vorverkauf von teils über zwei Jahren hatten. Ob all diese Bands bei angespannter Wirtschaftslage mit weniger Vorlaufzeit und höheren Preisen bei der nächsten Tour ähnlich viele Tickets verkaufen, ist keineswegs sicher.

Das junge Publikum will auf Konzerte gehen, hat aber auch weniger Geld in der Tasche. Geht man dann zum Arena-Act für 100 Euro, bleiben zwei bis drei kleinere Künstler:innen auf der Strecke. Für viele junge Leute offenbar ein akzeptabler Deal: Mainstream-Musik zu hören und Mainstream-Konzerte zu besuchen ist angesagt, in Subkulturen bewegt sich die Generation Playlist seltener als ihre Vorläufer. Genre-Scheuklappen abzulegen ist zwar eine an sich positive Entwicklung, führt aber auch zu weniger Identifikation mit Szenen, ihrer Musik und ihren Clubs. Genau hier entstehen allerdings neue musikalische Impulse für den weiten Pop-Kosmos. Ohne bezahlbare Räumlichkeiten und bezahlbare Konzerte werden diese Subkulturen weiter schrumpfen und neue Impulse fehlen. Über kurz oder lang wird es eine größere Förderlandschaft für Kultur und die daran hängenden Arbeitsplätze geben müssen. “Dass Konzerte Luxus werden, glaube ich nicht”, so Humberto Pereira. “Aber es wird auf jeden Fall für kleine Bands ein Luxus werden zu touren. Wenn die Preise weiter steigen, braucht es für die definitiv eine Förderung.”

Wie viele dieser Probleme – und zu welchem Preis für jede einzelne Band – in Zukunft die unsichtbare Hand des freien Markts löst, bleibt abzuwarten. Aber der Boden, auf dem der Live-Neustart 2022/2023 steht, ist an vielen Stellen gefährlich dünn. Der Fachkräftemangel wird noch über Jahre bestehen, denn während der Pandemie-Jahre haben die Wenigsten eine Ausbildung in der Veranstaltungstechnik gestartet. Schließlich hat sich die Branche in den vergangenen Jahren als fragil erwiesen. Insbesondere in den kleinen Clubs sind die Menschen allerdings in der Branche geblieben. “Die Punker haben halt Bock drauf”, sagt Chris Chohan lachend. Doch gerade die kleinen Läden sind in Gefahr. “Bei Booking von kleineren Bands für 2023 sickert gerade mehr und mehr durch, dass es einige Clubs im nächsten Jahr schon nicht mehr geben wird”, sagt Alex Schwers. Bei den Clubs, die übrig bleiben, zahlen Veranstalter:innen künftig höhere Pacht- oder Mietpreise, insbesondere dann, wenn auch Personal gestellt wird.

Als positive Entwicklung lässt sich noch festhalten, dass 2022 aufgrund von Druck seitens der Rentenversicherung viele Freiberufler:innen fest angestellt wurden und so auch ein Gefühl von Sicherheit bekommen haben. Dennoch: Die gewisse Leichtigkeit, die die Branche lange ausgezeichnet hat, ist bei vielen nicht mehr vorhanden. “Wenn man in der Kulturbranche arbeitet, ist da ja immer ein gewisser Idealismus”, sagt Fabian Livrée. “Deshalb tendiert man natürlich eher dazu zu denken, dass das alles schon wieder wird. Man wird umdenken und sich anpassen müssen. Aber bis die Kuh vom Eis ist, wird das noch lange dauern.”



2022: Der Jahresrückblick
Bleibt alles anders

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2022: Die Momente des Jahres – In Your Honor
  2. Jahresrückblick 2022: Das Albumformat – Auf ganzer Länge?
  3. Jahresrückblick 2022: Die Live-Branche – Kuh auf dem Eis
  4. Jahresrückblick 2022: Grunge-Sänger und ihr Erbe – Ohne euch
  5. Jahresrückblick 2022: Das Comeback der CD – Perfekter Kompromiss
  6. Jahresrückblick 2022: Das Post-Punk-Revival – Post-Post-Punk
  7. Jahresrückblick 2022: Die Nerven im Interview – »Feiern wir die Widersprüche«
  8. Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit

Ohne euch

“It was good talking to you as usual”, so spricht die Stimme. “Take care, my friend.” Was sonst womöglich mein Schreiberherz umschmeichelt hätte, das Verbindliche, diese warmen Worte eines meiner Lieblingskünstler, ist diesmal mehr als das. Es wird ein Abschied für immer, auch wenn ich das an diesem 8. September 2021 noch nicht ahne. Der Mann am anderen Ende der Leitung ist Mark Lanegan. Seine Autobiografie “Sing Backwards And Weep” ist gerade auf Deutsch erschienen, zum zweiten Mal binnen zwei Jahren sprechen wir miteinander. Lanegan lebt mittlerweile in Irland, sein Timbre ist etwas brüchig, aber so charakteristisch dunkel wie eh und je. Er erzählt amüsiert von einem weiteren Buchprojekt und davon, dass bald wieder die Musik im Vordergrund stehen müsse, er es kaum abwarten könne, wieder auf Tour zu gehen. Dazu soll es nicht mehr kommen: Kein halbes Jahr später macht die Nachricht von seinem Tod die Runde. Immer noch unter Schock öffne ich einige Tage danach noch einmal die Interview-Datei, ziehe den Cursor auf das Ende des Gesprächs. “Take care, my friend.”

Mit Mark Lanegan verliert die Musikwelt eine weitere prägende Gestalt der Generation Grunge. Die Reihen, sie lichten sich. Immer noch. Anfang der 90er hatten Nirvana und Pearl Jam, Soundgarden und die Screaming Trees, und zusammen mit ihnen Dutzende mal mehr, mal weniger talentierte Weggefährten und Epigonen den Weg ins Scheinwerferlicht geschafft, mit ihrer rotzigen Neusortierung des Rock-Genres für die nach Punk wohl disruptivste Epoche der gitarrenbasierten Populärmusik gesorgt. Der Backlash ist hinlänglich bekannt: Mit dem Ruhm kam die Reue. Mit der Kohle der Kommerz. Grunge trudelte langsam aus, zurück blieben Alternative, Indie und Crossover, auf dem Schlachtfeld wurden die Toten gezählt: Andrew Wood von Mother Love Bone hatte schon Anfang 1990, am Vorabend des popkulturellen Umsturzes, den Kampf gegen die Heroinsucht verloren, innerhalb weniger Jahre starben auch Stefanie Sargent von 7 Year Bitch, Kurt Cobain, Blind Melons Shannon Hoon, im Frühjahr 2002 schließlich Layne Staley von Alice In Chains. Die Revolution frisst ihre Kinder? Club 27 revisited? Oder doch nur der viele Regen in Seattle, die billigen Drogen, das Übermaß an freier Zeit, die Langeweile zwischen den Gigs?

Punks und Hippies

Aus jener Schneise, die Nirvana & Co. einst in die globale Rockmusik gerissen hatten, erwachsen letztlich Dinge, die ursprünglich nicht zusammenpassten: Da ist auf der einen Seite jenes selbstermächtigende Element, das Punk einst aus den Angeln hebt. Billige Verstärker, zerschredderte Gitarren, verbeulte Mikros, ab in die Garage und dann losmachen. Das ging in London und Leeds, das geht in Washington und Seattle. Wer jetzt keine Band hat, macht irgendetwas falsch. Do it yourself? Unbedingt! Dazu der Look, unverzichtbar, wenn du Teil einer Jugendbewegung, oder besser noch, gleich die Jugendbewegung selbst sein willst: Chucks und Basecap, Boots und Ringelshirt, Nietengürtel und natürlich: Matte. Mähne. Schüttel dein Haupthaar für mich, für uns, für die Welt.

Doch den Seattle-Sound durchzieht eben nicht nur das Rabiat-Rotzige des Punk, da ist auch immer dieses Hippie-Element, da sind bunte Tücher, merkwürdige Kopfbedeckungen (Hallo, Jeff Ament!), Paisley-Westen, Bandfotos, die irgendwie nach Patschuli und Räucherstäbchen riechen. Wenn man sich etwa alte Bilder ebenjenes Ensembles anschaut, durch das der Marianengraben des Grunge lief, Green River, dann zeigen sich hier zwei Seiten ein und derselben Münze: Mark Arm als Wiedergänger von Iggy Pop, glatte Haare, stoischer Blick, sein Kumpel Steve Turner im schlichten Blouson, nicht nur optisch bereits wieder kurz vorm Abritt, demgegenüber Stone Gossard, Jeff Ament und Turner-Nachfolger Bruce Fairweather: divenhaft, mit Seidentüchern und geschürztem Mund, optisch irgendwo zwischen New York Dolls, Aerosmith und Warrant ohne Haarspray. Hier verschmelzen androgynes Metal-Flair und Hippie-Vibe zur Übergattung des Grunge, zum stadiontauglichen Hardrock-Update mit Star-Ambitionen, entsprungen aus einer Wurzel, die Tad Doyle mal mit seiner Motorsäge touchiert, Mudhoney-Schlagzeuger Dan Peters mit Dosenbier gedüngt haben mag, am Ende aber von Staley, Eddie Vedder und Chris Cornell, mit Scott Weiland in den Satteltaschen, aus der Seattle-Szene in die weite Welt hinausgeritten wird: Alternative Rock! Kein Zufall, dass Soundgarden mit Guns N’ Roses touren, Pearl Jam flugs in die Stadien ziehen, Alice In Chains für MTV den Stecker ziehen und so lange spielen, bis das Zeug TV-kompatibel ist, und eben nicht wie Nirvana, offenkundig unterprobt und mit kruder Setlist, als Geist in der Maschine herumspuken.

Bleibt die Sache mit den Opferzahlen: Sid und Nancy versehen den Punk mit einer todessehnsüchtigen Note, die Generation Woodstock beklagt da einiges mehr an Verlusten. So wie Hendrix, Morrison, Joplin & Co. den Sommer der Liebe mit einem Traueranstrich versehen, so färbt sich auch das Firmament über dem Puget Sound irgendwann schwarz, wird Cobain zum posthumen Posterboy, Staley zum Drogentoten mit verfaulten Gliedmaßen, Wood und Sargent die Verblichenen aus der Abteilung Kult. All das versieht Grunge und Alternative mit einer tragischen Note, für Erosionen sorgt es kaum. Die Rock- und Pophistorie liebt ihre Göttinnen und Götter nach dem Ableben oft gleich noch ein bisschen mehr. Wir haben immer noch “Smells Like Teen Spirit”. Und “Alive”. Und die Überlebenden als Tor in die Zukunft.

Da ist Courtney Love, die sich mit verschmiertem Lippenstift und verrutschtem Rüschenrock gen Hollywood aufmacht, und es gibt ja noch Vedder. Cornell. Lanegan. Und Nirvana-Survivor Dave Grohl, dessen hyperaktives Freischwimmen und Abstreifen quasi bis heute anhält, und für einige der besten Songs der letzten 100 Jahre Rock’n’Roll gesorgt hat. Cornell bändelt mit James Bond an, Lanegan praktisch mit jedem außer seiner alten Band, den Screaming Trees. Eddie Vedder, von der Tragödie beim Roskilde-Festival 2000 aus der Spur gekommen und von Bruce Spring­steen und Pete Townshend wieder dorthin zurückgesetzt, ist heute amerikanisches Weltkulturerbe auf den Spuren von Tom Petty und Neil Young. Damit bietet die Ära Cobain letztlich alles, was ein gutes Drama ausmacht: tragische Tote. Dubiose Drogen. Evergreens. Und widerstandsfähige Wiedergänger, die Jahr um Jahr zeigen, dass es ein Leben nach und mit Grunge gibt. Als die wiedervereinten Soundgarden 2012 etwa “King Animal”, ihr erstes Album nach 16 Jahren, veröffentlichen, ruckelt die Matrix, sind Songs wie “Non-State Actor” oder “Been Away Too Long” so originär original, als hätten Cornell und seine Band der Zeit, dem Alter, dem Teufel persönlich ein Schnippchen geschlagen.

Was bleibt?

So hätte es weitergehen können, weitergehen sollen, was es aber eben nicht tat. Vor fünf Jahren erwischte es Chris Cornell plötzlich, nach einem Konzert in Detroit wurde er leblos in seinem Hotelzimmer aufgefunden. Ein Rock’n’Roll-Tod aus dem Bilderbuch, wenn man so will. Und während Mark Lanegan, aufgerieben von den Drogen, zuletzt vom Corona-Virus und den Folgen, seine neun Leben, wie es Freund und Weggefährte Greg Dulli schon vor 20 Jahren im Song “Number Nine” sang, womöglich aufgebraucht hatte, schließt sich zuletzt sogar noch einmal der Kreis um Dave Grohl, als Schlagzeuger Taylor Hawkins jenen trostlosen Hotelzimmer-Tod stirbt, dem vor ihm schon Janis Joplin, Big Countrys Stuart Adamson, John Entwistle und eben Cornell erlegen sind. Das Ende einer Ära nun dann doch? Die Reihen so gelichtet, dass kaum noch Verbindungen da sind, die Grunge-Götter, selbst jene Spätverblichenen, nur noch Geschichtsbucheinträge? “Music Sounds Better With You”, so hieß es einst in einem Song von Stardust. An diesem Punkt in der Geschichte muss man diesen Satz wohl umdrehen: Ohne euch klingt die Musik nicht mehr so schön. Aber ist der Tod der Ausnahmesänger auch das Ende einer Ära? Sprechen wir uns in fünf oder zehn Jahren wieder. Bis dahin, um es mit Lanegan zu sagen: Take care, my friend.


2022: Der Jahresrückblick
Bleibt alles anders

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2022: Die Momente des Jahres – In Your Honor
  2. Jahresrückblick 2022: Das Albumformat – Auf ganzer Länge?
  3. Jahresrückblick 2022: Die Live-Branche – Kuh auf dem Eis
  4. Jahresrückblick 2022: Grunge-Sänger und ihr Erbe – Ohne euch
  5. Jahresrückblick 2022: Das Comeback der CD – Perfekter Kompromiss
  6. Jahresrückblick 2022: Das Post-Punk-Revival – Post-Post-Punk
  7. Jahresrückblick 2022: Die Nerven im Interview – »Feiern wir die Widersprüche«
  8. Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit

Perfekter Kompromiss

Betritt man Ende 2022 einen Plattenladen, wirkt erstmal alles wie 2021: Vinyl thront dekorativ an den Wänden, CDs stecken in Regalen. Tritt man näher, ändert sich das Bild: LP-Preise sind explodiert, falls die Platten nicht sowieso noch in Presswerk-Warteschlangen feststecken. Die CD funkelt derweil geduldig, lockt mit niedrigeren Preisen – und ist für manche Labels und Bands aktuell die einzige Möglichkeit, ihre Musik rechtzeitig physisch an die Fans zu bringen. Bei ihrer Einführung vor 40 Jahren galt sie noch als unzerstörbares Medium. Ein Image, das mittlerweile aber nicht nur Kratzer erhalten hat, weil genau diese die CD doch kaputtkriegen können: Seit 1999 sinkt der CD-Absatz in Deutschland kontinuierlich, auch 2022 wird da keine Ausnahme machen, das legt der Bundesverband Musikindustrie in seinem Halbjahresreport nahe. Im Vergleich zum Vorjahr ist nur das Tempo des Rückgangs gesunken.

Doch ist auch bei uns die Rede von einem CD-Revival. Das Gerücht entsteht Anfang 2022, als die Recording Industry Association of America (RIAA) ihre Bilanz für 2021 vorlegt: In den USA ist der CD-Absatz zum ersten Mal seit 2004 nicht gefallen, ist sogar im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent gestiegen. Die Zahl lässt sich leicht relativieren: Der Absatz beträgt doch nur einen Bruchteil des Spitzenwerts von 2000, das Jahr 2020 war besonders schwach, 2021 pumpten wenige prominente Releases die Zahlen auf und obendrein deutet der aktuelle Halbjahresbericht schon wieder Stagnation an. Trotzdem stehen diese 50 Prozent nicht allein da: Mitte 2022 legt Discogs offen, dass CDs seit fünf Jahren in Angebot und Nachfrage auf der Plattform wachsen. Vor allem in den USA boomt der Second-Hand-Handel, auf TikTok präsentieren junge Menschen stolz ihre Beute, setzen ihre Sammlung in Szene, während ältere Nerds auf Youtube über Für und Wider des Trends fachsimpeln. Außerdem trifft das Rumoren genau den üblichen Revival-Rhythmus von etwa 20 Jahren – Pop-Punk und Nu Metal sind ja auch längst zurück.

Allerdings lässt sich die CD nur bedingt mit anderen wiedererstarkten Medien vergleichen. Neben allen technischen Unterschieden hat vor allem Vinyl die bessere Story: Mit der goldenen Ära des Rock assoziiert, vom Digitalisierungswahn in die Nische gedrängt, dort von echten Fans gepflegt, um schließlich als authentisches Musikmedium triumphal zurückzukehren. Der CD kommt die Rolle der Antagonistin zu: In den 80ern als nerdiges High-End-Medium im Labor gezüchtet, profiliert sie sich bald als perfekte Kombination aus Preis, Qualität und Komfort. Sie beschert der Industrie Rekordumsätze, ist ein Medium für alle, gilt bald als seelenlos und beliebig. Das MP3-Format lässt sie dann auch finanziell straucheln, immerhin taugt es als guter Kompromiss zwischen Analog und Digital.

Spätestens mit dem Siegeszug des Streamings sehen sie viele als endgültig erledigt, der Kompromiss ist faul geworden. Wer Haptik sucht, kauft Vinyl – wer es billig und bequem möchte, streamt. Die CD braucht da niemand, so der gängige Einwand. Dagegen spricht nicht nur, dass sie in Deutschland noch immer der physische Tonträger mit dem höchsten Absatz ist. CDs bieten eigene Möglich­keiten: Sie sind handlicher als Vinyl, dennoch haptisch und haben eine Form, mit der sich experimentieren lässt – Tool haben das wiederholt vorgeführt. Im Grunde greifen auch jene Argumente, die vor 30 Jahren zur Durchsetzung der CD geführt haben: lange Spielzeit, simple Handhabung, moderater Preis – und trotzdem verdienen Künstler:innen hier besser als an Streams. Zudem sind CDs nicht von Platt­formen abhängig, bleiben von Änderungen dort unberührt, entziehen sich dem Tracking. Das Hören bleibt privat.

Manche Produktionen des CD-Zeitalters sind auch bis heute nur in dieser Form verfügbar. Die 90er und 00er Jahre sind eh so eng mit der CD verknüpft wie die 70er mit der LP oder die 2020er mit Streaming. Das zeigt auch ein Vinyl zugeneigtes Heft wie VISIONS mit jeder rissigen CD-Hülle, die die “Back to…”-Heftreihe illustriert. Und die CD ermöglicht ein spezielles Hörerlebnis: die des bis zu 80 Minuten langen Albums, das man einlegt, nicht skippt, nicht umdreht.

All das muss man nicht zu hoch hängen, um zwei Perspektiven zu wechseln. Zunächst die auf das Medium: Dass gerade eine Kultur um die CD entsteht, sie nicht einfach hingenommen wird, sondern Menschen sie bei Discogs katalogisieren, ihr Videos widmen, Plädoyers und auch Verrisse schreiben, zeigt mehr als jede Verkaufszahl, dass sie nicht nur ein zweckdienliches Stück Plastik ist. Sie ist nicht besser, aber anders als andere Medien. Das führt zum zweiten Perspektivwechsel, denn ein Revival ist es ja schon deswegen nicht, weil die CD nie weg war. Zugleich haben es auch Vinyl oder Kassette mit ihrer Rückkehr nicht geschafft, die Zeit zurückzudrehen, sondern sich lediglich einen Platz in einem ausdifferenzierten Markt erkämpft. Auch die CD wird die Streaming-Vorherrschaft nicht beenden. Aber sie kann Ende 2022 wieder als Alternative verstanden werden.


2022: Der Jahresrückblick
Bleibt alles anders

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2022: Die Momente des Jahres – In Your Honor
  2. Jahresrückblick 2022: Das Albumformat – Auf ganzer Länge?
  3. Jahresrückblick 2022: Die Live-Branche – Kuh auf dem Eis
  4. Jahresrückblick 2022: Grunge-Sänger und ihr Erbe – Ohne euch
  5. Jahresrückblick 2022: Das Comeback der CD – Perfekter Kompromiss
  6. Jahresrückblick 2022: Das Post-Punk-Revival – Post-Post-Punk
  7. Jahresrückblick 2022: Die Nerven im Interview – »Feiern wir die Widersprüche«
  8. Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit

Post-Post-Punk

Form

“Dass Pop und Referenzen nun mal herrschen, um Dinge zu verknappen, hat eine ganz klare Logik. Anders funktioniert es nicht”, sagt Anton Spielmann, ein Drittel von 1000 Robota, die mit ihrem dritten Album “3/3” in diesem Jahr ein ganz anderes Gesicht zeigen als beim Vorgänger, der 2008 erschien. Spielmann ist Verfechter der künstlerischen Grenzenlosigkeit per se. Seine Definition von Post-Punk und dessen Dimension in der heutigen Zeit geht sehr weit: “Von einer Band wie Mclusky, die sich Ende der 90er stilistisch am Post-Punk der frühen 80er bediente, also zum Beispiel an den Wipers, kann man schon eine Brücke zu uns schlagen. Das war wiederum ein Sound, der sich vom klassischen breiten und akkordlastigen Punk unterschied. Was später im Post-Punk passierte, war viel schärfer, minimaler und monotoner.” Auch wenn “3/3” viel weniger Bauhaus, Gang Of Four oder Magazine atmet, sondern eher experimentellen Artrock im Stil der Einstürzenden Neubauten, so sieht Spielmann trotzdem alles, was er, Jonas Hinnerkort und Sebastian Muxfeldt machen und in den zurückliegenden Jahren gemacht haben, als 1000-Robota-Material. Eben nicht nur Musik, sondern im größeren Sinne: Kunst.

Musikalisch hat sich Post-Punk seit den späten 90ern in Wellen immer wieder an die Oberfläche gekämpft. Nach Wire, Joy Division und Public Image Ltd. sind es Franz Ferdinand, Bloc Party, Interpol und Editors, die das Label Post-Punk in den 00er Jahren wiederbeleben, bis diese Musikentwürfe entweder vom Pop eingefangen werden oder nach einer gewissen Zeit des Auf-der-Stelle-Tretens verschwinden. Im Großen wiederholt sich da also scheinbar das Schicksal des Post-Punks der frühen 80er. Im Kleinen, sprich im musikalischen Untergrund, hält eine Band wie Love A mit ihrem Album “Meisenstaat” nicht nur die Klangtradition am Leben: Es geht um Haltung. “Aktuell ist der Begriff Post-Punk immer, weil Punk in irgendeiner Form permanent existent ist, in abgewandelter, pervertierter, verbesserter oder vermeintlich richtiger Form”, sagt Love-A-Sänger Jörkk Mechenbier. “Ich finde, Post-Punk ist immer ein bisschen defätistisch, etwas dystopisch. Wenn man sich Joy Division anhört, dann ist diese kalte Ästhetik immer Ausdruck einer Haltung. Und ich glaube, dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens sozusagen Post-Punk werden. Etwas entsteht im Punk, aber es entwickelt sich im Laufe der Zeit in andere Richtungen.”

Im Herbst 2022 reklamieren dann auch Die Nerven eine dieser möglichen anderen Richtungen für sich. Im Kontext Post-Punk sehen sich Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn nicht mehr und wollen darum auch nicht einmal mehr darüber reden. Gleichzeitig klingt ihr nach der Band benanntes Album aufrührerisch, zitiert aus Metal und Indierock. Es will seinen eigenen Platz erobern und hat damit Erfolg. Die Nerven sind aber weiterhin, wie Love A, unzufriedene Beobachter über Missstände im Großen und die Verzweiflung im Kleinen. Es ist wohl nicht möglich, anhand von drei so unterschiedlichen Haltungen einen eindeutigen Status von Post-Punk abzulesen. Zumindest wird aber deutlich, dass die festgefahrene Genre-Definition nicht mehr ausreicht. Schlimmer noch: dass vielleicht Missverständnisse entstehen.

Freiform

Ortswechsel. Im Umfeld des Musikclubs Windmill im Londoner Stadtteil Brixton gründen sich seit 2017 aufregende Bands wie Black Midi und Black Country, New Road (BCNR), die schnell mit der Londoner Post-Punk Szene um Shame und Fat White Family assoziiert werden. Diese Bands bewegen sich ästhetisch auf den traditionellen Bahnen von Post-Punk, ob gitarrenlastig oder elektronisch und experimentell (auch der avantgardistische Funkrock der Brightoner Band Squid taucht in diesem Kontext auf).

Black Midi hingegen sind ein Zusammenschluss virtuos geschulter Musiker, die aus Jazz ebenso zitieren wie aus Mathrock und Progressive Rock. Ihr Klangbild ist kantig und ungeschliffen. “Sie beuten ihr Handwerk nicht aus”, sagt Spielmann über Black Midi und umschreibt damit kunstvoll, dass die Band zu gleichen Teilen Punk, Jazz und Prog ist. Ihre Kumpel von Black Country, New Road spielen in der Zwischenzeit musikalisch auf einer Augenhöhe mit Bright Eyes und Arcade Fire, also in Sphären von Indierock und Freak-Folk. Und sie verarbeiten auf ihrem zweiten Album “Ants From Up There” Minimal Music und Kammermusik. Ihre Musik ist vielfältig, eigen und oftmals unerklärlich.

Darum fällt es leicht, sie gemeinsam in einen Topf mit der Aufschrift Post-Punk zu schmeißen, nicht zuletzt, weil gerade das erste Album von Black Country, New Road, “For The First Time”, offensichtliche Wut auf den Schwingen verzerrter Gitarrendissonanzen transportiert. Bis heute haben sich allerdings sowohl BCNR als auch Black Midi mehrfach gehäutet und verformt, so dass ihnen der Mantel des Post-Punk schon lange nicht mehr passt. Wenn das überhaupt jemals der Fall war. Ein Blick in die Spotify-Playlist von Black Country, New Road spricht Bände. Hier steht Noiserock von Daughters neben Folk von Richard Dawson und dem Piano-Jazz von Brad Mehldau. In dieser Welt hat der Post-Rock von Talk Talk die gleiche Bedeutung und Chance wie der epische Jazz von Kamasi Washington oder die Avantgarde von Fred Frith.

Formwandler

Die Post-Grunge-Generation wurde in einer Welt sozialisiert, die keinen der großen Paradigmenwechsel in der Popkultur erlebt hat; mit Sicherheit ist das einer der Gründe, warum diese Altersgruppe so unbedarft Stile vermischt, über Genregrenzen geht. Für die Millennials, so viel Verallgemeinerung muss hier ausnahmsweise erlaubt sein, hat es nie die Notwendigkeit von Szenen gegeben. Sie sind mit stilistischen Chimären aufgewachsen, sowohl im Pop als auch im Underground. Heraufbeschworene Kulturkämpfe zwischen HipHop, Metal und Indierock sind ein Ding, über das ihre Eltern sprechen. Ihre Realität wird vom Wissen bestimmt, jede Art von Musik in der Hosentasche bei sich zu tragen. Berührungsängste? Fehlanzeige.

Vielleicht sind wir also schon mittendrin im Post-Genre-Zeitalter, in dem die bisherige Notwendigkeit einer Genrezuordnung von Musik zu einer Randnotiz geworden ist. Bestimmt befinden wir uns in einer Zeit, in der eindeutige Haltungen und Szenen in Auflösung begriffen sind, oder besser gesagt: abgelöst werden von einem beschleunigten Individualismus. Digitale Medien machen jeden Menschen zum Content-Creator und -Empfänger. Eine Dystopie, der nicht zuletzt der Musikmarkt sehenden Auges entgegenläuft.

In einer Zeit, die absehbar von Streaming-Kultur dominiert sein wird, in der Musik selbst immer weiter optimiert werden muss, um wahrgenommen zu werden – und ganz nebenbei die Idee von ganzen Alben als signifikante Größen im Schaffen einer Band immer weiter in den Hintergrund tritt – fühlen sich Überlegungen zur Relevanz von Genrebezeichnungen überflüssig an. Mehr als um Klassifizierung geht es darum, Musik als Kunst gegen die Vereinnahmung der Content-Industrie zu verteidigen.

Um es positiv zu formulieren, bietet die grenzen­lose Verfügbarkeit von Musik natürlich viele Chancen auf kreatives Wachstum. Es kommt aber darauf an, dem Algorithmus regelmäßig vors Schienbein zu treten. Und wer weiß? So wie John Lydon, Keith Lavene und Jah Wobble 1978 mit Public Image Ltd. den Virus Post-Punk in die Musikindustrie ent­ließen, schreibt vielleicht bald jemand einen Open-Source-Anarcho-Algorithmus.


2022: Der Jahresrückblick
Bleibt alles anders

Inhalt

  1. Jahresrückblick 2022: Die Momente des Jahres – In Your Honor
  2. Jahresrückblick 2022: Das Albumformat – Auf ganzer Länge?
  3. Jahresrückblick 2022: Die Live-Branche – Kuh auf dem Eis
  4. Jahresrückblick 2022: Grunge-Sänger und ihr Erbe – Ohne euch
  5. Jahresrückblick 2022: Das Comeback der CD – Perfekter Kompromiss
  6. Jahresrückblick 2022: Das Post-Punk-Revival – Post-Post-Punk
  7. Jahresrückblick 2022: Die Nerven im Interview – »Feiern wir die Widersprüche«
  8. Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit

VISIONS ON INSTAGRAM

ABONNIERE UNSEREN NEWSLETTER

[newsletter2go form_type=subscribe]