Fragen hat die Band immer gestellt. Oder besser: Dinge infrage gestellt. Das in Hannover gegründete Trio aus Gitarrist Nils Wittrock, Bassist Ilja John Lapin und seinerzeit Phillip Wende hatte am Anfang überhaupt erst durch das Einreißen und Hinterfragen von Genregrenzen größere Aufmerksamkeit erregt. Als sich The Hirsch Effekt anschicken, ihr erstes Album aufzunehmen, involvieren Wittrock und Lapin, die sich im Musikstudium kennengelernt hatten, Chöre, Blas- und Streichensemble für die Aufnahmen zum ersten Album ihrer “Holon”-Trilogie. Ihr heftiger Mathcore und Screamo Metal ist in der Folge durchzogen von klassischen Passagen und zusätzlich program-mierter Elektronik. Der Stilmix trifft Unvorbereitete wie ein 16-Tonnen-Gewicht, ihre Ambition fordert Hörende heraus – und überfordert nicht selten. Mit “Holon: Hiberno” (2010), “Holon: Anamnesis” (2012) und “Holon: Agnosie” (2015) – inzwischen mit Moritz Schmidt als Schlagzeuger – schaffen sich The Hirsch Effekt ein eigenes musikalisches Universum. Dabei arbeitet sich die Band textlich abstrakt, reduziert und oft kodiert an den eigenen Gefühlswelten ab, demonstriert Zerbrechlichkeit und Zweifel, aber auch Wut und Entäußerung.
»›Urian‹ sollte martialisch klingen und arrogant und eklig daherkommen.« Ilja John Lapin
Mit dem Album Eskapist folgt 2017 eine Zäsur. The Hirsch Effekt äußern sich politisch, fast könnte man es aktivistisch nennen. Die Band richtet den Blick nach außen, auf Gesellschaft und Politik, Systemaussteiger und Abgehängte. Der persönliche Duktus weicht einem schroffen, unerbittlichen Blick auf Um- und Missstände, an denen Menschen verzweifeln. Auf dem 2020 erscheinenden Kollaps verhandeln The Hirsch Effekt schließlich die Realität des Klimawandels, der Ressourcenknappheit und der letzten Chancen, die der Menschheit zum Gegensteuern bleiben. Wohin sich das folgende Album wenden wird, ist angesichts der Corona-Pandemie, die der Veröffentlichung von Kollaps wie ein Mühlstein um den Hals hängt, vollkommen offen.
Urian
Auf dem sechsten Album von The Hirsch Effekt kulminiert und kollabiert im Grunde alles vorher Dagewesene in knapp einer Stunde unter der Überschrift des “ungebetenen Gastes”, mit dem der Begriff Urian näherungsweise übersetzt werden kann. Wurzelnd im Altenglischen taucht “Herr Urian” als Bezeichnung für den Teufel in Goethes Faust auf. In sowohl martialischen als auch berührenden Extremen erschaffen The Hirsch Effekt ihr wohl persönlichstes, wenn auch dunkelstes Al-bum. Das hat Methode, wie Wittrock und Lapin im Gespräch erläutern. ” ‘Urian’ bezeichnet all die ungebetenen Dinge, die gerade in unseren Leben existieren, sei es die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine, also Umstände, die uns überrennen und die Welt verändern, in der wir uns zurechtgefunden haben. Und es geht um Dinge wie Religion, die als Ordnungssysteme ins Wanken geraten, weil sie von sozialen Entwicklungen herausgefordert werden – was ja auch absolut richtig ist”, so Wittrock. “Ich habe letztens schon mal ein Interview geführt, in dem gesagt wurde, das sei ein Konzeptalbum, und da musste ich schon ein wenig einhaken”, ergänzt Lapin. “Man mag das musikalisch denken wegen der Übergänge von Stück zu Stück, aber “Urian” ist textlich kein Konzeptalbum mit Story. Das sind alles unterschiedliche Stücke mit Texten aus verschiedenen Blickwinkeln, von unterschiedlichen Personen zu verschiedenen Zeitpunkten geschrieben.”
Die Soundwelt, in der sich die neue Platte bewegt, folgt hingegen den Gesetzen, die sich die Band im Laufe der vergangenen Alben erarbeitet hat. Es ist eine Mischung aus gemeinsamer und Solo-Demo-Produktion in den jeweiligen Heimstudios der Musiker. In einer Kombination aus unterschiedlichen Lebensmittelpunkten – Wittrock und Schmidt in Hannover, Lapin in Berlin – und den technischen Segnungen von Zoom, Slack und Home-Recording-Equipment wurden die Songs auf “Urian” seit den letzten Phasen der Pandemie entwickelt. Konzentrierte Retreats und Sessions der gesamten Band oder Zweierkonstellationen komplettierten den Schreibprozess. Die Zeiten jedoch, in denen das Trio zusammen in ein Studio fuhr, um “die Platte” aufzunehmen, sind vorbei, wie Wittrock sagt: “Moritz geht für seinen Part ins Studio, weil ein Schlagzeug im Proberaum einfach nicht gut aufgenommen werden kann, Ilja hat Bass, Cello und Gesang im Studio in Berlin aufgenommen, und ich mache hier in Hannover alles alleine. Ich finde das auch viel weniger stressig als früher, als ich im Studio alles komplett so reproduziert habe wie auf den Demos. Wenn es jetzt so ist, dass eine Gitarrenspur im Demo einfach gut ist, dann bleibt sie im finalen Mix, das ist viel entspannter.” “Die Protagonisten der Songs auf dieser Platte fühlen sich alle irgendwie allein oder alleingelassen”, sagt Lapin über die acht Songs auf “Urian”. “Wenn man den Gedanken von “Urian” weiterführt, kann man sogar sagen, dass das ganze Album als ungebetener Gast auf einer Party gesehen werden kann, weil es all die Themen enthält, die wir lieber nicht ansprechen.”
Gleichzeitig hat sich in Musik und Texten der Band eine gewisse Hoffnungslosigkeit breitgemacht, die wiederum den Entwicklungen der vergangenen Jahre folgt. Eine Band, die sich in möglichst vielen Dingen nachhaltig und umweltbewusst verhalten will, das auch immer wieder thematisiert, sei es in Texten oder ganz profanen Dingen wie dem Produzieren von ökologisch freundlichem Merchandise, setzen Realitäten wie Energiekrise und ökonomische Kriegszustände ganz reale Grenzen, wie Wittrock sagt: “Nach der Zeit von Kollaps und Pandemie mussten wir feststellen, dass wir an bestimmten Punkten einfach an unsere Grenzen stoßen. Wir sehen das im Großen an unserer Regierung, die aufgrund von Krisen in puncto Nachhaltigkeit und Energiewende in politische Fallen tappt. So geht es uns und ich glaube auch vielen anderen im eigenen Leben, darum steht am Ende dieses Albums auch nicht ein Song wie “Agora”, sondern “Erystis”, der in Resignation und Verzweiflung endet. Die Welt ist leider sehr kompliziert.”
Acht Mal Einsamkeit
Das lyrische Ich fällt im “Urian”-Opener “Agora” erst einmal auf sich zurück. „Meine Welt findet nicht mehr zu mir zurück”, singt Wittrock zu klassischer Gitarre und Cello, entledigt sich so jedes Kontextes. Es ist ein Ausblenden von Wahrheiten, zu denen sich Mensch verhalten muss, während alle gelernten coping mechanisms wegbrechen. Multiple Krisen im permanenten Online-Modus verschwinden hinter einem einsamen “Wann wird irgendetwas sein, wie es mal war und wie ich bin?” Das Stück, das ursprünglich als Bandarrangement geplant war, ist eine ungewohnt intime Ouvertüre für Lapins zehnminütige Komposition Otus, die sich elegisch und mit Pathos im Dunkel der Nacht bewegt. Lapins Sprache bietet dabei immer wieder einen rätselhaften wie martialischen Gegenpol zur Zerbrechlichkeit, mit der Wittrock seine Texte schreibt. “Die Sprache hat sich auf jeden Fall punktuell geändert”, sagt Lapin zu seiner Herangehensweise. “Das ist bei meinen Texten auch so gewollt. “Urian” sollte martialisch klingen und arrogant und eklig daherkommen. Das findet sich bei “Blud” auch wieder. An anderen Stellen ist es schon noch eindeutig dieser Nils-Style, den es bei Hirsch Effekt immer gegeben hat. Texte wie die zu “Urian” und “Blud” bezeichne ich als externe Texte, weil es darin im Gegensatz zu introvertierten oder persönlichen Dingen um die Darstellung von äußeren Gegebenheiten geht.” Im folgenden “2054” wenden sich The Hirsch Effekt dann dem wohl persönlichsten Thema des Albums zu, wie Wittrock in einem Satz zusammenfasst: “Bei dem Stück geht es mir um die Grund-angst, seine Kinder nicht richtig auf die Welt vorbereiten zu können, in der sie mal leben werden.” Der Titel, der sich auf einen prognostizierten apokalyptischen Kipppunkt im Klimawandel bezieht, steht wie ein Mahnmal im Leben des Erzählers, während ein plötzlicher Perspektivwechsel mitten im Song die ultimative Ausweglosigkeit mit den Worten “Vater, lass mich hier nicht allein“ konstatiert. Ausgerechnet jetzt übernimmt “Urian” das Ruder und steuert den Tanker des gesellschaftlichen Diskurses in eine Sandbank. Unverhohlen lockt er uns „tiefer ins Netz der Macht”, weg vom menschlichen Austausch, in eine künstliche Welt voller Scheinfakten, die zur eigenen Realität umgeformt werden können.
Aus dem Leben nachwachsender Generationen ist der virtuelle Raum nicht mehr wegzudenken. Wird er darum automatisch zum Fluchtpunkt angesichts eines Alltags, in dem Krise auf Krise folgt und Politikverdrossenheit in Desinteresse endet? Wittrock differenziert: Ich glaube, das Verhältnis der Generationen wird einfach immer krasser. Die Generation, die jetzt das Sagen hat, weiß doch schon gar nicht mehr, was bei den jungen Leuten passiert, weil sich technische Entwicklungen und Trends immer schneller überleben. Gleichzeitig haben die Jungen aber keine starke Lobby, um sich zu behaupten, weil die Gesellschaft insgesamt einfach immer älter wird und niemand mit ihnen mitkommt.” Oder mitgenommen wird? “Ja, genau, die jungen Leute fühlen sich überhaupt nicht repräsentiert im Sinne von, dass da irgendwas wäre, für das sie sich interessieren sollen.” Oder sie werden väterlich belehrt, wie Lapin ergänzt: “Wenn ich was frage, werde ich von Markus Lanz überrannt.” Spätestens hier wird überdeutlich, dass The Hirsch Effekt nicht mehr aktiv um sich schlagen, um Bewegung zu erzeugen, sondern bleischwere Momente voller Isolation und Paralyse beschreiben. Momente, die durch die Szenerie in “Stegodon” umso schwerer auszuhalten sind. “Ich habe Ilja und Moritz, die keine Kinder haben, gefragt, ob es okay wäre, so einen Text zu schreiben und sie fan-den es in Ordnung”, sagt Wittrock über das kleine Kammerstück, dessen Verlauf wohl jedes junge Elternteil auf der Welt abholt. „Du bist gar nicht Teil meines Plans”, heißt es da über den Nachwuchs, der mit Fragen und Nonsens-Regeln seine Welt erkundet. Eine Welt, die, und das lernen wir rund um diesen Song, in sich zusammenbricht, was “Stegodon” umso eindringlicher macht. Das Stück hat mit großen Refrains und Chören eine ungewohnt gradlinige Form und wirkt mit seinen nahezu poppigen Harmonien wie ein Fremdkörper – wenn auch ein willkommener. “Granica” nimmt mutmaßlich die Perspektive eines Geflüchteten ein und trotzt mit dem letzten bisschen Hoffnung den Elementen. Wenn in “Agora” gefragt wurde, wann es wieder wird, wie es mal war, steht hier die Antwort schroff auf dem Asphalt: „Nichts wird je wieder, wie es war.”
Es ist zwar kein Konzept, aber ein übergreifendes Gefühl und Gewicht, das Wittrock und Lapin ihren Worten eingeimpft haben. Ein musikalischer Frontalangriff und der wahrscheinlich aggressivste Song des Albums ist “Blud”, wiederum eine Idee von Lapin: “Die Hälfte von ‘Blud’ war fertig, als wir zum Schreiben in ein Ferienhaus gefahren sind, wo ein paar Sachen daran geordnet wurden. Ein Jahr später hatten Nils und ich uns zum Schreiben in Hannover verabredet, aber gerade als ich ankam, war Nils Corona-positiv. Also habe ich das Stück allein im Proberaum fertiggeschrieben, ich hatte ja sonst nichts zu tun.” Im vorletzten Stück des Albums verausgabt sich die Band mit einem hellwachen Kommentar zur religiösen Doktrin des Gehorsams. Obwohl das Ordnungssystem Religion immer mehr ins Wanken gerät, bietet es keine Alternative zu Dogmen und Sinnsprüchen. “Unser Ritus: verlogen. Unsere Predigt: Verrat. Unsere Wahrheit: ein verzerrtes Weltbild.” Hier fällt so etwas wie der letzte Vorhang, während die Bühne Feuer fängt. Womit “Urian” an seinem natürlichen Ende angelangt ist und mit “Eristys” in der Nacht verschwindet. Ein einsamer Mensch, abseits der Gesellschaft, absichtlich übersehen in der Fußgängerzone auf dem Boden verharrend, fragt sich, wann ihn “endlich mal jemand fragt”. Eine Antwort ist unwahrscheinlich.
Die komplizierte Welt
Wenn man das gesamte textliche Kompendium von “Urian” auf sich wirken lässt, bleiben zum einen alle Fragen unbeantwortet. Zum anderen nagt im Hinterkopf eine neue: Was sollen wir tun? “Die Welt ist leider sehr kompliziert”, sagt Wittrock, “Aber das zu verneinen, führt zu nichts. Für mich sind all diese unumgänglichen Probleme, vor denen wir unsere Augen nicht verschließen können, zu wichtig als nicht über sie zu reden. Und dann ist da diese Gewissheit, in eine Zukunft zu steuern, in der sich niemand zurechtfinden wird.”
Rezeption und Verständnis von “Urian” brauchen Zeit und enden auch dann wohl selten in eindeutigen Urteilen. Allerdings war Eindeutigkeit noch nie eine relevante Größe für The Hirsch Effekt. Die Dringlichkeit ihrer Aussagen hingegen schon. Zum Zeitpunkt unseres Interviews ist der Ukraine-Krieg die vordergründige Weltkrise. Zwei Tage später fallen Terroristen in Israel ein.