Zu einem neuen Album von Boysetsfire ist derweil noch nichts bekannt. Ihr zuletzt veröffentlichtes Album “Boysetsfire” liegt bereits acht Jahre zurück. Gray zeigte in diesem Jahr dafür vollen Einsatz als Frontperson bei The Iron Roses und deren Debüt. Gray gab 2022 via Instagram bekannt, sich als nicht-binär und pansexuell zu identifizieren. Kürzlich stellte Gray in diesem Zuge bei uns zehn Songs vor, die Geschlechteridentität und Sexualität in den Fokus rücken.
Live: Boysetsfire
28.09.2024 Wiesbaden – Schlachthof
30.09.2024 Hamburg – Grosse Freiheit 36
01.10.2024 Berlin – Huxley’s Neue Welt
02.10.2024 München – Backstage Werk
03.10.2024 Wien – Arena
04.10.2024 Karlsruhe – Tollhaus
05.10.2024 Köln – Palladium
Es kommt gerade wieder einiges in die Gänge bei Jane’s Addiction: Nachdem vor ziemlich genau einem Jahr bekannt wurde, dass die Band wieder gemeinsam im Studio war und sie seitdem an einem neuen Album arbeitet, haben sie im März mit “True Love” ihren ersten neuen Song seit zehn Jahren live vorgestellt.
Auf Tour war die Band seitdem einige Male in Amerika, nach Europa hatte es sie aber zum letzten Mal 2016 verschlagen. Nun haben die Kalifornier für Sommer 2024 aber wieder neun Termine angekündigt, sowohl für eigene Headlinershows als auch für Festivaltermine.
Vier der geplanten Konzerte finden in Großbritannien statt, bevor die Band im Juni auch zweimal nach Deutschland kommt. Geplant sind ein Auftritt in der Großen Freiheit Hamburg am 6. Juni, am 25. Juni spielen Jane’s Addiction dann im Carlswerk Victoria in Köln. Am 3. Juli gibt es außerdem eine Show in der Rockhal in Luxemburg. Tickets für die Tour sind ab morgen um 12 Uhr vorbestellbar.
Die Ankündigung der Livetermine löste bei vielen Fans Vorfreude aus, nicht wenige sprachen in den Kommentaren aber auch die offene Frage der Gitarristenposition bei Jane’s Addiction an. Ob Dave Navarro, der zuletzt durch eine Long-Covid-Erkrankung immer wieder verhindert war, im Sommer dabei sein wird, hat die Band noch nicht kommentiert. Zuletzt half Ex-Red Hot Chili Peppers-Gitarrist Josh Klinghoffer aus, live unterstützte die Band zwischendurch aber auch schon Troy Van Leeuwen von Queens Of The Stone Age.
Live: Jane’s Addiction
06.06. Hamburg – Große Freiheit 36
25.06. Köln – Carlswerk Victoria
03.07. Luxemburg – Rockhal
Wir schreiben das Jahr 3000… Eine Weltraumflotte schützt die Menschheit und ihre Kolonien im All vor interstellaren Invasoren. Die Crew des Raumschiffs Orion unter Commander McLane wird wegen befehlswidrigen Verhaltens zur Raumpatrouille versetzt. Mit von der Partie ist Sicherheitsoffizier Tamara Jagellousk, die als Aufpasserin zu den verrückten Fünf abkommandiert wurde. Doch so langweilig, wie sie sich den Dienst vorgestellt haben, wird dieser allerdings nicht: Im Kampf gegen die Außerirdischen erleben sie die gefährlichsten Abenteuer …
Nun feiert die Kultserie “Raumpatroullie Orion” um die fantastischen Abenteuer des Raumschiffs Orion und der Crew um Commander McLane ihr Comeback. Aufwändig in Bild und Ton restauriert, sind alle sieben Folgen der Serie in voller Länge inklusive dem Producer’s Cut, erstmalig in verschiedenen Special-Fan-Editionen verfügbar.
Wir verlosen zwei Exemplare des limitierten 4Disc Blu-ray Mediabooks zur Serie. Viel Glück bei der Teilnahme!
Im Oktober kündigten die Libertines mit “All Quiet On The Eastern Esplanade” den Nachfolger von “Anthems For Doomed Youth” (2015) an. Sie veröffentlichten bereits die Leadsingle “Run, Run, Run” mit typischem Libertines-Sound. Die zweite Single “Night Of The Hunter” kommt etwas fein ziselierter daher, erinnert an einige Soloarbeiten von Peter Doherty, zeigt den Co-Frontmann, der seinen Drogenkonsum aktuell offenbar im Griff hat, aber vor allem mit so einer gefestigten Stimme, wie seit Jahren nicht mehr.
Doherty erklärte zum Text des neuen Songs: “Der Titel stammt aus Charles Laughtons Regiedebüt ‘Night Of The Hunter’, in dem Robert Mitchum einen Prediger spielt, auf dessen Fingerknöcheln ‘LOVE’ und ‘HATE’ tätowiert sind”, so Doherty. “Der Song handelt davon, dass man dem Gesetz nicht immer einen Schritt voraus ist. Dieser Kerl weiß nicht wirklich, warum sein Kumpel tot ist, aber er hat das Gefühl, dass sein Kumpel es verdient hat. Er hat sich mit den falschen Leuten angelegt und etwas gestohlen, das er nicht hätte haben sollen, und er wurde angestochen. Er ist also wütend und verletzt und muss sich rächen, was er auch tut, und das war’s für ihn. Nachdem er den Jungen erstochen hat, der seinen Kumpel erstochen hat, war’s das für ihn. Er hat aus Rache zugeschlagen und weiß, dass sie kommen werden, um ihn zu holen, und er wird nicht einmal versuchen zu fliehen, weil er weiß, dass er nur für immer fliehen würde.”
Co-Frontmann Carl Barât erklärte zum Sound: “Ich habe angefangen, ein Riff zu schreiben, und am Ende klang es ein bisschen wie ‘Schwanensee’, und alle sagten: ‘Ja!’ Dann haben wir Peters Theremin-Spieler dazu geholt, der ungefähr einen Tag brauchte, um sich einzustimmen, und dann hat er diese Sequenz gespielt und es hat wunderbar funktioniert.”
Das neue Album “All Quiet On The Eastern Esplanade” erscheint am 8. März und kann noch vorbestellt werden.
Bellender Gesang, dröhnende Gitarren: Leadsingle “Dancer” in Zusammenarbeit mit LCD Soundsystem war zuletzt nicht allzu weit aus dem Idles-Kosmos entfernt. Die zweite Single des kommenden Albums “Tangk” führt dafür umso mehr die Weiterentwicklung und Experimente, die Idles mit “Crawler” begonnen haben, fort: Im hypnotisch flirrenden “Grace” steht vor allem Joe Talbots Gesang im Vordergrund, der hier tatsächlich “singt” – und zwar im Falsett. Sein Mantra “No god, no king, I said love is the thing”, vorgetragen in seinem charakteristischen Akzent, kann man hier wohl als Leitbild für das von der Band ausgerufene “Album der Dankbarkeit und der Kraft” voller “Liebeslieder” verstehen.
Bemerkenswert ist neben Talbots Gesang aber auch die vielschichtige Produktion und Sogwirkung dieses ruhigen Songs, der nur in den letzten zwanzig Sekunden zum aufbäumenden Noise-Gewitter ansetzt. Der Einfluss von Radiohead-Stammproduzent Nigel Godrich bei diesem Song wirkt wesentlich größer, als noch bei “Dancer”. Produziert wurde “Tangk” aber nicht nur von Godrich: wie auf dem vergangenen Album wirkten auch Gitarrist Mark Bowen und HipHop-Produzent Kenny Beats mit. In Kürze könnt ihr bei uns ein Vorab-Interview mit Bowen zur Produktion der am 16. Februar erscheinenden Platte lesen.
Zur Entstehung des Tracks erklärte Talbot: “Das Lied kam aus dem Nichts und aus allem. Es war ein Atemzug und ein Aufruf, der angehalten werden wollte”, so der Sänger. “[Es waren] die einzigen Worte oder Gesänge, die aus unseren Sitzungen mit Nigel Godrich kamen, und ich brauchte es wirklich. Alles ist Liebe.”
“Tangk” kann noch im Bandshop vorbestellt werden. Mit ihrem neuen Album gehen Idles dann auch in Europa wieder auf Tour. Dafür kommen sie für fünf Shows nach Deutschland. Tickets gibt es an allen bekannten Vorverkaufsstellen.
VISIONS empfiehlt: Idles
15.03.24 Berlin – Max-Schmeling-Halle
16.03.24 Hamburg – Sporthalle
21.03.24 Köln – Palladium
22.03.24 München – Zenith
23.03.24 Frankfurt – Jahrhunderthalle
Gegen halb zehn am Abend verlassen die Mitglieder von Damageplan ihren Tourbus und betreten das Gebäude durch die Hintertür des etwas heruntergekommenen Clubs. Die Alrosa Villa liegt im Zentrum von Columbus, der Hauptstadt des Bundesstaates Ohio. Die rund 850.000 Einwohner machen die Heimat zahlreicher bekannter Sportteams zur drittgrößten Stadt im Mittleren Westen der USA. Der Laden ist nicht sehr groß, mit 350 zahlenden Gästen ist das Konzert an diesem Abend trotzdem nicht ausverkauft. Es ist eine Art Zwischenstation. Hier spielen mittelgroße Rock- und Metal-Bands auf dem Weg nach oben oder die größeren, die schon bessere Tage gesehen haben.
Die beiden Gründer von Damageplan – Gitarrist Darrell Abbott, genannt Dimebag, und sein Bruder Vinnie Paul Abbott – sind jedenfalls andere Dimensionen gewohnt. Mit ihrer Band Pantera haben sie in den 90ern nicht nur den Metal revolutioniert, sondern mit ihrem dritten Majoralbum “Far Beyond Driven” 1994 die US-Albumcharts angeführt und dafür Gold- und Platin-Auszeichnungen erhalten. Sie sind Metal-Superstars, die Hallen und Festivals mit zehntausenden Besuchern füllen konnten. Doch seit Pantera im Jahr 2000 ihre letzte Platte veröffentlicht haben, herrscht Funkstille. Sänger Phil Anselmo hat die Band hängengelassen. Er ist für die Brüder nicht mehr erreichbar, konzentriert sich auf seine anderen Bandprojekte und kämpft mit seiner Heroinsucht. Nachdem die Abbotts als Gründer der Band daraufhin 2003 hoffnungslos das Ende von Pantera verkünden, liefern sie sich mit Anselmo über die Medien verbale Schlagabtausche mit gegenseitigen Schuldzuweisungen.
Für die Abbott-Brüder soll es endlich weitergehen. Sie sind auch musikalisch schon immer eine Einheit, ihr gemeinsamer Stil, mit dem sie die Pantera-Alben der 90er geprägt haben, ist zum Synonym für den modernen Metal geworden. Dimebag gilt als einer der talentiertesten Rockgitarristen der Welt. Seine Riffs und Sounds der fünf letzten Pantera-Alben beeinflussen ganze Generationen von Musikern und Bands. Mit dem Gitarristen und Sänger Patrick Lachman, der sich vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Judas-Priest-Sänger Rob Halford in der Metal-Szene einen Namen erarbeitet hat, und dem Bassisten Robert “Bobzilla” Kakaha wollen sie als Damageplan an ihre alten Erfolge anschließen. Das im Februar 2004 veröffentlichte Debütalbum “New Found Power” erhält ordentliche Kritiken und verkauft sich solide. Es wird schnell deutlich, dass die Band sich nicht auf ihrem Erbe ausruhen kann, sondern mit einer Ochsentour durch die mittleren US-Clubs wieder auf ihren Status von vor 15 Jahren zurückgeworfen wird.
Doch Dimebag und Vinnie Paul lassen sich von dieser Aussicht nicht aufhalten, sie wollen wieder Teil einer aktiven Band sein und Konzerte spielen, auch wenn das bedeutet, wieder am Anfang einer Karriere zu stehen. Nach einem kräftezehrenden Jahr hatte Schlagzeuger Vinnie Paul seinem Bruder vorgeschlagen, die letzten Dezember-Konzerte zu verschieben, um die Vorweihnachtszeit zu Hause verbringen zu können, so erinnert sich jedenfalls ihr Vater Jerry Abbott später in seiner Autobiografie. Er ist selbst Musikproduzent, der seine Söhne immer bei ihren musikalischen Plänen unterstützt hat. Anfang des Jahres hatte er aufgrund von Herzproblemen eine schwierige OP hinter sich bringen müssen. Seine Söhne ließen einen Auftritt sausen, um ihm beizustehen. Doch dieses Mal erklärt Dimebag seinem Bruder, dass er die letzten Gigs noch durchziehen will, vor allem den Fans und den beiden neuen Bandmitgliedern zuliebe.
Dieses Arbeitsethos ist dem lauten und im Umgang mit den Fans immer gut gelaunten Gitarristen wichtig. Es ist genau diese Einstellung, die eine Band den entscheidenden Schritt weiterbringen kann. Auch wenn der am 20. August 1966 geborene Dimebag das Jüngere der beiden Geschwister ist, hat sein Wort entscheidendes Gewicht. Am 7. Dezember 2004 bringt die Band ihr 50. Konzert des Jahres in Buffalo erfolgreich hinter sich. Noch zwei Konzerte, dann sollen die Bandferien endgültig eingeläutet werden.
Mit dem Mörder auf der Bühne
Bereits gegen 21.15 Uhr fährt Nathan Gale mit seinem Wagen auf das Gelände der Alrosa Villa, doch der Parkwächter schickt ihn wieder weg, so dass der 25-jährige Ex-Marine auf der gegenüberliegen Straßenseite parken muss. Als er seinen Wagen verlässt, trägt er nicht nur eine schwarz-blaue Baseballcap und sein geliebtes Hockey-Trikot der Columbus Blue Jackets über einem grauen Kapuzenpullover, sondern versteckt seine geladene Neun-Millimeter-Handfeuerwaffe, ein zusätzliches Magazin und 30 weitere Schuss Munition bei sich. Gale überquert die Straße und stellt sich vor den Eingang des Clubs, in dem an diesem Abend Damageplan und drei lokale Vorbands auftreten, macht aber keine Anstalten, hineinzugehen. Ein paar Mal schlendert er über das Außengelände, doch den Großteil der Zeit verbringt er neben dem eingezäunten Innenhof, der als Raucherbereich für die Konzertbesucher dient. Durch die offenen Türen sind die Ansagen und die Musik aus der Alrosa zu hören. Um viertel vor zehn spricht der Parkwächter Gale erneut an, weil ihm sein Verhalten verdächtig vorkommt. Er fragt ihn, ob er ein Ticket habe, was er bestätigt. Trotz der winterlichen Temperaturen draußen, habe er kein Interesse an den lokalen Vorbands, erklärt der 1,92-Meter-Mann mit den auffällig dicken Brillengläsern, er warte auf den Headliner.
Die ursprüngliche Wandfarbe des spärlich möblierten Backstageraums ist unter den Stickern und Graffitis aus seiner 30-jährigen Rock’n’Roll-Geschichte kaum noch zu erahnen. Hier steht ein abgewetztes Sofa, dort sind ein paar Plastikstühle und mehrere Beistelltische über den Raum verteilt, eine Tür führt ins Badezimmer. Auf dem Boden liegen die Transportkoffer mit Dimebags wertvollen Gitarren. Die Band hängt hier ab, macht sich locker, zwischendurch geht der Gitarrist in Richtung Bühne, um sich von der Seite ein paar Songs des Support Acts Volume Dealer anzuschauen, die ihr Idol erfreut ins Mikrofon grüßen.
Als sie um 21.50 Uhr ihr Set beendet haben, wird die Bühne für die Hauptband vorbereitet. Der Gitarrenroadie John Graham stellt die schwarze Dean-Gitarre, mit der Dimebag die Show eröffnen wird, an seinen Platz. Tourmanager Jeff “Mayhem” Thompson platziert Abbotts Videokamera auf der linken Bühnenseite, auf einem Flightcase des Bassisten. Als er sich davon überzeugt hat, dass seine Jungs bereit sind und jedes Crewmitglied in Position ist, gibt er dem Lichtmann mit einem angedeuteten Kehlenschnitt das Signal: Das Hauslicht erlischt, die Menge johlt und grölt. Die Band steht bereit. Im Dunkeln ist der charakteristisch-harte Crunch-Sound von Dimebags Gitarre zu hören. Thompson geht zum Mikrofon und kündigt den Headliner an: “Here they are: Dam-age-plan!” Dann verlässt er schnell das Rampenlicht. Die vier Musiker eröffnen ihr Set mit dem zweiten Stück ihres Debütalbums – es heißt “Breathing New Life”.
Vor dem Club hat Nathan Gale mitbekommen, dass Damageplan die Bühne betreten haben. Gale schaut in Richtung Eingang, entscheidet sich dann aber für einen Sprung über den Zaun zum Innenhof und landet auf der anderen Seite. Sein Eindringen bleibt nicht unbemerkt, doch er erreicht den Konzertraum, der vom ohrenbetäubenden Krach der Band bebt, und bewegt sich durch das Publikum in Richtung Bühne. Die Security ist ihm auf den Fersen, man hält ihn für einen Fan ohne Ticket. Gale bewegt sich ruhig und fokussiert. Weil die Augen und die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Band gerichtet sind, fällt er nicht auf. Damageplan haben keine 90 Sekunden ihres Songs gespielt, als er die Bühne betritt, sich unbemerkt an Tourmanager Thompson vorbeistiehlt und sich auf den bangenden Dimebag Darrell zubewegt.
Im Licht der Bühne zieht er die Pistole aus seiner Jeans, fasst sie mit beiden Händen und zielt mit ausgestreckten Armen auf den Gitarristen, der ihn noch nicht bemerkt hat. Von hinten packt ihn Gale an den Haaren und zieht ihn zu sich heran. Thompson hat mittlerweile geschaltet und rennt herbei, um Dimebag zu helfen, doch es ist zu spät. Im Gemenge gibt Gale den ersten Schuss ab, der die Hand des Gitarristen durchschlägt und dann seinen Kopf trifft. Thompson bringt den 130-Kilo-Attentäter zwar zu Fall und reißt ihm die Brille vom Gesicht, doch er kann nicht verhindern, dass ein weiterer Schuss Dimebag trifft. Gale richtet sich wieder auf und schießt dem Musiker in den Hinterkopf. Dimebag ist sofort tot.
Schizophrene Persönlichkeitsstörung
Viele der Besucher halten die Ereignisse auf der Bühne zunächst für ein Showelement, doch als Sänger Lachmann panisch ins Mikrofon brüllt, jemand müsse die Polizei rufen, wird ihnen der Ernst der Lage bewusst. Auf der Bühne ringt Gale weiter mit Crew- und Security-Mitgliedern. Er sucht sein nächstes Ziel: Vinnie Abbott, doch der und die anderen Bandmitglieder werden von Mitarbeitern des Clubs in Sicherheit gebracht. Trotzdem ist sein Amoklauf noch nicht vorbei, Bandmanager Christopher Paluska wird durch einen Schuss von Gale verletzt, für Tourmanager Thompson, Securitymann Erin Hale und den Zuschauer Nathan Bray, der versucht, Abbott und Thompson durch eine Herz-Lungen-Massage wiederzubeleben, wird am Ende jede Hilfe zu spät kommen. Auch sie fallen den Schüssen des Amokläufers zum Opfer. Ebenfalls schwer verletzt wird der Drum-Roadie John “Kat” Brooks, der im Kampf mit dem Attentäter drei Schüsse abbekommt und von Gale schließlich mit dem Abzug an der Schläfe in den Schwitzkasten genommen wird.
Nur zwei Minuten sind vergangen. Um 22.18 Uhr gehen die Notrufe von Zuschauern und Mitarbeitern des Clubs bei der Polizei ein. Als Erster trifft Officer James Niggemeyer am Tatort ein. Er schafft es, sich durch den Tumult zu kämpfen und die Übersicht zu behalten, um mit seinem Gewehr den Mörder und seine Geisel ins Visier zu nehmen. Die Gefahr, dass der halbblinde Gale weiter um sich schießt oder Brooks tötet, zwingt ihn dazu, Gale mit einem gezielten Schuss außer Gefecht setzen und die Geisel dadurch zu befreien. Er trifft Gale tödlich, Brooks überlebt schwerverletzt.
Wiederum drei Minuten später findet das Massaker auf der Bühne der Alrosa Villa ein Ende. Dimebag Darrells Tod am Mittwoch, den 8. Dezember 2004, auf den Tag und die Stunde genau 24 Jahre nach dem Attentat auf John Lennon in New York, hinterlässt tiefe Wunden bei Musikfans weltweit und ist bis heute kaum zu fassen. Die Nachricht vom Amoklauf ist am nächsten Morgen weltweites Newsthema, die Bilder der Videokamera auf der Bühne sind nonstop zu sehen. Schnell sind erste Spekulationen über die Hintergründe der Tat zu lesen. Der Mörder habe sich für das Ende von Pantera rächen wollen, lautet eines der häufigsten Gerüchte. Ein Interview mit einem Musikmagazin, in dem sich Pantera-Sänger Phil Anselmo kurz zuvor ausgiebig über die Auseinandersetzungen zwischen ihm und den Abbott-Brüdern geäußert hatte, zitiert ihn mit den Worten, Darrell verdiene eine ernsthafte Abreibung. Das sei als direkte Aufforderung zum Handeln an enttäuschte Pantera-Fans zu verstehen gewesen, wird gemutmaßt.
9. Dezember 2004: provisorische Gedenkstätte für Dimebag Darrell auf dem Parkplatz der Alrosa Villa (Foto: Mike Simons/Getty Images News/Getty Images)
Anselmo bestreitet die Aussage zunächst, gibt sie dann zwar zu. Er habe sie aber erst nach dem eigentlichen Interview getätigt, und sie sei aus dem Zusammenhang gerissen, trotzdem hätten die Redakteure das Zitat später als reißerischen Aufmacher für das Magazincover verwendet. Später stellt sich heraus, dass Attentäter Gale an Wahnvorstellungen und einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung litt. Er war zuvor unehrenhaft aus dem Armeedienst entlassen worden und befand sich in ärztlicher Behandlung. In seiner Wohnung werden Notizen gefunden, die seine Wahnvorstellungen belegen, nach denen die Abbott-Brüder seine Gedanken hätten lesen können und seine Songideen für Pantera gestohlen hätten. Wie sich später herausstellt, war Gale bereits acht Monate zuvor, bei einem Konzert der Band in Cincinnati, auf die Bühne gestürmt, um den Gitarristen zur Rede zu stellen, aber schnell von der Security vor die Tür gesetzt und in Polizeigewahrsam genommen worden. Da weder Band noch Hallenbetreiber am Aufwand einer Anzeige interessiert gewesen waren, wurde er jedoch schnell wieder feigelassen.
Je mehr über die Hintergründe des Falles bekannt wird, desto deutlicher zeigt sich, dass es sich um eine tragische Verkettung unvorhersehbarer Ereignisse gehandelt haben muss, die zu den Ereignissen des Abends geführt haben, doch die Suche nach den Verantwortlichen geht weiter. Hätte Phil Anselmo sich nicht von Pantera distanziert, hätte der Gitarrist an diesem Abend nicht in diesem kleinen Club spielen müssen, wird dem Sänger vorgeworfen. Vinnie Paul Abbott wiederum verklagt den Besitzer der Alrosa Villa später wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen. Der Fall endet mit einem außergerichtlichen Vergleich. Anselmo wird bei der Beerdigung Abbotts am 14. Dezember 2004 in seiner Heimatstadt Arlington in Texas zur unerwünschten Person erklärt. Dimebags Freundin Rita Haney inszeniert das Begräbnis als Rock-Event, was nicht alle ihm nahestehenden Freunde erfreut. Sie stören sich am Staraufgebot, das ihnen keine Möglichkeit gibt, sich auf leise und persönliche Weise zu verabschieden.
Jerry Cantrell und Mike Inez von Alice In Chains spielen zusammen mit Damageplan-Sänger Pat Lachman ein Akustikset, auch Black Label Society treten live auf. Deren Gitarrist Zakk Wylde und Anthrax-Schlagzeuger Charlie Benante halten Grabreden, und ein hörbar angetrunkener Eddie van Halen lässt dem Verstorbenen seine ikonisch-gelbe Bumblebee-Gitarre mit ins Grab legen lässt, die Van-Halen-Fan Dimebag seit seiner Kindheit bewundert hat. Im Alter von 38 Jahren wird einer der größten Metal-Gitarristen des 20. Jahrhunderts in einem von Gene Simmons gestifteten “Kiss Kasket” beerdigt, einem Unikat, dass der Kiss-Bassist ursprünglich für seine eigene Beisetzung vorgesehen haben soll.
Dimebags Bruder Vinnie Paul Abbott kann und will dem Pantera-Sänger Anselmo auch ein Jahrzehnt nach dem Mord seine Worte nicht vergeben. Eine Aussöhnung der beiden, die eine Grundlage dafür wäre, ihre gemeinsame Band wiederzubeleben, gilt als unwahrscheinlich. Und so sehr sich viele Fans eine Reunion von Pantera herbeisehnen, auf die sowohl Anselmo als auch Vinnie Paul in Interviews immer wieder angesprochen werden, so unglaubwürdig wäre diese Rückkehr ohne den Mann, der mit seinem Sound und seinen Gitarrenriffs die Band und ihre Ära so unverwechselbar geprägt hat.
Am 8. April 1991 beschließt Dead, dass er sterben wird. Der 22-jährige Sänger der berüchtigten Black Metaller Mayhem, der bürgerlich Per Yngve Ohlin heißt, hat sich ein Messer gekauft. Später am Tag unterhält er sich lange mit einem Freund über Selbstmord, am Ende des Gesprächs wirkt er angeblich glücklich. Dann geht Dead zurück in das Holzhaus in einem Wald bei Oslo, in dem er mit seinen Bandkollegen Øystein “Euronymous” Aarseth und Jan Axel “Hellhammer” Blomberg wohnt, setzt sich auf sein Bett, schneidet sich die Pulsadern auf und schießt sich mit einer Schrotflinte in den Kopf.
Als Euronymous ihn später findet, ruft er die Polizei – nachdem er eine Kamera gekauft und detaillierte Fotos von Deads blutiger Leiche geschossen hat. Zudem sammelt er Schädelsplitter ein, aus denen er Amulette für Gefolgsleute machen lässt. Seinem Kumpel Hellhammer sagt Euronymous, lapidar und pathetisch zugleich, Dead sei “heimgegangen” – das Ende des Gefährten stilisiert er zur ultimativen Hingabe an jenen Black Metal, den eine neue Generation von Bands gerade zu einem Todeskult macht.
Die Vorbilder für das, was sich Anfang der 90er in Norwegen zur beängstigendsten musikalischen Subkultur überhaupt entwickelt, wirken im Nachhinein harmlos: Venoms Album-Klassiker “Black Metal” (1982), der dem Genre seinen Namen gab, klingt nach heutigen Maßstäben nur nach rock’n’rolligem Thrash- und Speed-Metal in Schwarz. Bei Mercyful Fate erklingen die okkulten Anspielungen auf Tod und Teufel noch im Kontext von konventionellem Heavy Metal, Schminke und Kostümierung stehen in der Show-Tradition von Rockern wie Alice Cooper und Kiss. Und selbst stilprägende Bands wie Hellhammer und Bathory, deren Sound, Auftreten und Ästhetik die Blaupause für den neuen norwegischen Black Metal liefern, erscheinen im Vergleich eher wie ein geschmackvoll inszenierter Flirt mit der Dunkelheit als wie todernste Teufelsanbetung.
Die “zweite Welle” des Black Metal aber will es extremer – extremer denn je. Der Death Metal, der den Tod wie nie zuvor in den Fokus der Musik gerückt hat, wächst Ende der 80er langsam aus dem Underground heraus. Die Norweger sind zornig über die vermeintliche Anbiederung an den Mainstream, Death-Metal-Bands der benachbarten Stockholm-Szene wie Entombed, Dismember oder Unleashed werden in Oslo als “Life Metal” verspottet. Ihre eigene Vision vom Tod soll radikaler, konsequenter ausfallen: Aus nordischer Mythologie, traditionellem Satanismus, Paganismus und Neoheidentum, Proto-Faschismus und einer Menge jugendlichem Testosteron und Zorn formen sie eine humorlose, misanthropische, morbide Jugendkultur, in der alle Linien auf den Tod zulaufen. Pechschwarze Kleidung, mythische Pseudonyme und das leichenblasse Corpsepaint unterstreichen die lebensverneinende Perspektive ästhetisch.
Der Sound dazu klingt, als hätten ihn die Musiker tatsächlich aus den Tiefen der Hölle heraufbeschworen: Sägende Tremolo-Gitarren und rasende Blastbeats erzeugen eine nervenzerrend-monotone Sinfonie des Grauens, der Gesang pendelt zwischen dem schrillen Kreischen und kehligen Fauchen von Dämonen, die radikale LoFi-Produktion verleiht den Songs eine bis dahin ungekannte Brutalität und Eiseskälte. Kein Zweifel: In seiner Rohheit, Empathielosigkeit und Werteverneinung ist der neue Black Metal die perfekte Provokation – martialischer Horror-Ambient als Rebellion gegen Staat, Kirche und Eltern.
Dass die Szene sich überhaupt formiert, geht vor allem auf eine Band beziehungsweise Person zurück: Mayhem und ihren Gitarristen Euronymous. Schon 1987 veröffentlicht die Band mit der EP “Deathcrush” die erste Platte, die den neuen Black-Metal-Sound präsentiert. Als extremste Band der norwegischen Metalszene gelten Mayhem schon damals, als aber 1988 der schwedische Sänger Dead und Schlagzeuger Hellhammer hinzustoßen, werden sie zur Underground-Legende. Mit Dead hält eine bedenkliche Authentizität Einzug, die das Schaffen von Mayhem weiter verdunkelt: Weggefährten beschreiben ihn als depressiv und vom Tod fasziniert, er soll verwesende Vögel unter seinem Bett platziert haben, um von Tod umgeben zu sein, außerdem erzählt er, er sei nicht menschlich und habe schon als Kind Nahtoderfahrungen erlebt. Die seltenen Liveshows von Mayhem sind bald berüchtigt: Die Band spießt Schweineköpfe auf Pfähle und wirft Innereien ins Publikum, Dead schneidet sich auf offener Bühne mit Messern und Glasscherben blutig, mit seiner vergammelten Kleidung, die er für die Auftritte extra wochenlang vergräbt, und dem Corpsepaint kommt er einer wandelnden Leiche bedrohlich nahe.
Gehirn im Gulasch
Deads Tod schockiert Euronymous offenbar nicht, stattdessen wittert er die Chance, Mayhem noch extremer zu inszenieren: Gerüchte, er selbst habe den Sänger umgebracht und es wie Selbstmord aussehen lassen, dementiert er absichtlich nicht. Auch die Legende, er hätte Teile von Deads Gehirn als Gulasch gekocht und gegessen, ist Euronymous nur recht. Außerdem verbreitet er, Dead habe sich umgebracht, weil er vom Ausverkauf der Black-Metal-Szene angewidert gewesen sei.
Über den Charakter von Euronymous gibt es – wie zu vielen Begebenheiten der norwegischen Black-Metal-Szene der frühen 90er – widersprüchliche Aussagen: Er soll opportunistisch und aufs Image bedacht gewesen sein, in Bezug auf Black Metal, Mayhem und sich selbst. Der Mensch Øystein Aarseth sei ein sehr freundlicher, warmherziger, enthusiastischer Typ gewesen. Seine satanistische Identität habe sich Euronymous eher aus Geltungsbedürfnis und Lust am Extremen zugelegt, nicht aus intensiver Überzeugung. Als Macher des Labels Deathlike Silence soll er zudem viel versprochen haben, weil er kein guter Geschäftsmann war, habe er viele Pläne aber nie verwirklichen können. “Bei ihm war viel Rauch, aber wenig Feuer”, sagte etwa Bård “Faust” Eithun, der Ex-Schlagzeuger von Emperor. Euronymous war Kommunist, Pol Pot, Ceauçescu und die DDR faszinierten ihn, trotzdem bezeichnete er sich später angeblich auch als Faschist – weil damit der größere Tabubruch einherging. Er mochte das Rampenlicht, seine Stellung als Szenepate wollte er offenbar in Ruhm und Geld ummünzen. Gleichzeitig gibt es Erzählungen, denen zufolge Euronymous eine klare Vision für die Black-Metal-Szene hatte, die er sich als kleinen elitären Kreis vorstellte, der nicht wie zuvor der Death Metal verwässert und kommerzialisiert werden sollte.
Egal mit wie viel Überzeugung oder Kalkül Euronymous Black Metal betrieb: Nur einen Monat nach Deads Suizid verwandelt er dessen Tod in die Geburtstunde der norwegischen Black-Metal-Szene. Das Ende des extremen Mayhem-Sängers hat für Wirbel gesorgt, die Aufmerksamkeit lenkt Euronymous nun in Bahnen: Im Mai 1991 eröffnet er in Oslo den Plattenladen Helvete, zu deutsch “Hölle”. Die Idee ist ein reiner Black-Metal-Laden, Euronymous verkauft aber auch andere Metal-Spielarten, in der Hoffnung, dadurch an Geld für weitere Releases auf seinem Label zu kommen. Als Geldquelle ist Helvete allerdings ein Fehlschlag, die Miete des viel zu großen, nur zum Teil genutzten Gebäudes ist zu hoch. Auch Marketing-Ideen wie eine Beleuchtung des schwarz gestrichenen, verliesartigen Plattenladens nur mit Fackeln bleiben Hirngespinste. Als Kristallisationspunkt aber leistet Helvete ganze Arbeit, Euronymous’ Traum von einer echten Szene unter seiner Führung wird wahr: Black Metaller gehen im Laden ein und aus, schnell sind Dutzende Fans und Musiker von den kruden Ideen besessen, aus einem losen Verbund von Interessierten formt sich eine kleine Bewegung. Es ist die Gründerzeit des norwegischen Black Metal, innerhalb weniger Monate schwenken Darkthrone von Death Metal auf Black Metal um, Emperor und Immortal werden gegründet, es herrscht Aufbruchstimmung.
Die weiß Euronymous zu nutzen: Wer in Helvete akzeptiert ist, gehört “dazu” – weshalb er die Legende vom “Schwarzen Zirkel” verbreitet. Der ist demnach eine Art Black-Metal-Kult und besteht nur aus den engsten Mitgliedern der Szene. Tatsächlich handelt es sich nur um einen Marketing-Stunt von Euronymous, den später vor allem die Medien dankbar verbreiten – mehr als ein loser Freundes- und Bekanntenkreis steckt nie hinter dem Begriff. 1991 wird auch der 18-jährige Kristian Vikernes aus Bergen auf Helvete aufmerksam. Schon seit einigen Jahren macht er Musik, nun nimmt er unter dem Pseudonym “Count Grishnackh” erste Demos für das Soloprojekt Burzum auf. Öfter tritt er die rund sechsstündige Fahrt nach Oslo an, wo er sich mit dem fünf Jahre älteren Euronymous anfreundet, der ihn unter seine Fittiche nimmt und später auch das erste Burzum-Album veröffentlicht.
Feuer und Flamme
Die Freundschaft der beiden und der Szenetreff Helvete, in dem Euronymous, Count Grishnackh, Emperor-Gitarrist Tomas “Samoth” Haugen und Faust zeitweise auch wohnen, wird zum Brandbeschleuniger für die kommenden Ereignisse: Im Laden potenziert sich der Black Metal, bald kippt die Lust am Extremen in einen Wettkampf, bei dem sich die Mitglieder – allen voran der väterliche Euronymous und Heißsporn Count Grishnackh – gegenseitig zu übertreffen versuchen. Als ideologischen Feind nehmen die Black Metaller das Christentum ins Fadenkreuz: Schon Mitte 1991 stammen Teile der Helvete-Dekoration aus Kirchendiebstählen, rund um Black-Metal-Konzerte kommt es zu Grabschändungen. Am 6. Juni 1992 steht dann die berühmte, 850 Jahre alte Fantoft-Stabkirche in Bergen in Flammen. Bis zum Ende des Jahres werden in Norwegen insgesamt neun Kirchen niederbrennen. Wer die Idee zu den Bränden hatte, an denen auch Faust, Samoth und Euronymous beteiligt sind, ist unklar. Aus den Andeutungen, die Count Grishnackh im Nachhinein macht, spricht aber deutlich sein Stolz, die “Flamme Odins” entfacht zu haben.
So hat es sich laut Jonas Åkerlunds “Lords Of Chaos”-Adaption zugespielt: Faust, Euronymous und Count Grishnackh brennen eine Kirche nieder (Filmstill: Landmark Media/Alamy Stock)
Noch während der Hochphase der Kirchenbrände geschieht fast unbemerkt der erste Mord der norwegischen Black-Metal-Szene: Am 21. August 1992 hat Faust gerade seine Mutter in Lillehammer besucht, als er auf dem Rückweg von Magne Andreassen angesprochen wird. Der betrunkene Homosexuelle macht ihm Avancen, Faust geht daraufhin mit ihm in den Wald des nahen Olympiaparks. Dort angekommen sticht er mit einem Klappmesser 37 Mal auf sein Opfer ein, Andreassen verblutet. Die Polizei hat zunächst keine wirkliche Spur und ermittelt deshalb erfolglos in der Schwulenszene. Ein logisches Motiv für die Tat nennt Faust nie, von Erklärungen wie Homophobie, Satanismus und Faschismus distanziert er sich heute entschieden. “Er war seit langem von Massenmördern fasziniert gewesen, und ich vermute, er wollte wissen, wie es ist, einen Menschen zu töten”, sagte Emperor-Sänger Vegard “Isahn” Teitan über seinen Ex-Bandkollegen. Schon am Tag danach erzählt Faust Euronymous von dem willkürlichen Mord. Der erntet schnell Bewunderung in der Szene, auch, weil Faust damit durchkommt. Vorerst.
Ab Januar 1993 gerät die norwegische Black-Metal-Szene plötzlich ins Scheinwerferlicht der internationalen Presse. Count Grishnackh gibt der lokalen Tageszeitung Bergens Tidende ein Interview, in dem er damit prahlt, dass er wisse, wer die Kirchen angezündet und den Mann in Lillehammer getötet habe. Aus dem Treffen macht er eine theatralische Inszenierung: Das Gespräch findet um Mitternacht statt, er droht dem Journalisten für den Fall des Verrats an die Polizei mit dem Tod und übertreibt vieles heillos. Was von Euronymous und Count Grishnackh eher als provokanter Spaß gedacht ist, explodiert medial: Bergens Tidende druckt den Artikel auf Seite 1, mit einem düsteren Foto von Count Grishnackh mit einem Messer und dem Titel “Wir wissen, wer die Kirchen angezündet hat”.
Die Fantoft-Stabskirche in Jonas Åkerlunds “Lords Of Chaos”-Adaption (Filmstill: Landmark Media/Alamy Stock)
Count Grishnackh wird verhaftet, zunächst nur, weil die Burzum-EP “Aske”, zu Deutsch “Asche”, die abgebrannte Fantoft-Kirche zeigt. Auch in dem Mord in Lillehammer und weiteren Fällen von Kirchenbrandstiftung und Diebstahl nimmt die Polizei die Ermittlungen wieder auf. Parallel erscheinen weltweit Artikel über das Phänomen Black Metal, einer der größten im März im englischen Magazin Kerrang. Darin inszenieren sich Euronymous und der mangels Beweisen wieder freigelassene Count Grishnackh in naiver und verblendeter Weise dramatisch, mit Corpsepaint, Waffen und ihrer vorgeblichen Verehrung für Faschismus und Diktatoren. Ihre Rede von Black Metallern als “satanischen Terroristen” wird das Bild der Szene dauerhaft prägen.
Das Ende des Todesprinzen
Sechs Stunden, bevor Euronymous am 10. August 1993 ermordet wird, steigen Count Grishnackh und Mayhem-Zweitgitarrist Snorre “Blackthorn” Ruch in Bergen ins Auto und machen sich auf den Weg nach Oslo. Angeblich wollen sie einen Burzum-Vertrag zurückgeben und alle Kontakte zu Euronymous abbrechen, als sie nachts um 3 Uhr an dessen Apartment ankommen. Als Count Grishnackh klingelt, lässt Euronymous ihn herein, Blackthorn wartet im Treppenhaus. Was dann in der Wohnung im vierten Stock passiert, schildert Count Grishnackh als “teilweise Notwehr” nach einem panischen Angriff von Euronymous, die meisten aber bewerten es als kaltblütigen, geplanten Mord: Nach einer verbalen Konfrontation und einem Kampf im Apartment flieht der nur in Unterwäsche bekleidete Euronymous blutüberströmt die Treppen hinunter, während Count Grishnackh von hinten auf ihn einsticht. Im ersten Stock bleibt das Opfer liegen, übersät mit gut zwei Dutzend Stichwunden und Schnittverletzungen, zwei davon am Kopf, fünf am Hals.
Über Count Grishnackhs Tatmotiv kursieren viele Spekulationen. Die Freundschaft zu Euronymous, dem er seit 1992 auch als Gastbassist bei Mayhem aushalf, wandelt sich ab dem Frühjahr 1993 immer mehr von der Rivalität zur Feindschaft. Euronymous schuldet Count Grishnackh Tantiemen für die Burzum-Veröffentlichungen. Nachdem er Helvete wegen des medialen Drucks einige Monate zuvor geschlossen hat – was Count Grishnackh für dumm und feige hält –, kann er es nicht zurückzahlen. Angeblich ist Count Grishnackh zudem neidisch auf den größeren Einfluss, den Euronymous in der Szene ausübt. Andere spekulieren, er habe den Mord in Lillehammer übertreffen wollen, wieder andere sagen, es habe Streit um eine Frau gegeben. Count Grishnackh selbst erzählt die Legende, dass Euronymous ihn habe kidnappen und für einen Snuff-Film zu Tode foltern wollen. Das erscheint aber anhand des Geständnisses seiner Komplizen nicht schlüssig, demzufolge es einen ausgefeilten Plan gab, dass ein dritter Beteiligter in Bergen durch Ausleihen eines Filmes und Abheben von Geld mit Count Grishnackhs Bankkarte für ein Alibi sorgen sollte.
Nach dem Mord an Euronymous löst sich alles auf: Faust wird wegen des Mordes in Lillehammer verhaftet, andere Black Metaller wie Samoth kommen wegen der Kirchenbrände vor Gericht. Count Grishnackh wird wegen Mordes, Brandstiftung, Diebstahl und des Besitzes von Sprengstoff zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft verurteilt. Im Moment der Urteilsverkündung lächelt er diabolisch, auch sonst inszeniert er sich – wie einst Charles Manson – vor Gericht als das personifizierte Böse, distanziert sich von der Black-Metal-Community und propagiert unter seinem neuen Künstlernamen Varg schon hier ein rassistisch-nationalistisches Neoheidentum, das er bis heute prägt. Die norwegische Black-Metal-Szene erholt sich mit den Jahren von den Ereignissen, selbst belastete Bands wie Mayhem oder Emperor sind noch heute musikalisch aktiv und als Szene-Ikonen geachtet. Die pubertären Exzesse der frühen 90er, die im Nachhinein wie brutal eskalierte Mutproben von Mittelschülern wirken, haben sie hinter sich gelassen. Es ist besser so.
Zu nennen sind hier etwa der Bluesmusiker Leadbelly, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Traditionals der “Mörderballaden” Aufsehen erregt. Oder der Lounge-Sänger Bobby Darin, dem mit seiner Brecht/Weill-Adaption von “Mackie Messer” zu “Mack The Knife” einer der großen Swing-Hits der 60er gelingt. Auch Songwriter wie Johnny Cash, Bob Dylan und Tom Waits landen später immer wieder bei den großen Klassikern der Murder Ballads. Wie etwa beim Song “Two Sisters”, dessen erste bekannte Version aus dem Jahr 1656 stammt, “The Long Black Veil” oder “Cocaine Blues”, die durch Cashs Folsom-Prison-Aufnahmen zu Folk-Klassikern werden, oder “Where Did You Sleep Last Night?”, eines der Stücke von besagtem Leadbelly, der von Nirvana im Zuge ihrer Unplugged-Show bei einer jungen Generation Gehör findet.
Doch auch weniger naheliegende Musiker haben sich der Kunstform Murder Ballad gewidmet. So zählt etwa “Nebraska”, der Titelsong des gleichnamigen Albums von Bruce Springsteen, zu den jüngeren Glanztaten des Genres, und auch “Hey Joe” in der Interpretation von Jimi Hendrix gehört dazu. Apropos Cover: In manchen Fällen werden die Songs selbst zur Legende, weil zahlreiche Musiker mit ihnen Erfolge feiern. Der bekannteste ist “Stagger Lee”, ein Song über einen Kutscher und Zuhälter, der Ende des 19. Jahrhunderts seinen Freund William “Billy” Lyons tötet und erst durch einen Song von Mississippi John Hurt aus dem Jahr 1928 zur bekannten Mördergröße wird. In den folgenden Jahrzehnten feiern viele Künstler mit dem Song Erfolge, darunter Dylan, Woodie Guthrie, Duke Ellington, Fats Domino, The Grateful Dead und später auch Nick Cave auf seinem Album “Murder Ballads” von 1996.
Darauf findet sich auch ein Cover des Dylan-Klassikers “Death Is Not The End”, der mit einer der wichtigsten Traditionen des Genres bricht, indem er keinen speziellen Mordfall erzählt, sondern den Tod ganzheitlich betrachtet. Er sei, so sagt Cave später, als eine Art sarkastisches Fazit zum Thema zu verstehen, das er sonst ganz im Sinne der traditionellen lyrischen Vorgaben der Mörderballaden gehalten habe. Als da wären: meist reale Morde aus Liebe oder Leidenschaft, stets eher prosaisch als lyrisch erzählt, entweder aus der Sicht des Mörders oder Opfers – und damit nur selten aus einer objektiven Perspektive. Das buchstäbliche Ende vom Lied: Fast immer erhält der Mörder seine (mehr oder weniger) gerechte Strafe. So morbide also das Thema dieser besonderen Balladen ist, verfügen die meisten dennoch über eine Moral: Das Morden lohnt sich nicht.
Für Cave indes hat es sich gelohnt: “Murder Ballads” steigt in fast allen westlichen Ländern in die Top-20 der Charts, in vielen sogar in die Top-5 oder gleich bis ganz an die Spitze. Dabei geholfen hat das Video zur Auskopplung “Where The Wild Roses Grow”, Caves Duett mit dem Popsternchen Kylie Minogue, die Mitte der 90er alles andere als angesagt ist und Cave damit den Start in ihre zweite Karriere verdankt. Es besteht kein Zweifel, dass Minogue im Video die schönste Leiche der Musikgeschichte abgibt. Cave selbst gefällt der Erfolg der Single, denn “ich konnte damit die Gelegenheitshörer aufs Glatteis führen. Wer sich mein Album nur wegen der Single zugelegt hat, dürfte sich anschließend gefragt haben: ‘Warum zur Hölle habe ich mir diese Platte gekauft?’, denn der Kylie-Song ist wenig repräsentativ.” Vielleicht wäre sie noch erfolgreicher gewesen, hätte Cave damals seine Nominierung zum Künstler des Jahres bei den MTV-Awards nicht abgelehnt, weil er “nicht bis auf alle Zeiten bekannt sein wollte als der Typ mit dieser Mordplatte.”
Mörderisch gut – Die Playlist
An dieser Stelle versammeln wir nicht nur Klassiker aus dem Songbook der Murder Ballads, sondern auch unsere Lieblingslieder, die das Morden, Töten und Erlegen zum Thema haben.
Es gibt nichts Hässlicheres als zwei Junkies, die sich streiten. Selbst Alex Cox weiß das, der britische Regisseur, dessen fehlgeleiteter Klamauk “Sid & Nancy” 1986 in die Kinos kommt. Der Film zeichnet das letzte Jahr im Leben von Sid Vicious und Nancy Spungen als kultige Punkromanze zwischen Anarchie und Drogenkitsch nach, in der bis zum Schluss kaum Schlimmeres passiert als ein paar Flüche, ein paar Blackouts und ein unangenehmes Familientreffen. Kein Wunder, dass Punkjournalisten den Film später immer wieder zum Klassiker wählen und seriöse Journalisten warnen, Cox verharmlose zu viele Aspekte der Geschichte.
Eine Szene sitzt in jedem Fall: Vicious und Spungen hängen zugedrogt auf dem Bett ihres Hotelzimmers im New Yorker Chelsea Hotel und fangen an, sich aufs Erbärmlichste anzuschreien. Spungen will gemeinsamen Selbstmord begehen, Vicious will das nicht, was folgt ist ein ekelhafter Streit, bei dem sich das Paar mit verzerrten Gesichtern beleidigt und schlägt und Spungen in ein Messer läuft, das Vicious in ihre Richtung hält. Anschließend gehen beide ins Bett, dann wacht Spungen wieder auf, schleppt sich mitsamt ihrer Bauchwunde ins Bad und stirbt dort, während Vicious weiterschläft, ohne etwas zu merken. Der Legende nach haben Gary Oldman und Chloe Webb in den beiden Hauptrollen den Streit auf Grundlagen alter Interviews improvisiert und sich erst zum Erstechen wieder an ein Drehbuch gehalten; vielleicht hätten sie es im ganzen Film weglassen sollen. An Tatsachen hält sich das bunte Drama, das Cox mit “Love Kills” untertitelt hat, sowieso nur lose. Die Liebe hat Nancy Spungen bestimmt nicht umgebracht. Nur ist bis heute nicht bewiesen, wer es sonst war.
Im Film fängt die Beziehung von Sid und Nancy wildromantisch an, als sich der Punkrocker und das Groupie kennenlernen, und wer nicht zu genau hinschaut, mag tatsächlich an ein tragisches Punkmärchen glauben. Nancy Spungen ist noch ein Teenager, als sie von Philadelphia nach London zieht und dort Teil der Punkszene wird. Die Uni hat sie herausgeworfen, weil sie einem Undercover-Polizisten Gras abkaufen wollte und in ihrem Zimmer Diebesgut versteckt haben soll. Seitdem hat Spungen, die als Kind eine Klasse übersprungen hat, keine Lust mehr aufs Bildungssystem und auf die USA. In London verdient sie sich ihr Geld als Sexarbeiterin und hängt mit den frühen Punkbands ab.
So trifft sie auch Vicious alias John Ritchie alias John Beverley, der gerade dabei ist, als Bassist der Sex Pistols berühmt zu werden. Sein Ruhm gründet vor allem darauf, dass er aufregend aussieht, nicht Bass spielen kann und alles kaputthaut, das ihm in die Quere kommt. Die Punkkids verlieben sich, nehmen zusammen immer mehr immer härtere Drogen und beschließen nach dem Zerfall der Sex Pistols, sich in New York gemeinsam um Vicious’ Solokarriere zu kümmern. Bevor die in die Gänge kommt, liegt Spungen tot im Badezimmer, und Vicious, der zunächst als Hauptmordverdächtiger festgenommen wurde, stirbt vier Monate später nach einer Party zur Feier seiner vorläufigen Freilassung auf Kaution an einer Überdosis Heroin.
Zwei verlorene Kinder
Die eigentliche Tragik fängt schon viel früher an. Weder Spungen noch Vicious hatten eine glückliche Kindheit. Deborah Spungen wird später das Buch “And I Don’t Want To Live This Life” über das Leben und den Tod ihrer Tochter veröffentlichen und Nancy darin als extrem schwieriges Kind beschreiben, das schon als Baby immer nur schrie, später eine Babysitterin umbringen wollte und schließlich als schizophren diagnostiziert wurde. Die Mutter schiebt die Probleme ihrer Tochter darauf, dass die bei der Geburt fast von der Nabelschnur erwürgt worden wäre, auch wenn Ärzte keine Folgeschäden feststellen können. Die Spungens schicken ihre Tochter auf ein Internat, das auf Kinder mit psychischen Krankheiten spezialisiert ist; Nancy haut ab. Später wird sie gern als frühreifes Monster dargestellt, das Vicious die Jungfräulichkeit und die Karriere nimmt und ihm dafür den ersten Schuss setzt. Wahrscheinlich ist aber, dass die beiden verlorenen Kids mehr aneinander finden. Denn auch wenn es gut möglich ist, dass Vicious erst mit Spungen zusammen Heroin probiert, kamen seine ersten Drogen von der eigenen Mutter.
Anne Beverley brachte ihren Sohn alleine durch, nachdem ihr erster Mann sich aus dem Staub gemacht hatte und der zweite gestorben war. Die Kleinfamilie zog quer durch England und lebte zwischendurch auf Ibiza, wo Beverley sich als Dealerin durchschlug. Den Erzählungen nach durfte sich der junge John schon als Jugendlicher an ihrem Vorrat bedienen; nur das Heroin behielt sie zunächst für sich. Als ihr Sohn später angeklagt ist, die eigene Freundin umgebracht zu haben, soll Beverley diejenige sein, die ihm die tödliche Dosis gibt, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Ob sie das vor ihrem eigenen Tod tatsächlich gestanden hat, ist umstritten. In jedem Fall treffen 1977 in London nicht zwei gelangweilte Teenies mit Hummeln im Hintern aufeinander, sondern zwei Menschen, bei denen in jeweils nicht mal 20 Jahren schon viel zu viel schiefgelaufen ist. Für Spungen und Vicious ist die junge Punkszene Londons kein Ort, um Mittelklasse-Ennui abzulassen, sondern der einzige Ort, an dem sie sich einigermaßen richtig fühlen können. Und als der Punk sie nicht mehr will, bleiben ihnen nur sie selbst.
»Wir hatten einen Todespakt, und ich halte jetzt meinen Teil davon ein.«
Sid Vicious
Über die Rolle der Sex Pistols im Punk ist viel gestritten worden. Manche sehen in der Band, die nur zweieinhalb Jahre bestand und in dieser Zeit nur ein Album veröffentlichte, Ikonen des Nihilismus, Hedonismus oder der gekonnten Königinnenlästerung. Andere verlachen sie bis heute als auf Krawall getrimmte Castingband. Manager Malcolm McLaren kommt Mitte der 70er Jahre auf die Idee, ein paar junge Musiker unter seine Fittiche zu nehmen, die ihre Freizeit im SEX verbringen, dem Klamotten- und Plattenladen, den McLaren zusammen mit seiner Freundin Vivienne Westwood betreibt. Nachdem McLaren mehrere Mitglieder ausgetauscht und sich für den Bandnamen Sex Pistols entschieden hat, spielt die Band Ende 1975 ihr erstes Konzert.
1977 wirft McLaren Bassist Glen Matlock aus der Band und ersetzt ihn durch Sid Vicious, der sich der Legende nach als größter Fan hervorgetan hat. Angeblich hatte Westwood ihn schon als ursprünglichen Sänger vorgeschlagen und McLaren mit Johnny Rotten alias John Lydon nur versehentlich den falschen John engagiert. Bass spielen kann Vicious jedenfalls nicht, das muss Gitarrist Steve Jones fürs Album “Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols” übernehmen, aber dafür sieht McLaren in ihm den perfekt vermarktbaren Punk, der immer kaputter auftritt, bis Rotten es schließlich leid ist. Anfang 1978 lösen sich die Sex Pistols auf. Zu diesem Zeitpunkt kann sich Vicious auf der Bühne kaum noch auf den Beinen halten, die Band hat einen Hass aufeinander entwickelt und bald auch keine Lust mehr auf McLaren, von dem sie sich abgezogen fühlt. Von Nancy Spungen will eh keiner mehr etwas wissen.
Romeo und Julia
Anders als Vicious, der als den Drogen und der Gesellschaft zum Opfer gefallener netter Junge bemitleidet wird, sieht die Punkszene Spungen schnell in der Täterrolle. Wie schon Yoko Ono vor ihr und Courtney Love danach wird Spungen zum Inbegriff der verrückten Hexe, die Karrieren, Bands und Leben zerstört, um selbst ein bisschen Ruhm abzubekommen. Zeitgenossen beschreiben sie als Biest, als anstrengend, als unerträglich, als “Nauseating Nancy”, die ihren Freund mit sich in den Abgrund reißt. Schon vor ihrem Tod soll sich das Paar regelmäßig öffentliche Szenen liefern, bei denen beide handgreiflich werden. Tatsächlich ist vor allem Vicious für Gewaltausbrüche bekannt, die weit über das Kaputthauen von Gegenständen hinausgehen.
Noch bevor er bei den Sex Pistols einsteigt, wirft er bei einem Konzert von The Damned aus Rache ein Glas Richtung Bühne. Er verfehlt die Band, die ihn seiner Meinung nach absichtlich nicht als Sänger haben wollte, und trifft stattdessen ein Mädchen am Auge, das daraufhin halb erblindet. Auf der letzten Sex-Pistols-Tour durch die USA legt er sich mit einem Fan im Publikum an und zieht ihm seinen Bass über den Schädel. Chrissie Hynde (Pretenders) beschreibt, wie er bei Konzerten eine Metallkette aus der Jacke zieht und sie über die Tanzfläche kreisen lässt, ohne Rücksicht auf die tanzenden Besucher. Den Musikjournalisten Nick Kent verprügelt er mit einem Fahrradschloss. Kurz vor seinem eigenen Tod greift er Patti Smiths Bruder an und wird dafür festgenommen. Und auch Nancy Spungen soll Freunden gegenüber zugegeben haben, dass ihre blauen Flecken nicht wie behauptet vom Zusammentreffen mit einer Straßengang stammen, sondern von Auseinandersetzungen mit ihrem Freund.
Tragisches Beziehungsende: Sid und Nancy verlassen das Chelsea Hotel getrennt – er in Handschellen, sie später im Leichensack (Foto: Keystone/Hulton Archive/Getty Images)
Dass Spungen und Vicious beide auf Messer, Handschellen und laute Wortgefechte gestanden haben sollen, hilft ihr nicht weiter. Wer selbst ständig so rumpöbelt, kinky Spielchen und Drogen mag und dann auch noch als schizophren diagnostiziert wurde, der ist schließlich nicht mehr zu helfen. Dabei bringt Spungen keine noch so dysfunktionale Liebe um, sondern ein Messer, das sie Vicious erst kurz vorher geschenkt hat. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass er sie damit tötet. Andere Spekulationen sehen einen diebischen Drogendealer als Täter oder denken sich wie Cox eine Szene zusammen, in der Spungen mehr oder weniger selbst ins Messer fällt. Angeblich hatte das Paar einen Selbstmordpakt vereinbart, den Vicious bricht und damit den Streit auslöst. Darauf deutet zumindest eine Abschiedsnotiz hin, den seine Mutter nach seinem Tod bei ihm gefunden haben will: “Wir hatten einen Todespakt, und ich halte jetzt meinen Teil davon ein.”
Was dran ist, wird wohl nie endgültig zu klären sein, weil Vicious stirbt, bevor es zur Verhandlung kommt. Seine Asche wird Berichten nach über dem Grab von Nancy Spungen verstreut. Bis heute gilt die Geschichte der beiden als eine Art Romeo-und-Julia-Punkmärchen. Das passt vom Ende her nur, wenn man wirklich an einen merkwürdigen Doppelselbstmord glaubt, aber der Rest kommt fast hin: Zwei viel zu junge Leute aus fürchterlichen Elternhäusern, die sich vor allem ins eigene Drama verlieben, weil sie sich gegenseitig eigentlich nur ganz kurz kennen. Es gibt noch eine Notiz von Sid Vicious, auf der er ein paar Monate vor ihrem Tod aufzählt, was Nancy so großartig macht. Von den zwölf Punkten, die er auflistet, haben neun damit zu tun, wie sexy er sie findet, zweimal nennt er sie schlau und einmal eine clevere Abzockerin. Mehr fällt ihm zu seiner großen Punkliebe mit 20 noch nicht ein.