Am 8. April 1991 beschließt Dead, dass er sterben wird. Der 22-jährige Sänger der berüchtigten Black Metaller Mayhem, der bürgerlich Per Yngve Ohlin heißt, hat sich ein Messer gekauft. Später am Tag unterhält er sich lange mit einem Freund über Selbstmord, am Ende des Gesprächs wirkt er angeblich glücklich. Dann geht Dead zurück in das Holzhaus in einem Wald bei Oslo, in dem er mit seinen Bandkollegen Øystein “Euronymous” Aarseth und Jan Axel “Hellhammer” Blomberg wohnt, setzt sich auf sein Bett, schneidet sich die Pulsadern auf und schießt sich mit einer Schrotflinte in den Kopf.
Als Euronymous ihn später findet, ruft er die Polizei – nachdem er eine Kamera gekauft und detaillierte Fotos von Deads blutiger Leiche geschossen hat. Zudem sammelt er Schädelsplitter ein, aus denen er Amulette für Gefolgsleute machen lässt. Seinem Kumpel Hellhammer sagt Euronymous, lapidar und pathetisch zugleich, Dead sei “heimgegangen” – das Ende des Gefährten stilisiert er zur ultimativen Hingabe an jenen Black Metal, den eine neue Generation von Bands gerade zu einem Todeskult macht.
Die Vorbilder für das, was sich Anfang der 90er in Norwegen zur beängstigendsten musikalischen Subkultur überhaupt entwickelt, wirken im Nachhinein harmlos: Venoms Album-Klassiker “Black Metal” (1982), der dem Genre seinen Namen gab, klingt nach heutigen Maßstäben nur nach rock’n’rolligem Thrash- und Speed-Metal in Schwarz. Bei Mercyful Fate erklingen die okkulten Anspielungen auf Tod und Teufel noch im Kontext von konventionellem Heavy Metal, Schminke und Kostümierung stehen in der Show-Tradition von Rockern wie Alice Cooper und Kiss. Und selbst stilprägende Bands wie Hellhammer und Bathory, deren Sound, Auftreten und Ästhetik die Blaupause für den neuen norwegischen Black Metal liefern, erscheinen im Vergleich eher wie ein geschmackvoll inszenierter Flirt mit der Dunkelheit als wie todernste Teufelsanbetung.
Die “zweite Welle” des Black Metal aber will es extremer – extremer denn je. Der Death Metal, der den Tod wie nie zuvor in den Fokus der Musik gerückt hat, wächst Ende der 80er langsam aus dem Underground heraus. Die Norweger sind zornig über die vermeintliche Anbiederung an den Mainstream, Death-Metal-Bands der benachbarten Stockholm-Szene wie Entombed, Dismember oder Unleashed werden in Oslo als “Life Metal” verspottet. Ihre eigene Vision vom Tod soll radikaler, konsequenter ausfallen: Aus nordischer Mythologie, traditionellem Satanismus, Paganismus und Neoheidentum, Proto-Faschismus und einer Menge jugendlichem Testosteron und Zorn formen sie eine humorlose, misanthropische, morbide Jugendkultur, in der alle Linien auf den Tod zulaufen. Pechschwarze Kleidung, mythische Pseudonyme und das leichenblasse Corpsepaint unterstreichen die lebensverneinende Perspektive ästhetisch.
Der Sound dazu klingt, als hätten ihn die Musiker tatsächlich aus den Tiefen der Hölle heraufbeschworen: Sägende Tremolo-Gitarren und rasende Blastbeats erzeugen eine nervenzerrend-monotone Sinfonie des Grauens, der Gesang pendelt zwischen dem schrillen Kreischen und kehligen Fauchen von Dämonen, die radikale LoFi-Produktion verleiht den Songs eine bis dahin ungekannte Brutalität und Eiseskälte. Kein Zweifel: In seiner Rohheit, Empathielosigkeit und Werteverneinung ist der neue Black Metal die perfekte Provokation – martialischer Horror-Ambient als Rebellion gegen Staat, Kirche und Eltern.
Dass die Szene sich überhaupt formiert, geht vor allem auf eine Band beziehungsweise Person zurück: Mayhem und ihren Gitarristen Euronymous. Schon 1987 veröffentlicht die Band mit der EP “Deathcrush” die erste Platte, die den neuen Black-Metal-Sound präsentiert. Als extremste Band der norwegischen Metalszene gelten Mayhem schon damals, als aber 1988 der schwedische Sänger Dead und Schlagzeuger Hellhammer hinzustoßen, werden sie zur Underground-Legende. Mit Dead hält eine bedenkliche Authentizität Einzug, die das Schaffen von Mayhem weiter verdunkelt: Weggefährten beschreiben ihn als depressiv und vom Tod fasziniert, er soll verwesende Vögel unter seinem Bett platziert haben, um von Tod umgeben zu sein, außerdem erzählt er, er sei nicht menschlich und habe schon als Kind Nahtoderfahrungen erlebt. Die seltenen Liveshows von Mayhem sind bald berüchtigt: Die Band spießt Schweineköpfe auf Pfähle und wirft Innereien ins Publikum, Dead schneidet sich auf offener Bühne mit Messern und Glasscherben blutig, mit seiner vergammelten Kleidung, die er für die Auftritte extra wochenlang vergräbt, und dem Corpsepaint kommt er einer wandelnden Leiche bedrohlich nahe.
Gehirn im Gulasch
Deads Tod schockiert Euronymous offenbar nicht, stattdessen wittert er die Chance, Mayhem noch extremer zu inszenieren: Gerüchte, er selbst habe den Sänger umgebracht und es wie Selbstmord aussehen lassen, dementiert er absichtlich nicht. Auch die Legende, er hätte Teile von Deads Gehirn als Gulasch gekocht und gegessen, ist Euronymous nur recht. Außerdem verbreitet er, Dead habe sich umgebracht, weil er vom Ausverkauf der Black-Metal-Szene angewidert gewesen sei.
Über den Charakter von Euronymous gibt es – wie zu vielen Begebenheiten der norwegischen Black-Metal-Szene der frühen 90er – widersprüchliche Aussagen: Er soll opportunistisch und aufs Image bedacht gewesen sein, in Bezug auf Black Metal, Mayhem und sich selbst. Der Mensch Øystein Aarseth sei ein sehr freundlicher, warmherziger, enthusiastischer Typ gewesen. Seine satanistische Identität habe sich Euronymous eher aus Geltungsbedürfnis und Lust am Extremen zugelegt, nicht aus intensiver Überzeugung. Als Macher des Labels Deathlike Silence soll er zudem viel versprochen haben, weil er kein guter Geschäftsmann war, habe er viele Pläne aber nie verwirklichen können. “Bei ihm war viel Rauch, aber wenig Feuer”, sagte etwa Bård “Faust” Eithun, der Ex-Schlagzeuger von Emperor. Euronymous war Kommunist, Pol Pot, Ceauçescu und die DDR faszinierten ihn, trotzdem bezeichnete er sich später angeblich auch als Faschist – weil damit der größere Tabubruch einherging. Er mochte das Rampenlicht, seine Stellung als Szenepate wollte er offenbar in Ruhm und Geld ummünzen. Gleichzeitig gibt es Erzählungen, denen zufolge Euronymous eine klare Vision für die Black-Metal-Szene hatte, die er sich als kleinen elitären Kreis vorstellte, der nicht wie zuvor der Death Metal verwässert und kommerzialisiert werden sollte.
Egal mit wie viel Überzeugung oder Kalkül Euronymous Black Metal betrieb: Nur einen Monat nach Deads Suizid verwandelt er dessen Tod in die Geburtstunde der norwegischen Black-Metal-Szene. Das Ende des extremen Mayhem-Sängers hat für Wirbel gesorgt, die Aufmerksamkeit lenkt Euronymous nun in Bahnen: Im Mai 1991 eröffnet er in Oslo den Plattenladen Helvete, zu deutsch “Hölle”. Die Idee ist ein reiner Black-Metal-Laden, Euronymous verkauft aber auch andere Metal-Spielarten, in der Hoffnung, dadurch an Geld für weitere Releases auf seinem Label zu kommen. Als Geldquelle ist Helvete allerdings ein Fehlschlag, die Miete des viel zu großen, nur zum Teil genutzten Gebäudes ist zu hoch. Auch Marketing-Ideen wie eine Beleuchtung des schwarz gestrichenen, verliesartigen Plattenladens nur mit Fackeln bleiben Hirngespinste. Als Kristallisationspunkt aber leistet Helvete ganze Arbeit, Euronymous’ Traum von einer echten Szene unter seiner Führung wird wahr: Black Metaller gehen im Laden ein und aus, schnell sind Dutzende Fans und Musiker von den kruden Ideen besessen, aus einem losen Verbund von Interessierten formt sich eine kleine Bewegung. Es ist die Gründerzeit des norwegischen Black Metal, innerhalb weniger Monate schwenken Darkthrone von Death Metal auf Black Metal um, Emperor und Immortal werden gegründet, es herrscht Aufbruchstimmung.
Die weiß Euronymous zu nutzen: Wer in Helvete akzeptiert ist, gehört “dazu” – weshalb er die Legende vom “Schwarzen Zirkel” verbreitet. Der ist demnach eine Art Black-Metal-Kult und besteht nur aus den engsten Mitgliedern der Szene. Tatsächlich handelt es sich nur um einen Marketing-Stunt von Euronymous, den später vor allem die Medien dankbar verbreiten – mehr als ein loser Freundes- und Bekanntenkreis steckt nie hinter dem Begriff. 1991 wird auch der 18-jährige Kristian Vikernes aus Bergen auf Helvete aufmerksam. Schon seit einigen Jahren macht er Musik, nun nimmt er unter dem Pseudonym “Count Grishnackh” erste Demos für das Soloprojekt Burzum auf. Öfter tritt er die rund sechsstündige Fahrt nach Oslo an, wo er sich mit dem fünf Jahre älteren Euronymous anfreundet, der ihn unter seine Fittiche nimmt und später auch das erste Burzum-Album veröffentlicht.
Feuer und Flamme
Die Freundschaft der beiden und der Szenetreff Helvete, in dem Euronymous, Count Grishnackh, Emperor-Gitarrist Tomas “Samoth” Haugen und Faust zeitweise auch wohnen, wird zum Brandbeschleuniger für die kommenden Ereignisse: Im Laden potenziert sich der Black Metal, bald kippt die Lust am Extremen in einen Wettkampf, bei dem sich die Mitglieder – allen voran der väterliche Euronymous und Heißsporn Count Grishnackh – gegenseitig zu übertreffen versuchen. Als ideologischen Feind nehmen die Black Metaller das Christentum ins Fadenkreuz: Schon Mitte 1991 stammen Teile der Helvete-Dekoration aus Kirchendiebstählen, rund um Black-Metal-Konzerte kommt es zu Grabschändungen. Am 6. Juni 1992 steht dann die berühmte, 850 Jahre alte Fantoft-Stabkirche in Bergen in Flammen. Bis zum Ende des Jahres werden in Norwegen insgesamt neun Kirchen niederbrennen. Wer die Idee zu den Bränden hatte, an denen auch Faust, Samoth und Euronymous beteiligt sind, ist unklar. Aus den Andeutungen, die Count Grishnackh im Nachhinein macht, spricht aber deutlich sein Stolz, die “Flamme Odins” entfacht zu haben.
Noch während der Hochphase der Kirchenbrände geschieht fast unbemerkt der erste Mord der norwegischen Black-Metal-Szene: Am 21. August 1992 hat Faust gerade seine Mutter in Lillehammer besucht, als er auf dem Rückweg von Magne Andreassen angesprochen wird. Der betrunkene Homosexuelle macht ihm Avancen, Faust geht daraufhin mit ihm in den Wald des nahen Olympiaparks. Dort angekommen sticht er mit einem Klappmesser 37 Mal auf sein Opfer ein, Andreassen verblutet. Die Polizei hat zunächst keine wirkliche Spur und ermittelt deshalb erfolglos in der Schwulenszene. Ein logisches Motiv für die Tat nennt Faust nie, von Erklärungen wie Homophobie, Satanismus und Faschismus distanziert er sich heute entschieden. “Er war seit langem von Massenmördern fasziniert gewesen, und ich vermute, er wollte wissen, wie es ist, einen Menschen zu töten”, sagte Emperor-Sänger Vegard “Isahn” Teitan über seinen Ex-Bandkollegen. Schon am Tag danach erzählt Faust Euronymous von dem willkürlichen Mord. Der erntet schnell Bewunderung in der Szene, auch, weil Faust damit durchkommt. Vorerst.
Ab Januar 1993 gerät die norwegische Black-Metal-Szene plötzlich ins Scheinwerferlicht der internationalen Presse. Count Grishnackh gibt der lokalen Tageszeitung Bergens Tidende ein Interview, in dem er damit prahlt, dass er wisse, wer die Kirchen angezündet und den Mann in Lillehammer getötet habe. Aus dem Treffen macht er eine theatralische Inszenierung: Das Gespräch findet um Mitternacht statt, er droht dem Journalisten für den Fall des Verrats an die Polizei mit dem Tod und übertreibt vieles heillos. Was von Euronymous und Count Grishnackh eher als provokanter Spaß gedacht ist, explodiert medial: Bergens Tidende druckt den Artikel auf Seite 1, mit einem düsteren Foto von Count Grishnackh mit einem Messer und dem Titel “Wir wissen, wer die Kirchen angezündet hat”.
Count Grishnackh wird verhaftet, zunächst nur, weil die Burzum-EP “Aske”, zu Deutsch “Asche”, die abgebrannte Fantoft-Kirche zeigt. Auch in dem Mord in Lillehammer und weiteren Fällen von Kirchenbrandstiftung und Diebstahl nimmt die Polizei die Ermittlungen wieder auf. Parallel erscheinen weltweit Artikel über das Phänomen Black Metal, einer der größten im März im englischen Magazin Kerrang. Darin inszenieren sich Euronymous und der mangels Beweisen wieder freigelassene Count Grishnackh in naiver und verblendeter Weise dramatisch, mit Corpsepaint, Waffen und ihrer vorgeblichen Verehrung für Faschismus und Diktatoren. Ihre Rede von Black Metallern als “satanischen Terroristen” wird das Bild der Szene dauerhaft prägen.
Das Ende des Todesprinzen
Sechs Stunden, bevor Euronymous am 10. August 1993 ermordet wird, steigen Count Grishnackh und Mayhem-Zweitgitarrist Snorre “Blackthorn” Ruch in Bergen ins Auto und machen sich auf den Weg nach Oslo. Angeblich wollen sie einen Burzum-Vertrag zurückgeben und alle Kontakte zu Euronymous abbrechen, als sie nachts um 3 Uhr an dessen Apartment ankommen. Als Count Grishnackh klingelt, lässt Euronymous ihn herein, Blackthorn wartet im Treppenhaus. Was dann in der Wohnung im vierten Stock passiert, schildert Count Grishnackh als “teilweise Notwehr” nach einem panischen Angriff von Euronymous, die meisten aber bewerten es als kaltblütigen, geplanten Mord: Nach einer verbalen Konfrontation und einem Kampf im Apartment flieht der nur in Unterwäsche bekleidete Euronymous blutüberströmt die Treppen hinunter, während Count Grishnackh von hinten auf ihn einsticht. Im ersten Stock bleibt das Opfer liegen, übersät mit gut zwei Dutzend Stichwunden und Schnittverletzungen, zwei davon am Kopf, fünf am Hals.
Über Count Grishnackhs Tatmotiv kursieren viele Spekulationen. Die Freundschaft zu Euronymous, dem er seit 1992 auch als Gastbassist bei Mayhem aushalf, wandelt sich ab dem Frühjahr 1993 immer mehr von der Rivalität zur Feindschaft. Euronymous schuldet Count Grishnackh Tantiemen für die Burzum-Veröffentlichungen. Nachdem er Helvete wegen des medialen Drucks einige Monate zuvor geschlossen hat – was Count Grishnackh für dumm und feige hält –, kann er es nicht zurückzahlen. Angeblich ist Count Grishnackh zudem neidisch auf den größeren Einfluss, den Euronymous in der Szene ausübt. Andere spekulieren, er habe den Mord in Lillehammer übertreffen wollen, wieder andere sagen, es habe Streit um eine Frau gegeben. Count Grishnackh selbst erzählt die Legende, dass Euronymous ihn habe kidnappen und für einen Snuff-Film zu Tode foltern wollen. Das erscheint aber anhand des Geständnisses seiner Komplizen nicht schlüssig, demzufolge es einen ausgefeilten Plan gab, dass ein dritter Beteiligter in Bergen durch Ausleihen eines Filmes und Abheben von Geld mit Count Grishnackhs Bankkarte für ein Alibi sorgen sollte.
Nach dem Mord an Euronymous löst sich alles auf: Faust wird wegen des Mordes in Lillehammer verhaftet, andere Black Metaller wie Samoth kommen wegen der Kirchenbrände vor Gericht. Count Grishnackh wird wegen Mordes, Brandstiftung, Diebstahl und des Besitzes von Sprengstoff zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft verurteilt. Im Moment der Urteilsverkündung lächelt er diabolisch, auch sonst inszeniert er sich – wie einst Charles Manson – vor Gericht als das personifizierte Böse, distanziert sich von der Black-Metal-Community und propagiert unter seinem neuen Künstlernamen Varg schon hier ein rassistisch-nationalistisches Neoheidentum, das er bis heute prägt. Die norwegische Black-Metal-Szene erholt sich mit den Jahren von den Ereignissen, selbst belastete Bands wie Mayhem oder Emperor sind noch heute musikalisch aktiv und als Szene-Ikonen geachtet. Die pubertären Exzesse der frühen 90er, die im Nachhinein wie brutal eskalierte Mutproben von Mittelschülern wirken, haben sie hinter sich gelassen. Es ist besser so.
Dossier: Mord und Totschlag im Rock
Murder Ballads
Inhalt
- Dimebag Darrells Ermordung – Der letzte erste Song
- Die Black-Metal-Morde – Tod und Teufel
- Zusatzindiz 1: Mord als musikalisches Motiv – Killer Songs & Murder Tracks
- Sid & Nancy – Bis eine stirbt
- Zusatzindiz 2: Auftragsmorde und fahrlässige Tötungen – Erwischt
- John Lennons Ermordung – Vom Fan zum Fanatiker
- Musik als Sündenbock – Songs don't kill people
- Mordgerüchte um Kurt Cobain – All Apologies
- Der Wahn des Charles Manson – Apocalypse Now
- Zusatzindiz 3: Morde abseits des Rock – Blues-Gangster und Gangsta-Rapper