Der Song zum neuen Video ist allerdings schon etwas älter: “Reef Blower” stammt vom Album “What Consumes Me”, das Hippie Trim bereits im September 2022 veröffentlicht hatten.
Der Clip ist ein Zusammenschnitt aus Live-Footage, gestaltet mit Rauschen, Überbelichtungen und bunten, wellenförmigen Störbildern, die den Charme von Musikvideos und Artworks der Jahrtausendwende mit sich bringen. Sowohl das Publikum als auch Hippe Trim selbst genießen darauf das ausverkaufte Konzert im Kölner Sonic Ballroom sichtlich: Sänger Malte Unnasch lässt sich bei der mitgefilmten Show etwa von Harmonien im Klargesang dahintragen, ehe er der Menge wieder mit Hardcore-Shouts einheizt.
“Wir haben ursprünglich geplant, das ganze Set zu filmen. Allerdings haben mehrere technische Pannen und widrige Umstände dafür gesorgt, dass es schlussendlich nur ein Musikvideo wurde”, kommentiert Unnasch das Video. “‘Reef Blower’ fängt die rauschende und ausgelassene Stimmung des Abends ein, weshalb wir am Ende doch glücklich auf dieses kleine Stück Erinnerung schauen dürfen.”
Thomas Bangalter, der Daft Punk zusammen mit Guy-Manuel de Homem-Christo gegründet hatte, nannte in einem Interview mit der BBC, seinen Wunsch, sich vom technologielastigen Sound distanzieren wollen, als Grund für die Auflösung 2021. Nach Veröffentlichung des bildgewaltigen “Epilogue”-Videos vor zwei Jahren bestätigte lediglich Daft Punks langjährige Publizistin Kathryn Frazier die Trennung der stilprägenden Band, nannte allerdings keine Gründe.
“Daft Punk war ein Projekt, das die Grenze zwischen Realität und Fiktion mit diesen Roboterfiguren verwischte”, sagte Bangalter. “Es war ein sehr wichtiger Faktor für mich und Guy-Manuel, die Geschichte nicht zu verderben, während sie sich abspielte.” Er fuhr fort: “Ich liebe Technologie als Werkzeug, [aber] ich habe irgendwie Angst vor der Art der Beziehung zwischen den Maschinen und uns. Jetzt, wo die Geschichte zu Ende ist, fand ich es interessant, einen Teil des kreativen Prozesses zu enthüllen, der sehr stark auf Menschen basiert und nicht auf Algorithmen irgendeiner Art.”
Bangalter zufolge ist der Grund für seine neue Distanz zur elektronischen Musik auch der zunehmende Einfluss künstlicher Intelligenzen: “Meine Besorgnis über den Aufstieg der künstlichen Intelligenz geht über ihren Einsatz in der Musikproduktion hinaus”, sagte er und erklärte, dass für ihn als Künstler Menschlichkeit immer im Vordergrund stand. “Bei Daft Punk haben wir versucht, diese Maschinen einzusetzen, um etwas extrem Bewegendes auszudrücken, das eine Maschine nicht fühlen kann, ein Mensch aber schon. Wir waren immer auf der Seite der Menschlichkeit und nicht auf der Seite der Technologie … So sehr ich diese Figur auch liebe, das Letzte, was ich in der Welt, in der wir im Jahr 2023 leben, sein möchte, ist ein Roboter.”
Bangalter kündigte zuletzt sein Soloalbum “Mythologies” an, das ursprünglich als Ballettmusik konzipiert war und im vergangenen Juli im Grand Théâtre de Bordeaux aufgeführt wurde. Es erscheint am kommenden Freitag.
Bangalter und de Homem-Christo hatten sich Ende der 80er Jahre noch zu Schulzeiten kennengelernt und die Indieband Darlin’ gegründet (Gitarrist Laurent Brancowitz spielt heute bei den Indiepoppern Phoenix). Nach deren Ende gründeten sie 1993 Daft Punk, bereits ihr Debütalbum “Homework” mit den Hit-Singles “Around The World” und “Da Funk” etablierte das Duo als Heilsbringer einer neuen Dance Music. Mit dem Nachfolger “Discovery” (2001) und dem ausgekoppelten “One More Time” wurden beiden endgültig zu Superstars der elektronischen Musik.
Wie gewohnt geizen Motorpsycho mit Details zu ihrem neuen Album. Was man allerdings weiß: Die neue Platte trägt den Titel “Yay!” und erscheint am 16. Juni über Stickman sowie über das neue bandeigene Label Nordenfjeldske Grammofonselskab.
Das Artwork von “Yay!” erinnert mit seinem Schriftzug “Motorpsycho? Yay!” an das von Pavements drittem Album “Wowee Zowee” (“Pavement? Wowee Zowee!”), ansonsten lassen die gezeigten Akustikgitarren Assoziationen zu, dass es sich bei dem Nachfolger von “Ancient Astronauts” (2022) zumindest um ein semi-akustisches Album handeln könnte.
Weitere Hinweise liefern die auf Instagram markierten Personen: Die einzigen beiden Konstanten bei Motorpsycho, Bent Sæther und Hans Magnus Ryan, scheinen wie schon auf “Kingdom Of Oblivion” (2021) von Drummer Tomas Järmyr und Reine Fiske (u.a. Dungen) unterstützt zu werden. Auch Lars Frederik Swahn als möglicher Produzent oder weiteres Mitglied wurde von den norwegischen Progrockern getaggt.
“Yay!” kann erst ab dem 5. Mai vorbestellt werden. Dann soll auch die erste Single “Patterns” erscheinen, deren Facebook-Teaser den akustischen Eindruck bestätigt.
Die US-Garage-Punk-Band Be Your Own Pet liefert mit ihrem neuen Song die erste Veröffentlichung seit dem 2008 erschienen Album “Get Awkwardt”: “Hand Grenade” heißt der neue Track und ist bereits digital via Third Man erschienen. Dabei handelt es sich um eines ihrer persönlichsten Stücke, wie Frontfrau Jemina Pearl betont: “Im Verlauf der Arbeit hat sich ‘Hand Grenade’ zu einem Spiegel dessen entwickelt, was ich als meinen eigenen Leidensweg bezeichnen würde. Ein Prozess, der mir nicht nur meine Stärke zurückgegeben hat, sondern mir auch gezeigt hat, dass nur ich mich definieren kann und nicht andere Menschen.”
Und ein Musikvideo zum neuen Track haben Be Your Own Pet ebenfalls im Gepäck: Der Clip visualisiert Pearls rotzige Kampfansage an all diejenigen, die sie früher mit verbalem Schmutz beworfen haben und erinnert in seiner Energie dabei nicht nur an Kim Gordon von Sonic Youth, sondern liefert auch ekstatische Tanzeinlagen und wuchtige Riffs im Nebel.
2006 veröffentlichte die Band aus Nashville, Tennessee ihr Debütalbum, zwei Jahre später folgte dann nach dem zweiten Album die Trennung. Untätig waren die Bandmitglieder aber auch während ihrer fünfzehnjährigen Pause nicht: Während Gitarrist Jonas Stein und Drummer John Eatherly die gemeinsame Band Turbo Fruits gegründeten, war Bassist Nathan Vasquez bei Deluxin und Sängerin Jemina Pearl gleich bei mehreren Projekten – unter anderem Cheap Time und Rare Form – aktiv.
Im Mai kommt die Band auch für einige Konzerte nach Europa. Konzerttermine im deutschsprachigen Raum sowie ein neues Album sind bisher aber noch nicht angekündigt.
The Cure und Frontmann Robert Smith etablieren sich immer mehr als Galionsfigur im Kampf gegen überteuerte Konzerttickets. Auf Twitter erklärte Smith, man habe rund 7.000 Tickets für die anstehende US-Tour der Band auf nicht-verifizierten Wiederverkaufsplattformen ausfindig gemacht und anschließend storniert.
‘IHBT’ #? “Approx 7k tickets across approx 2200 orders have been cancelled. These are tickets acquired with fake accounts / listed on secondary resale sites. TM have identified specific locations from secondary postings” #ShowsOfALostWorld2023
Damit setzen The Cure eine Ankündigung von letzter Woche um, in der sie Fans und Interessierte dringend davon abrieten, auf Webseiten von Drittanbietern Tickets zu erwerben. Laut Smith hätten diese Anbieter die Regularien zur Weitergabe von Tickets umgegangen und den Zugang zu Ticketmaster-Fake-Accounts überteuert weiterverkauft und so suggeriert, dass Fans sich die Tickets legal “übertragen können”. Die angebotenen Tickets wurden storniert und sollen erneut in den regulären und kontrollierten Verkauf gehen. Die angefallenen Gebühren werden den mutmaßlichen Betrügern bzw. Händlern nicht erstattet und an Amnesty International gespendet.
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BEWARE ANOTHER SCALPER SCAM: OFFERING TO SELL/SEND ACCOUNT LOGIN DETAILS TO GET AROUND TM TRANSFER LIMITATIONS… ANY/ALL TICKETS OBTAINED IN THIS WAY WILL BE CANCELED, AND ORIGINAL FEES PAID ON THOSE TICKETS WILL NOT BE REFUNDED… #ShowsOfALostWorld23
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…ORIGINAL FEES PAID ON THOSE TICKETS WILL BE DONATED TO @amnesty AMNESTY INTERNATIONAL, AND THE TICKETS THEMSELVES WILL BE RESOLD TO FANS #ShowsOfALostWorld23
In den vergangenen Wochen hatte sich Robert Smith immer wieder zur Preisentwicklung auf dem Konzertmarkt geäußert und war außerdem dagegen vorgegangen. So versicherte er vor dem Vorverkaufsstart der Tour durch Nordamerika “keine Platin-Tickets” sowie “keine Tickets mit dynamischer Preisgestaltung” angeboten werden. Bei dem neuen Modell richten sich die Preise nach dem Angebot und der Nachfrage und können so den eigentlich Verkaufspreis um ein Vielfaches übersteigen, ohne dass die Käufer:innen einen Mehrwert haben bzw. bekommen. Diese Tickets sind dann meist etwa als “Platin-Ticket” deklariert. Das US-Justizministerium ermittelt in diesem Zuge bereits wegen möglichem Machtmissbrauchs.
Im Laufe des Vorverkaufs waren dann Berichte von Fans bekannt geworden, laut denen Ticketmaster beim Verkauf außerordentlich hohe Gebühren verlangt. Auch dagegen wehrten sich The Cure und Smith und hatten erneut Erfolg: Den Fans wurden pro Ticket 10 Dollar erstattet und ein zusätzlicher 5-Dollar-Gutschein gutgeschrieben.
The Cure spielen nach einer ausgedehnten Tour durch Europa im vergangenen Herbst/Winter von Mitte Mai bis Anfang Juli zahlreiche Konzerte in den USA und Kanada. Ob anschließend erneute Shows in Europa anstehen, ist bisher nicht bekannt. Auch für das neue Studioalbum, das vermeintlich “Songs Of A Lost World” heißen soll und laut Smith bereits Ende 2021 fertiggestellt wurde, gibt es noch keinen Veröffentlichungstermin. Ihr weiterhin aktuelles Album “4:13 Dream” stammt aus dem Oktober 2008. Zuletzt widmete sich Smith allerdings Remix-Version von Noel Gallaghers bereits veröffentlichter Single “Pretty Boy”.
Punk ist nicht tot, er spielt Matineeshows in Elektrofachmärkten. Zumindest dann, wenn man ihn so auffasst wie The Jaded, die nach ihrem kürzlich absolvierten Auftritt in der Musikabteilung von Saturn jetzt die Vorband für Shonen Knife geben. Die Outfits schreien 70er-Punk und Motorrad-Rock, einige der Mitglieder waren damals mindestens schon in der weiterführenden Schule, und musikalisch klingt das auch genau so, in typischer Dad-Rock-Mucker-Manier. Heißt: Sauber gespielt, klassisch irgendwo zwischen The Jam und The Clash arrangiert, mit viel Altmänner-Attitüde aber ohne Charme. Dass der Bassist die Setlist nicht lesen kann, weil er nicht auf seine Sonnenbrille verzichten will, die Band sich generell eher spinnefeind zu sein scheint und man allen Ernstes eine Zugabe spielt, sind nur drei der vielen Aspekte, die den Auftritt unfreiwillig komisch machen.
Die Schwestern Naoko und Atsuko Yamano von Shonen Knife sprühen vor Spielfreude (Foto: Sebastian Madej)
Entsprechend wird das Set von einigen Besucher:innen einfach an der mitten im Raum platzierten, ovalen Bar oder im Nebenraum ausgesessen. Die Stehkraft will sich das im Schnitt doch recht alte Publikum vermutlich für Shonen Knife aufheben, die dank Corona keine 40-, sondern 42-Jahre-Jubiläumstour absolvieren. Seit Anfang der 90er spielt das Pop-Punk-Trio aus Osaka regelmäßig in Hamburg, vor vier Jahren zuletzt ebenfalls im Monkeys. Das Trio wirkt trotz des fortgeschrittenen Alters der Schwestern Naoko und Atsuko Yamano an Gitarre und Bass vom ersten Ton an frisch und motiviert, die selbstgenähten 60er-Jahre-Kleider und tragenden Gesangsharmonien weisen auf die starken Girl-Group-Einflüsse im Ramones-Punk der Band hin, und bis auf das zu leise Mikro von Naoko ist der Sound perfekt eingepegelt. Auch die Energie ist eine gänzlich andere als bei The Jaded. Naoko und Atsuko schwingen synchronisiert die Haare, grinsen konstant breit und gniedeln sich Rücken an Rücken durch ihre fluffigen, harmoniegesättigten, punkigen Pop-Songs, während Schlagzeugerin Risa Kawano nicht nur einige Jahrzehnte jünger als die Yamano-Schwestern ist, sondern mit ihrer Energie und ihrem Headbanging auch gut in einer Speed-Metal-Band aufgehoben wäre.
Shonen-Knife-Schlagzeugerin Risa Kawano sorgt für Action (Foto: Sebastian Madej)
Zwar hat die Band gerade ein neues Album veröffentlich, davon gibt es heute aber nur zwei Songs zu hören. Denn die Jubiläumstour ist purer Fan-Service und die Setlist ein Best-of ihrer 40-jährigen Karriere, da bleibt nicht viel Zeit für große thematische Blöcke. Altersgemäß reagiert das Publikum größtenteils mit Wippen und Kopfnicken, aber die Wertschätzung dafür, dass Shonen Knife trotz ihrer überschaubaren Popularität immer wieder nach Hamburg kommen, ist deutlich zu spüren. Da verzeiht man der Band sogar, dass sie ihre neue Platte, wie für die meisten japanischen Acts üblich, nicht auf Vinyl dabei haben. „Ich weiß, ihr mögt Vinyl“, sagt Naoko Yamano. „Aber wir haben CDs dabei. Die sind schön kompakt. Außerdem könnt ihr sie als Spiegel benutzen und damit fiese Vögel verscheuchen.“ Klingt komisch, aber passt zu einer Band, die am liebsten über Eiscreme, Bonbons und süße Tiere singt. Irgendwie ist das deutlich mehr Punk als jede Nietenlederjacke und Sonnenbrille auf der Bühne.
Dabei hatten Limp Bizkit erst Ende Oktober 2021 – und damit ganze 10 Jahre nach dem Vorgänger “Gold Cobra” – ihr aktuelles Album “Still Sucks” veröffentlicht. Doch offenbar plant die Band bereits die Aufnahmen eines neuen Albums für das kommende Jahr. In einem Interview mit dem US-Magazin Guitar World erklärt Gitarrist Wes Borland: “[…] Wir wollen mit den Aufnahmen beginnen – wir sprechen über ein Reiseziel, um nächstes Jahr ein gemeinsames Album aufzunehmen. Wir schauen uns Orte an, also neue Musik? Ja!”
In dem Interview äußert sich Borland auch über das Gefühl innerhalb der Band, knapp 30 Jahre nach der Gründung: ” […] Ich dachte, es würde nur ein paar Jahre dauern und ich würde in der Kunstschule enden und sagen: “Ich war mal in einer Band! Aber 27 Jahre später machen wir immer noch weiter, was verrückt ist. Ich bin seit mehr als der Hälfte meines Lebens bei Limp Bizkit. Wir verstehen uns jetzt besser als je zuvor. Niemand sieht irgendetwas als selbstverständlich an. Wir sind alle einfach nur glücklich, hier zu sein und haben eine Menge Spaß.”
Dieser Spaß kann aktuell noch auf der andauernden Europatour der Band bewundert werden. Zudem sind Limp Bizkit im Sommer bei den Zwillingsfestivals Rock am Ring und Rock im Park zu Gast. Tickets gibt es an allen bekannten Vorverkaufsstellen.
Erst vor kurzem hatte die Prog-Band The Mars Volta den Song “Blank Condolences” veröffentlicht, nun folgt die Fortsetzung: “Palm Full of Crux” ist die zweite Singleauskopplung aus dem am 21. April erscheinenden Akustikalbum “Que Dios Te Maldiga Mi Corazon”. Die neue Single wird zwar weniger von den für die Band typischen Latinklängen getragen als noch “Blank Condolences”, fängt die melancholische Stimmung dafür aber genauso präzise ein: So wird die besungene Schwere des Verlusts ebenso über die durchdringende Stimme von Cedric Bixler-Zavala, als auch über die Ruhe der Akustikgitarren und die zu Anfang im Hintergrund eingesetzten Geräusche des Waldes transportiert.
Im Juni kommen The Mars Volta für zwei Konzerte nach Deutschland: Neben einem exklusiven Konzert in Berlin, werden sie als Special Guest der Red Hot Chili Peppers auf dem Maimarktgelände in Mannheim auftreten. Die beiden Konzerte sind dabei auch Teil ihres Bühnencomebacks: Vor 11 Jahren stand das Duo das letzte Mal gemeinsam auf der Bühne, 2013 folgte dann die vorläufige Trennung. Tickets gibt es an allen bekannten Vorverkaufsstellen.
Live: The Mars Volta
24.06.2023 Berlin – Verti Music Hall
26.06.2023 Mannheim – Maimarktgelände Parkplatz (Support für die Red Hot Chili Peppers)
Anfang der 60er sind die USA ein Land im Aufbruch. Während sich die frühen Jugendbewegungen zunehmend politisieren und ein Jahrzehnt des Friedens und der Liebe heraufbeschwören, werden auch die gesellschaftlichen Verwerfungen in den USA immer deutlicher sichtbar. Wenn man sich von dem zuweilen hitzigen Zeitgeist dieser Ära fernhalten will, ist das kalifornische Downey nicht der schlechteste Ort. Hier, in ausreichendem Sicherheitsabstand zur gewaltigen Metropole Los Angeles, leben Menschen, die vor allem ihre Ruhe haben wollen. Mitunter auch Ruhe vor der eigenen Vergangenheit. Für Cynthia und Virgil Hetfield ist die Geburt ihres ersten gemeinsamem Kindes James Alan am 3. August 1963 somit auch ein Symbol der Hoffnung. Cynthia, eine kreative und von Musicals und Opern begeisterte Grafikdesignerin, bringt aus erster Ehe zwei ältere Söhne mit. Anfang der 60er ist eine gescheiterte Ehe vor allem für Frauen ein gesellschaftliches Stigma. Cynthia setzt große Hoffnungen in ihre neue Liebe – einen äußerlich besonnenen und im Glauben gefestigten Mann, der einige Jahre älter ist als sie.
Virgil ist das Gegenteil des “California way of life”. Der Malocher aus Nebraska betreibt ein kleines Transportunternehmen und ist weitaus mehr als nur gefestigt im christlichen Glauben. Er ist Anhänger der Christlichen Wissenschaft, einer überwiegend US-amerikanischen Glaubensgemeinschaft, in deren Zentrum die Heilung durch göttliche Kräfte und tendenziell medizin- und wissenschaftsfeindliche Ideengebäude stehen. Die sonntäglichen Verkündigungen des Evangeliums durch den Vater im Hause Hetfield gehören zu den harmloseren Ausprägungen seines Glaubens. Die Verführungen der Wohlstandsgesellschaft sind nur eines von vielen Feindbildern, die die Hetfields vor sich hertragen. Gefahr lauert überall, auch vor der eigenen Haustür. Der kleine James wird von seiner Mutter täglich zur Grundschule gebracht und auch an der Schwelle wieder abgeholt, um ihn vor den “schlechten Einflüssen” durch seine Altersgenossen zu schützen.
Der Glauben der Hetfields verbietet James auch die Teilnahme am sogenannten Gesundheitsunterricht – einer Art Biologiestunde, in dem der menschliche Körper, Ernährungswissenschaft und medizinische Grundlagen im Mittelpunkt stehen. Die Christliche Wissenschaft sieht den Körper vor allem als ein Gefäß, in dem sich die Seele befindet. Je nach Lesart der Lehre ist der Körper aber auch nicht viel mehr als das – was James Hetfields Mutter später zum Verhängnis werden wird. James muss während der Schulstunden vor der Tür bleiben und macht so früh die Erfahrung, als Außenseiter dazustehen. Manche unterstellen ihm, ein Unruhestifter zu sein, der ständig aus dem Unterricht fliegt. In Wirklichkeit ist James zutiefst verunsichert, extrem schüchtern und das Gegenteil eines Troublemakers. Noch.
Cynthia Hetfield bleibt die Schwermut ihres Sohnes nicht verborgen. Sie ignoriert zwar die wahre Ursache dieser Entwicklung, hält aber einen frühen Kontakt mit Musik für eine gute Idee. James wird zu wöchentlichem Klavierunterricht verdonnert, den er nur mit einigem Widerwillen besucht. Der Schokoladenkeks am Ende des freudlosen Unterrichts lässt ihn immerhin drei Jahre durchhalten. Die Rechts-Links-Koordination beider Hände und einige Gesangslinien zu den einfachen Klavierstücken legen früh ein Fundament für Hetfields meisterhafte Fähigkeiten als Rhythmusgitarrist und Sänger. Er äußert sich später sogar dankbar über die verordneten Klavierstunden.
Die Riffs von Toni Iommi und der Gesang von Ozzy Osbourne vertonen die Gemütslage, die James zwar empfindet, aber niemandem zeigen darf. Zum ersten Mal ist seine Seele von etwas berührt.
Obwohl James mit dem Klavier eine Hassliebe verbindet, ist sein allgemeines Interesse an Musik geweckt. Seine Halbbrüder David und Christopher haben ein kleines Schlagzeug und eine Akustikgitarre zu Hause, die James nicht lange verborgen bleiben. Noch verführerischer als die zwei Instrumente ist aber die Plattensammlung seines Bruders. Der Stiefvater hat kaum Zugriff auf die Geisteswelt und den Musikgeschmack der älteren Geschwister. Das soll im Interesse aller auch so bleiben – entsprechend verboten ist James jeglicher Kontakt mit den gar nicht heiligen Platten unter dem Dach der Hetfields.
Das verbotene Terrain zieht James magisch an. Allein das Betrachten der Plattenhülle von Black Sabbaths selbstbetiteltem Debütalbum ist im Jahr 1970 ein Erweckungserlebnis für den knapp Siebenjährigen. Allein zuhause legt James die Platte auf – und wird sofort magisch von dem verstörenden und finsteren Sound einiger britischer Bengel aus der Arbeiterklasse eingesogen. Die heruntergestimmten Gitarrenriffs von Tony Iommi und der unheilvoll klagende Gesang von Ozzy Osbourne vertonen exakt die Gemütslage, die James zwar empfindet, aber niemandem zeigen darf. Zum ersten Mal ist die Seele im Körper von James Hetfield tatsächlich von etwas berührt.
Auch die anderen langhaarigen Freaks aus der Plattensammlung des großen Halbbruders holen James in Windeseile ab: Led Zeppelin, Amboy Dukes und der Musik gewordene Grusel von Alice Cooper lassen bei ihm früh das Verständnis für eine Musikgattung entstehen, die er einige Jahre später maßgeblich mitprägen wird. Das eskapistische Universum aus dem Kopfhörer erobert einen Platz in Hetfields Geisteswelt. Fast bleibt ihm dabei verborgen, dass es zwischen seinen Eltern überhaupt nicht mehr gut läuft.
Geradezu beiläufig lässt Virgil Hetfield an einem Tag wie vielen anderen 1976 die Familie sitzen. In einem häuslichen Klima der Beschwichtigung, des Aussitzens von Konflikten und einer tiefen inneren Verunsicherung vergehen Monate, bis Cynthia Hetfield ihrem Sohn steckt, dass der Vater diesmal nicht von einer seiner langen Truck-Fahrten zurückkommen wird. Der 13-Jährige ist völlig überfordert von der Erwartung seiner Mutter, nun der Herr im Haus zu sein. Der Rückzug in die Welt der Posterhelden und Rockstars nimmt seinen Verlauf und hat dabei jede Menge Idole zu bieten. Zwei davon sind aus Deutschland: bei Matthias Jabs, dem Gitarristen der Scorpions, sieht Hetfield vermutlich zum ersten Mal die weiße Gibson Explorer, die bis heute untrennbar mit ihm verwachsen ist. Damals träumt sich Hetfield noch auf die größten Bühnen der Welt und schaut sich die Posen und Grimassen dafür bei Rudolf Schenker ab.
Hetfields Halbbrüder sind längst aus dem Haus, haben die Instrumente aber zum Glück dagelassen. Alleingelassen mit stiller Verzweiflung, aber immerhin mit zwei Rock’n’Roll-tauglichen Instrumenten, verbringt er gerne Zeit am Schlagzeug als auch der Gitarre. Später gibt Hetfield zu Protokoll, die Gitarre dabei oft behandelt zu haben wie ein Schlagzeug – perkussiv und mit harten Anschlägen. Das Fundament für seine immens schnelle Downstroke-Technik wird wohl in dieser Zeit gelegt.
Auch in der Highschool-Zeit bleibt James ein Außenseiter. Die Sport-, Disco- und Feier-Cliquen an der Downey High School widern ihn an. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Trotz seines Faibles für Football zeigt er dem Trainer der Schulmannschaft den Stinkefinger, als der ihn vor die Wahl stellt: einen Platz im Team und Aussicht auf Ruhm nur mit einem Kurzhaarschnitt. James bleibt lieber Außenseiter. Er verbringt seine Zeit mit der Schulband Obsession und einer Rush-Tribute-Band namens Syrinx. Das Jahr 1980 ist eine Zäsur für Hetfield. Die Familie erlebt einen längeren wirtschaftlichen Notstand und Cynthia Hetfield setzt irgendetwas zu, das über die täglichen Herausforderungen einer Alleinerziehenden hinausgeht. Ob es weiterhin der Glauben an die Heilkraft Gottes ist oder schlichte Ignoranz – niemand kommt auf die Idee, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Als James’ Halbbrüder endlich den Ernst der Lage erkennen, ist es viel zu spät. Cynthia Hetfield hat Krebs im Endstadium und stirbt am 19. Februar 1980 mit nur 49 Jahren.
Für den 16-jährigen James wird seine Lebenssituation noch dramatischer. Er kann bei seinem Halbbruder Dave unterkommen und muss die Schule wechseln. Auch an der Brea Olinda High School ist Musik der einzige Anker im Leben des Teenagers – seine neue Schulband Phantom Lord tritt zwar nie live auf, wird sich später aber als Songtitel auf Metallicas erstem Demotape und dem Debütalbum “Kill ‘Em All” verewigen. Inspiriert vom frischen Wind, den ein neuer Gitarrenheld namens Eddie Van Halen über die USA weht, entdecken Hetfield und seine Musikerkollegen die Liveclub-Szene von West Hollywood. Die Atmosphäre im Whiskey A Go Go, dem Starwood oder Troubadour ist wie eine Nachwehe des Mitt-70er-Glamrock: schrill, hedonistisch, schamlos und genderfluide. Für Bands der Stunde wie White Sister, Satyr oder Dante Fox – einem Vorläufer der späteren Hardrocker Great White – haben Hetfield und seine Kumpel nur Verachtung übrig. In der festen Überzeugung, es besser zu können als die exaltierten L.A.-Bands, feilt Hetfield weiter an seinem großen Lebenstraum. Den schreibt er 1981 genauso ins Jahrbuch der High School: “Musik machen. Reich werden.”
Von Reichtum ist Hetfield zu dieser Zeit meilenweit entfernt. Sein früher musikalischer Wegbegleiter Ron McGovney bedient bei Phantom Lord mehr schlecht als recht den Bass. Er kann nur leidlich umsetzen, was Hetfield ihm in ein paar Stunden Musikunterricht am Viersaiter beibringt. Immerhin stellen McGovneys Eltern den beiden ein abrissreifes Haus zur Verfügung. Bis es dem Bau einer neuen Schnellstraße weichen muss, können die beiden in ihrer ersten eigenen Bude wohnen. Mietfrei.
Auch die Umbenennung der Band von Phantom Lord in Leather Charm bringt nicht mehr zustande als radikale Pläne für die Rock’n’Roll-Weltherrschaft – Träume von halbwüchsigen Testosteron-Teenagern, die immer wieder Keimzelle für tatsächliche Musikkarrieren sind. Es läuft nicht gerade gut bei der Band. Drummer Hugh Tanner verabschiedet sich früh wieder, will Hetfield aber nicht seinen Traum von der großen Musikkarriere versauen. Er bringt ihm eine Ausgabe des Magazins Recycler mit, in dem ein junger Rockfan namens Lars Ulrich eine Kontaktanzeige geschaltet hat. Tatsächlich nimmt er Hetfield sogar den Erstkontakt ab, ruft an und bringt die beiden zusammen. Die erste Probe ist ein Desaster. Der frisch aus Dänemark eingewanderte Teenager kann kaum einen Viervierteltakt halten, und ständig bricht sein Kit zusammen. Ulrich ist davon unbeirrt, auch wenn Hetfield nach der ersten Probe nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll. Der 17-jährige Ulrich strotzt dagegen vor Selbstbewusstsein und weiß ganz genau, was er will. Eine erfolgreiche Heavy-Metal-Band.
72 Jahreszeiten im Leben von Lars Ulrich
Die Kindheit von Lars Ulrich verläuft in vielerlei Hinsicht völlig entgegengesetzt zu der von James Hetfield. Ulrich wird am 26. Dezember 1963 im ostdänischen Gentofte in ein Land geboren, das aufstrebend, liberal und optimistisch in die Zukunft blickt. Dänemark hat sich in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg zu einer relativ wohlhabenden Sozialdemokratie entwickelt, die ihre nationalen Vorbilder auf Händen trägt: Helden wie den Tennisprofi Torben Ulrich. Wie schon sein Vater zuvor gehört Ulrich zu den weltbesten Sportlern seiner Generation. Schon lange bevor Tennis ab den späten 70ern zu einem Sport für den Mainstream wird, sonnt sich Torben Ulrich im Erfolg zahlloser Turniersiege. Das Reisen zu internationalen Wettbewerben in aller Welt ist von Geburt an Teil von Lars Ulrichs Leben. Wer ihm nachsagt, mit dem Silberlöffel im Mund geboren zu sein, liegt dabei nicht ganz falsch. Wochenlange Trips zu den vier großen Grand-Slam-Turnieren in Australien, zu den French Open in Paris, nach Wimbledon und zu den US Open im New Yorker Stadtteil Queens bestimmen alljährlich den Terminkalender der Familie Ulrich.
Ein sehr junger Lars Ulrich 1966 in Wimbledon, an der Seite seines Tennisprofi-Vaters Torben (Foto: Evening Standard/Hulton Archive/Getty Images)
In den Zeiten dazwischen lebt – oder besser: zelebriert Torben Ulrich im beschaulichen Kopenhagen ein kulturbeflissenes Leben, in dem neben einer Begeisterung für Literatur, Poesie, Film und politische Diskurse vor allem Musik im Mittelpunkt steht. Die kulturellen Interessen von Torben Ulrich machen ihn zu einem gefragten Gast-Autoren für das dänische Feuilleton, zum Radiomoderator und Herausgeber eines Literaturmagazins. Große Begeisterung für den Jazz, die Anfang der 60er Jahre wohl freigeistigste und virtuoseste Musik ihrer Zeit, prägt den musikalischen Alltag der Ulrichs. Ulrich Seniors Liberalität und immense kulturelle Neugier führen die Metallica-Biografen Paul Brannigan und Ian Winwood darauf zurück, dass die Familie wegen Torbens jüdischer Mutter Ulla nach einem Fluchtversuch aus Dänemark 1943 kurzzeitig von den Nazis interniert wird. Die Familie hat immenses Glück. Lars Ulrichs Großeltern und der damals 15-jährige Torben bleibt die Deportation in die Vernichtungslager erspart.
Bildung, Neugier, Multikulturalität und Wertschätzung für alle freien Künste sind die beste Rache an den Nazis. Die Wohnung der Ulrichs ist internationaler Treffpunkt von Kosmopoliten, in dem Jazz-Musiker wie Don Cherry, Dexter Gordon und Stan Getz ganz selbstverständlich den späten Abend verbringen, wenn sie in der Stadt gespielt haben. Der kleine Lars wächst in diesem progressiv denkenden Klima auf, das weltoffener nicht sein könnte. Später erinnert sich Lars Ulrich an eine Zeit, in der das gemeinsame Spielen mit Kindern – darunter mit Don Cherrys Stieftochter Neneh – eher eine Ausnahme ist. Meistens verbringt Lars die Zeit mit Erwachsenen, deren experimentellen Gedanken und Ideen, ihrem Wortschatz und Duktus. Beste Voraussetzungen dafür, im späteren Leben zu allen Themen immer eine Menge sagen zu können.
Lars begleitet 1969 seinen Vater nach Wimbledon. Während Torben Ulrich auf dem Rasen Aufschläge trainiert, entdeckt Lars in der Zeitung ein Bild mit einigen langhaarigen Rockmusikern. Die wecken sein Interesse so sehr, dass die Familie mit Freunden auf dringenden Wunsch des Filiusses in den Hyde Park pilgert. Dort spielen die Rolling Stones am 5. Juli ein legendäres Open Air. Noch besser in Erinnerung bleibt ihm das Konzert von Deep Purple im Dezember 1973 in Kopenhagen. Die Wall Of Sound, Deep Purples Lichtshow und auch das übrige Setting einer großen Konzertarena hinterlassen den neunjährigen Lars wie in einem Rausch. Lars will, inspiriert vom Saiten-Derwisch Richie Blackmore, Gitarre lernen und bekommt auch sechs Monate den Unterricht dafür bezahlt. Allerdings zeigt er wenig Hingabe für das Notenlesen und Üben von Tonleitern. Die Gitarre liegt bald in der Ecke, stattdessen posiert Ulrich mit einem vertrauten Sportgerät vor dem Spiegel. Wenn Lars sich zu Status Quo und Deep Purple mit dem Tennisschläger als Gitarre in der Hand auf große Bühnen träumt, ist gut zusammengefasst, wie das Thema Leistungssport in seine Agenda passt: gar nicht.
Mit 13 Jahren trotzt Lars seiner Oma ein Schlagzeug ab. Dieser deutlich physischere Weg in die Musik von Deep Purple liegt Lars mehr und nicht ohne Grund hat sein erstes Schlagzeug die gleiche Konfiguration wie das von Ian Paice zu dieser Zeit. Lars spielt Deep Purples “Made In Japan” im Kinderzimmer rauf und runter, und außer dem kreiselnden Plattenteller gibt es keine äußere Instanz, mit der Lars sich beim Muszieren auseinandersetzen müsste. Eine Band? Noch weit weg.
Seinen ersten musikalischen Mentor findet er trotzdem früh. Das Bristol Music Center in der Innenstadt von Kopenhagen ist der angesagteste Plattenladen in Dänemark und erstreckt sich – wie viele Vinyl-Tempel damals – über ganze drei Etagen. Den härtesten Stoff gibt es im Keller. Ein Typ namens Ken Anthony, von Eingeweihten “Heavy Metal Ken” genannt, kennt die aufregenden neuen Strömungen im Underground des Hard Rock und Heavy Metal aus dem Effeff. Das Untergeschoss wird für Lars Ulrich zur Kirche, die frühen Bands der New Wave Of British Heavy Metal zur Religion. Mindestens einmal pro Woche holt Ulrich sich von Anthony die Namen der neuesten Bands aus England ab. So verfolgt er hautnah, wie Bands wie Budgie, Diamond Head, Raven und die frühen Iron Maiden dem prototypischen Heavy Metal einen Platz zwischen Punk und den klassischen Rockbands der 60er und 70er erkämpfen.
Kämpfe muss der 16-Jährige in dieser Zeit auch mit seinen Eltern austragen. Die Ulrichs sehen, ganz nach dem Vorbild von Vater und Großvater, auch für Lars eine Karriere im Profitennis vor. Dafür haben sie schon Schritte für die Zeit nach der Schule eingeleitet: Lars soll ein brandneues Sportinternat in Florida besuchen. Wie ungewöhnlich und privilegiert die Kindheit von Lars bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen ist, nimmt er erst in dem deutlich konservativ geprägten Umfeld der USA wahr. Dort, in der Nick Bollitiery Tennis Academy in Florida, findet Lars sich 1979 zwischen ehrgeizigen Mittelstandskindern wieder. Deren Eltern erhoffen sich einen sozialen Aufstieg durch die prestigeträchtigen Tenniskarrieren ihrer Sprösslinge. Das Klima aus knallhartem Wettbewerb und eiserner Disziplin ist Lars so fremd wie zuwider. In der Rückschau empfindet er die Monate auf dem 16 Hektar großen Areal wie einen Knastaufenthalt.
Wenn Lars sich zu Status Quo und Deep Purple mit dem Tennisschläger als Gitarre auf große Bühnen träumt, ist gut zusammengefasst, wie das Thema Leistungssport auf seine Agenda passt: gar nicht.
Das strenge Regelwerk ist nichts für den freigeistigen Teenager – obwohl Lars in seiner Jugend eigentlich gerne und gut Tennis spielt, vergällt der Leistungsdruck ihm den Sport völlig. Als Lars sich mit einigen anderen aus dem Camp stiehlt und beim Biertrinken und Grasrauchen erwischt wird, endet das 20.000 Dollar teure Schuljahr jäh nach drei Monaten. Lars hat es nicht eilig damit, seiner Familie die unehrenhafte Entlassung beizubringen. Stattdessen verbringt er viel Zeit in US-Plattenläden der Westküste. Dabei entdeckt er dabei ein interessantes musikalisches Spannungsfeld. Rockmusik wird in den USA ganz wesentlich fürs Radio-Airplay gemacht und klingt meist entsprechend eingängig. Seine Lieblingsbands aus der alten Welt sind dagegen ungehobelt, hart und schnell. Den Rock-Mainstream zu verstehen und sich ihm gleichzeitig nicht anzubiedern, wird Anfang der 90er zu einem Schlüsselmoment für Metallicas kommerziellen Breitenerfolg.
Das Leben der Familie verlagert seinen Schwerpunkt auch sonst in die USA. Vater Torben wechselt altersbedingt mit Mitte 40 in die Tennis-Grand-Masters-Liga, die vor allem in den USA angesiedelt ist. Der Umzug aus dem großen Kopenhagener Stadthaus in ein Dreizimmer-Apartment in Newport Beach ist für Lars eine soziale Degradierung. In Dänemark ist Lars der Sohn eines Nationalhelden. In den USA gilt er nur als “ein kleines Stück Scheiße”, wie er sich später erinnert. Beste Voraussetzungen dafür, sich noch leidenschaftlicher in der aufregenden, neuen Subkultur der New Wave Of British Heavy Metal herumzutreiben. In dieser Zeit zwischen allen Stühlen kehrt Lars noch einmal nach Europa zurück. Er heftet sich als leidenschaftlicher und leidensfähiger Fanboy in England direkt an die Fersen seiner musikalischen Helden Diamond Head.
Rückblickend sind die turbulenten Wochen mit Schlafgelegenheiten auf Proberaumsofas und auf Teppichböden so etwas wie die tatsächlichen Lehrjahre für Ulrich. Er lernt das nicht immer glamouröse Leben auf Tour kennen und darf dem Diamond-Head-Gitarristen Brian Tatler beim Ausarbeiten seiner charismatischen Melodien zusehen. Auch die Gefüge innerhalb von Bands lernt er auf diese Weise kennen und schaut früh dabei zu, wie seine Vorbilder den Prozess des Song¬writings angehen. Ulrich hat aus seinen eingeschränkten Skills als Schlagzeuger nie einen Hehl gemacht. Seine Fähigkeit, Song-Arrangements wie ein Architekt und Alben wie Gesamtkunstwerke zu denken, prägen Metallica dagegen später ganz maßgeblich.
Im Jahr darauf exerziert der leicht aufdringliche Teenager das Gleiche mit Motörhead durch, die zusammen mit Ozzy Osbourne auf ihrer ersten US-Tour sind. Zeitweise fährt Lars dem Tourbus hinterher und wird von Lemmy schon damals freundlich geduldet. Nachdem die erste Bande geknüpft ist und Ulrich im Sommer 1981 mal wieder in England unterwegs ist, schafft er es sogar mitten in den Proberaum von Motörhead. Mit 17 Jahren ist er hautnah dabei, wie das klassische Line-up aus Lemmy, Phil “Animal” Taylor und “Fast” Eddie Clarke die Songs für das fünfte Motörhead-Album “Iron Fist” schreibt. Nach der Rückkehr in die USA ist Ulrich zwar immer noch kein guter Schlagzeuger. Aber er ist zutiefst entschlossen, mit Gleichgesinnten eine Band zu gründen, die die Maßstäbe in Sachen Härte und Geschwindigkeit im jungen Heavy Metal viel weiter nach oben schrauben will.
72 Jahreszeiten im Leben von Dave Mustaine
Das Leben von David Scott Mustaine wirkt wie eine ständige Flucht, die im Grunde schon mit seiner Geburt am 13. September 1961 beginnt. Die Migrationsgeschichte seiner in Essen geborenen Mutter Emily ist damals zunächst eine von zahllosen Auswanderergeschichten in den USA. In ihren späten 30ern hat Emilie vier Kinder mit einem Alkoholiker, der seine Familie auch nach der Trennung heftig drangsaliert. Die Mutter ist kurz nach Daves Geburt daher ständig auf der Flucht vor dem gewalttätigen Ex-Mann und wechselt immer wieder den Wohnort – in Angst, von John Jefferson Mustaine aufgespürt und misshandelt zu werden. Ihr Job als Haushälterin beschert der Familie nur ein bescheidenes Einkommen und ohne Essensmarken, eine staatliche Krankenversicherung und gelegentliche Hilfe aus der Verwandtschaft der Mutter kommen die Mustaines kaum über die Runden. Dave findet nur schwer Anschluss in der Schule. Selbst wenn ihm das gelingt, hält das soziale Gefüge aus gleichaltrigen Freunden nicht lange. Regelmäßig steht in einer Nacht- und Nebelaktion wieder der Umzugswagen vor dem Haus und bringt die rastlosen Mustaines mit ihren wenigen Habeseligkeiten in die nächste Bleibe. Einige Jahre lang kommt Emily mit ihren Kindern bei der Schwester unter. Ähnlich wie James Hetfield erlebt Dave Mustaine dort die Auswirkungen eines reaktionären Religionsfanatismus. Für längere Zeit werden sie Untermieter von streng gläubigen Zeugen Jehovas.
Technisch exzellent, als Person nicht immer leicht: Dave Mustaine (Foto: Ross Marino/Michael Ochs Archives/Getty Images)
Wenn es gut läuft für Dave Mustaine, findet er dort Anschluss, wo es auf Teamgeist, Durchsetzungskraft und Leistung ankommt: beim Sport im Allgemeinen und beim Baseball im Besonderen. Dort erkämpft Dave dem Team Punkte und sich selbst Anerkennung. Wenn es nicht gut läuft, fliegen die Fäuste. Mustaine gerät in seiner Rolle als notorischer Troublemaker schneller in Konfrontationen, als ihm lieb ist. Seine Lichtblicke beim Sport bilden lange Zeit den einzigen Kontrast zum widrigen Alltag. Mitte der 70er kommen drei ganz entscheidende Dinge dazu: Sex, Drogen und Rock’n’Roll. Ein erstes Erweckungserlebnis ist die Erfahrung, dass Jungs mit Gitarrenkenntnissen beim anderen Geschlecht genauso gut ankommen wir Sportskanonen. Mustaine wird beides, nachdem seine Mutter ihm zur Belohnung für eine abgeschlossene Schulklasse eine Akustikgitarre schenkt. Aber auch beim Thema Drogen lässt der Junge nichts anbrennen. Mit 13 ist Dave zum ersten Mal high, und zwei Jahre später ein geschäftstüchtiger Gras-Dealer in Huntington Beach.
Die Band braucht einen Gitarristen, um ihren ersten Sampler-Beitrag zu veröffentlichen. Dave wird Teil der Band, ohne einmal mit den anderen geprobt zu haben.
Das Geld und sein Ruf als harter Bursche handeln ihm jetzt die Anerkennung ein, die der abwesende Vater ihm nie geben konnte. Schnell erweitert Mustaine sein Portfolio in Richtung Alkohol und anderer Substanzen – und ist dabei auch immer selbst sein bester Kunde. Es grenzt an ein Wunder, dass Mustaine trotz dieses Lebensstils sich schnell zu einem fähigen Mann an der E-Gitarre entwickelt. Auch er stolpert über Lars Ulrichs Kontaktanzeige im Recycler. Sein Einstieg bei Metallica verläuft geradezu lächerlich banal: Die Band braucht schnellstens einen Lead-Gitarristen, um ihren ersten Sampler-Beitrag veröffentlichen zu können. Er wird Teil der Band, ohne einmal mit den anderen geprobt zu haben. Mustaines etwa zweijährige Zeit im frühen Metallica-Line-up oszilliert genau zwischen den beiden Fixpunkten in seinem Leben: Bewunderung für seine Fähigkeiten einerseits, regelmäßig eskalierende, alkoholbedingte Konflikte mit dem Umfeld andererseits. Letztere kosten ihn später sogar seinen Job als Lead-Gitarrist bei Metallica – ausgerechnet am Vorabend von deren Durchbruch im Metal-Underground.
72 Jahreszeiten im Leben von Cliff Burton
Wer im Verhältnis der beiden treibenden Köpfe Hetfield/Ulrich die magischen Kräfte Yin und Yang entdeckt, liegt damit natürlich richtig. Dabei übersieht man fast, dass es bei den prototypischen Metallica noch eine zweite biografische Polarität gibt: die zwischen Dave Mustaine und Cliff Burton. Während Mustaine zeitlebens als Großmaul auffällt, wird Burton der Welt als hippiesker und friedfertiger Intellektueller in Erinnerung bleiben. Wo Mustaine in späteren Lebensjahren aufgrund harter Drogensüchte regelmäßig mit seinem Leben spielt, erscheint der Tod in Burtons Biographie wie eine ungerechte Heimsuchung des Schicksals. Das ist auch schon vor seinem eigenen, tragischen Unfalltod im September 1986 so.
Clifford Lee Burton wird am 10. Februar 1962 in Castro Valley geboren, einer beschaulichen, grünen Stadt südöstlich von San Francisco. Nichts an Burtons Herkunft kommt den zerrütteten Familienverhältnissen von Dave Mustaine auch nur nahe. Für Burtons Eltern, eine Sonderpädagogin und einen Straßenbauingenieur, ist der Junge das sehnsüchtig erwartete dritte Kind. Seine Leistungen in der Schule sind überdurchschnittlich, und regelmäßig zieht der Junge die Klassik-Alben seiner Eltern und das Lesen sämtlichen Spielen auf der Straße vor. Sein Bruder Scott und die Schwester Connie lernen irgendwann, dass Cliff eher ein stiller und feinsinniger Charakter ist, dessen Bedürfnis nach Rückzug man besser nachgibt. Burton hat als Teenager für Blue Öyster Cult genauso viel übrig wie für Johann Sebastian Bach und erlebt bis zu seinem 13. Lebensjahr eine völlig normale 70er-Jahre-Jugend in der Idylle einer kalifornischen Vorstadt. Das ändert sich am 19. Mai 1975.
Völlig unerwartet stirbt Cliffs Bruder Scott an einem Hirnaneurysma. Sein überschaubarer Freundeskreis wird später über Burton erzählen, dass er die Trauer über den Verlust des geliebten Bruders lange Zeit völlig verdrängt. Burton zieht sich immer öfter in sein Zimmer zurück und überwindet den Schmerz mit einem an Verbissenheit grenzenden Ehrgeiz. Der Bass, den Cliff vorher eher beiläufig zur Hand genommen hat, wird nun täglich sechs Stunden und mehr bearbeitet. Burton nimmt Musikunterricht, lernt mit echtem Interesse das Notenlesen und erklärt anderen seine Besessenheit von dem Instrument damit, dass er für seinen toten Bruder Scott “der beste Bassist werden will, der er sein kann.” Als ihm das theoretische Studium von Barockmusik und den Basslinien von Rushs Geddy Lee nicht mehr reicht, kreuzen sich in der Band EZ Street früh die Wege mit Jim Martin und Mike Bordin – zwei späteren Mitgliedern von Faith No More.
Die Radikalität von Cliffs Spiel und seine völlig entrückte Bühnenpräsenz ist bald zu groß für die beschauliche Musik von Trauma – und genau richtig für eine völlig aufgedrehte Band wie die jungen Metallica.
Jugendliche Experimente mit LSD und viel starkem Gras werfen Burton nicht aus der Bahn, ganz im Gegenteil. Sein Faible für die Musik von Velvet Underground und Pink Floyd offenbart Burtons Interesse an transzendentaler Kunst jeder Art. Er ist damit eher das Gegenteil eines idealtypischen Metalheads seiner Zeit. Ansehen kann man ihm das auch: Während die Dresscodes in der Metal-Szene eher Leder, Spandex und Nieten vorschreiben, bleibt Burton mit seinen Schlaghosen und einer speckigen Jeansjacke stoisch den 70ern treu. Burton ist ein spiritueller Sucher, der sich mehr für die unbekannte Seite des Zauns interessiert als für das Diesseits – ganz egal, über dies über Musik, klassische Horror-Literatur oder Filme passiert. Seine Eltern akzeptieren den Traum ihres Sohnes. Sie sagen ihm für vier Jahre Unterstützung zu, um sein Leben als Profimusiker zu bestreiten. Cliffs erste ernstzunehmende Band heißt bezeichnenderweise Trauma.
Aus dem relativ uninspirierten Rock der Band sticht Burton mit seinem immer virtuoser werdenden Stil sofort heraus. Die Radikalität von Burtons Spiel, seine Experimentierfreude mit Verzerrer und Wah-Wah-Pedal sowie seine völlig entrückte Bühnenpräsenz ist bald zu groß für die beschauliche Musik von Trauma – und damit genau richtig für eine völlig aufgedrehte Band wie die jungen Metallica. Die Band siedelt 1982 sofort nach San Francisco um, um mit Burton den Grundstein für die größte Heavy-Metal-Karriere aller Zeiten zu legen.
168 Jahreszeiten im Leben von Metallica
Dutzende Jahreszeiten und zehn weltweit erfolgreiche Alben später steht immer noch eine Frage im Raum. Warum sind Metallica so ungebrochen erfolgreich? Allein mit Songwriter-Talent, Zielstrebigkeit, Fleiß und Geschäftssinn ist das Phänomen Metallica nicht zu erklären. Vielleicht liegt es daran, dass sich in Metallicas Geschichte sämtliche wichtige Elemente einer Heldenreise wiederfinden. Und daran, dass wir alle Helden und Heldinnen in einer Welt sterbender Mythen brauchen. Die verstörten Teenager von 1981 haben sich ihren Brüchen, Verletzungen und Schwächen gestellt und daraus eine geradezu unzerstörbare Lebensenergie geformt. Sie haben früh erkannt, dass Rock’n’Roll noch immer symbolhaft für die größten Schätze des Lebens steht. Metallica haben dieses Ziel entgegen aller biografischen Widrigkeiten nie aus den Augen verloren. Die Helden sind dem Ruf ihrer Mentoren gefolgt, haben Konflikte ausgetragen, sich unter den Augen der ganzen Welt Prüfungen gestellt und dabei mehrmals dem Tod ins Auge geblickt. Auch nach vielen Jahreszeiten stellen sie sich immer wieder dem stärksten Gegner: sich selbst.