Den Ton gibt Casper auf seiner neuen Single schnell an: “Was weißt du von Kakerlaken im Kleiderschrank? / Im Trailerpark, Stiefpapa schreit mich an/ Schläge mit Kleiderhaken, sich eingebrannt/ Ein Glück trag’ ich nicht seinen Namen” rappt der Ur-Bielefelder da auf eine simple Pianospur und berichtet gnadenlos ehrlich über die prekären und traumatischen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen ist.
Nach knapp der Hälfte des Songs wechselt dann die Stimmung und basslastige Beats gesellen sich zum Piano, während Casper davon berichtet, dass er auch heute keiner der “Deutschrap-Deppen” ist, die Häuser und goldene Ketten kaufen, sondern betont, dass er “echt von unten” gekommen sei und sich von seinem Geld lieber um materielle Dinge mit Wert kümmere, die langfristige Sicherheit bieten, wie Immobilien. Im Musikvideo zeigt sich der Rapper zu Beginn vor simplen schwarzen Bildschirmen, bevor im zweiten Teil enthüllt wird, dass der er die ganze Zeit in der Bielefelder Schüco-Arena stand. Genau in dieser wird Casper im nächsten Jahr sein bislang größtes Solokonzert spielen. Tickets für die Show sind bereits ausverkauft.
Im Juni hatte Casper überraschend sein neues Album “Nur Liebe, Immer” angekündigt, erst 2022 hatte er sein fünftes Album “Alles war schön und nichts tat weh” veröffentlicht. In den vergangenen Monaten waren bereits die Singles “Emma”, sowie zuletzt “Sommer” in Zusammenarbeit mit Rapper Cro erschienen.
Kvelertak arbeiten lokale norwegische Mythen und Geschichten auf: weit weg von Troll-Sagen ist das Album “Endling”. Als Auftakt ganz in Kvelertak-Allüre mit einem Opener, der bejubelt, dass die Band wieder am Start ist. Dafür entfernen sie sich vom eingängigeren Sound von “Splid”. Eine Platte voller überraschender musikalischer Wendungen, zwischen Black Metal und Banjo, mit der die Norweger ihr Ragnarök auf die Welt loslassen. “Hail Odin! Hail Satan!”
Justice Tripp nimmt selbst das Ruder in die Hand, um ehemaligen und aktuellen Mitgliedern von Angel Du$t zu ermöglichen, “nahtlos zusammenzuarbeiten” und ein “kohärentes Ganzes auf dem Album” zu schaffen. Seine Band versteht er als Kollektiv: Mehr als ein Dutzend Musiker:innen wirkten mit. Darunter: Citizen, Vein.FM und Narrow Head.
The Chemical Brothers – “For That Beautiful Feeling”
Mit Beck im Studio und Halo Maud an ihrer Seite, lassen sich Ed Simons und Tom Rowlands von Anne Clarks “Our Darkness” inspirieren: The Chemical Brothers bleiben eine Überwältigungsmaschine, die sich selbst treu bleibt. Mit ihrem zehnten Album “That Beautiful Feeling” ebnen sie sphärisch den Weg zum gleichnamigen Titelsong, der die zarteste Nummer des Albums ist.
Zwischen Metaphern, ehrlichen Emotionen und Momentaufnahmen: Captain Planet galten vor einigen Jahren als die Speerspitze des deutschen Emopunk – mit ihrem Album “Come on, Cat” erinnern sie daran, warum dem so war. Sie haben sich seit weiterentwickelt und Sänger Jan Arne von Twistern klingt weniger rumpelig als noch 2005, doch Captain Planet bleiben sich treu.
Courtney Barnett – “End Of The Day (Music From The Film Anonymous Club)”
Courtney Barnett schließt nach zwölf Jahren die Türen zu ihrem australischen Indielabel Milk! ab. Anschließend sortiert sie die Puzzlestücke neu und experimentiert an ihrem Sound, bis schließlich “End Of The Day” dabei herumkommt. Dieses schreibt Hörer:innen keine Emotionen vor, sondern lässt Spielraum dafür, welche Wirkung die jeweiligen Tracks hinterlassen.
Zwischen Hymnen und finsteren Elementen bieten CLT DRP aus Brighton mit “Nothing Clever, Just Feelings” feministischen Punk mit vielschichtigen Gefühlen. Neben dem Empowerment-Fokus werden Selbstzweifel und Bedenken beleuchtet. CLT DRP zeigen feministischen Widerstand – ohne den Vorschlaghammer zu schwingen.
Wenn Frische und Nostalgie aufeinandertreffen, entsteht das neue Album von Coach Party. “Killjoy” kombiniert geschickt Elemente von Pop-Punk und gängigen Hooklines und ist als lebhafte Mischung verschiedener Indie-Rock-Generationen zu sehen. Die Songs sind variabel: kraftvoll wie “Parasite” oder hymnisch wie “Born Leader”.
Mehr als 20 Jahre ist “Won” schon alt. Dass eine Band, die den Sprung vom Post-Hardcore in den Mainstream mitgemacht hat, all die Jahre – abgesehen von ihrer Auflösung – kaum etwas veröffentlicht, ist eher ungewöhnlich. Auf ihrer neuen Platte zeigen As Friends Rust, wie gut ein Punk-Genre altern kann.
Mit Elementen des 80er-Post-Punk und des 2000er-Indierock thematisieren Deeper auf “Careful!” Nächstenliebe auf der Tanzfläche: “Build A Bridge” stellt Fragen zur Selbstakzeptanz und Identitätskrisen in einer uniformen Welt – “Heat Lamp” schafft hingegen eine psychedelische Atmosphäre. Ein vielseitiges Album, das ein Tanz-Erlebnis schaffen dürfte.
Die belgische Beatdown-Walze Nasty zeigt auf ihrer neuen Platte wieder einmal ihre Gewaltbereitschaft. Aber nicht nur das: Frontmann Matthias Tarnath kann auch einfühlsam von herzensbrechenden Kriminellen und Küssen von Rosen singen. Trotz einiger Zärtlichkeiten überwiegt am Ende aber ein hartes Brett von einem Album.
Die Wirklichkeit ist nicht immer schön. In der musikalischen Darstellung von Plattenbau ist sie sogar sehr weit davon entfernt. Paranoia, Sehnsucht und das Verzweifeln an bitterer Realität sind das Einzige, was die Berliner sehen und mit avantgardistischem Untergrund-Elektro der 80er in einen grauen Schleier hüllen.
Samling setzen mit ihrem neuen Song “Hjärtat Som En Slägga”, übersetzt “Ein Herz wie ein Vorschlaghammer”, auf klassische Indie-Rock-Strukturen und einfühlsame Melodien. Für ihr neues Album zeigt sich die Band aus Stockholm experiementierfreudig: Für die erste Singleauskopplung “Stor större störst” entstaubten sie noch die 80’s-Synthesizer, auf dem folgenden “Pappa” fokussierten sie sich auf psychedelische Melodien. In “Hjärtat Som En Slägga” scheinen sie nun auf Nummer sicher gehen zu wollen und machen keine allzu großen Ausflüge in Richtung Genre-Fusionen. Umso psychedelischer und skurriler gibt sich dagegen das mitgelieferte Musikvideo.
Sänger Max Groundstroem wollte den einzelnen Songs auf dem Album eine eigene Persönlichkeit geben: “Ich höre mir eigentlich keine Alben an, also dachte ich mir, warum nicht dieses Album eher als Playlist? Diese Denkweise hat mich kreativ befreit, sodass ich ein breiteres Spektrum an Songs und Genres erkunden konnte.”
Samling hatten sich 2016 nach ihrem dritten Album “Sen Glömmer Jag Hur Du Ser Ut” (2015) getrennt. Mit “Autisten” veröffentlichen sie am 6. Oktober ihr erstes neues Album seit acht Jahren.
Für VISIONS 206 haben wir uns mit Aydo Abay über seine Leidenschaft unterhalten.
Wie bist du mit Mitte 30 aufs Therapiereiten gekommen?
Durch meine Freundin Ina, die das schon seit Jahren macht. Der habe ich von meinen Wehwehchen erzählt, vor allem von dieser inneren Nicht-Festigung. Sie meinte: “Klar, das mache ich ja jeden Tag mit Kindern”, sagte aber auch, man brauche eine gewisse Vorarbeit. Damit haben wir vor einem Monat angefangen, geredet, wo die Schwächen sind, was man dagegen machen könnte und sollte. Sie versucht vor allem, mich zu erden, an meiner Naturverbundenheit zu arbeiten. Das hat ja heute schon ganz gut geklappt, so ein gutes Gefühl für die Natur hatte ich seit Jahren nicht mehr. Und so einen Kick.
Du bist hier in der Nähe, auf dem Land aufgewachsen. Hattest du da schon mit Pferden zu tun?
Ich war mit sieben mal auf einem Pferd. Da war dieser Zigeuner, der mit einem Pferd herumgegangen ist. Man konnte für Geld darauf – und ich bin direkt wieder heruntergeflogen. Das war meine einzige Verbindung zu einem Pferd. Das ist ja auch ein Respekt-Tier. Es ist sehr groß, man muss sich dran gewöhnen, dass man Herr darüber sein kann. Ich ärger mich, dass ich das nicht schon viel früher gemacht habe.
Was genau therapierst du denn damit?
Ich will ruhiger werden. Ich will Explosionsmomente in meinem Leben besser kontrollieren können, damit das nicht immer so ausartet. Mit dem Rest bin ich eigentlich zufrieden. Und ich brauche Beschäftigung, mir ist immer langweilig.
Hast du gegen die Langeweile schon viele Hobbys ausprobiert?
Nee. Ich bin auch nicht unbedingt sportbegeistert. Ich mag keinen Teamsport, weil ich eh nicht genommen werde und das nicht kann. Aber mit einem Tier ist das was anderes.
Reiten ist kein Teamsport, aber ein sozialer Sport, oder?
Klar, so ein Pferd ist ja schon eine soziale Nummer, nur eben kein Mensch.
Ist Reiten ein aufwändiger Sport?
Das ist ja gerade das Geile, finde ich. Es ist zeitaufwändig, aber ich fahre eh alle zwei Wochen zu meinen Eltern, die wohnen hier in der Nähe. Was mir besonders Spaß macht, sind die Abläufe: dass du das Pferd erst putzt, dem Pferd was gibst, das Pferd dir dann was gibt, indem es dich trägt und dir Sicherheit vermittelt. Und am Ende gibst du dem Pferd, das so lieb zu dir war, noch eine kleine Belohnung. Das finde ich Wahnsinn.
Kann Therapiereiten ein ehrgeiziges Hobby sein?
Ich glaube, der absolute Kick wird es, wenn ich das mit dem Reiten drauf habe und mit dem Pferd durch die Natur reiten kann. Die ganzen Farben und Eindrücke. Da brauchst du keinen Ehrgeiz mehr, das sind nur noch Flashs.
will meet me halfway. first therapy horse-riding today. hope that they have a pony!!!!!
Ich hasse Western und Pferdefilme. Wir haben im Tourbus mal “Seabiscuit” geguckt, das war der langweiligste Film, den ich je gesehen habe. Ich hatte nie Bezug zum Reiten, aber wenn man dann auf dem Pferd sitzt und sich durch die Natur bewegt, kriegt man einen Anfall von Schönheit. Das ist besser als zu Hause vor der Playstation zu sitzen oder zu pokern. Dabei habe ich nicht so einen Kick.
Das klingt beeindruckend, aber im Moment lässt du dich ja auf einem sehr braven, sehr langsamen Pferd an der Leine herumführen.
Da mache ich mir nichts vor. Wenn man mit Mitte 30 an so ein Respekt-Tier herangeht, beherrscht man das nicht sofort. Ich habe eine Menge Respekt vor dem Tier, das kann ja mit mir machen, was es will. Mein Ziel ist natürlich, nicht mehr an der Leine geführt zu werden und Übungen ohne Hilfe zu machen. Ich kenne sonst auch keine Leute, die reiten, vor allem keine Männer. Aber ich kann es wirklich empfehlen. Das hat auch nichts “Hanni-und-Nanni”-mäßiges. Das ist eine falsche Erziehung in Deutschland. In der Türkei reiten auch viele Männer.
Therapiereiten soll auch gut für die Stimme sein. Hast du davon was gemerkt?
Auf jeden Fall. Du hast diese komplett gerade Haltung. Beim Singen brauchst du ja auch eine gewisse Atemtechnik, und auf dem Pferd machst du das automatisch. Du atmest durch den Bauch.
Glaubst du, das ist fürs Pferd auch therapeutischer als normales Reiten?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich glaube, das Pferd interessiert das überhaupt nicht, das will am liebsten nur fressen. Einen Spieldrang, wie ein Hund ihn hat, vermisse ich da. Angestrengt ist es auf jeden Fall nicht dabei.
Wie wichtig ist es, dass du immer auf demselben Pferd reitest?
Ich glaube schon, dass es um die Beziehung zu einem bestimmten Pferd geht, die man auch erst aufbauen muss.
Hättest du gern irgendwann ein eigenes?
Nein, das wäre mir zu viel. Zu viel Arbeit, zu viel Aufwand, zu viel Verantwortung, zu viel Platz. Ich kann das ja nicht in meine Wohnung stellen. Ich hatte auch noch nie ein Haustier. Okay, ich hatte mal Fische – und einen Vogel zur Pflege für zwei Wochen, den ich durch einen blöden Zufall umgebracht habe. Ich habe ihn durchs Zimmer gejagt, bis er zusammengebrochen ist. Die Flügel waren voller Blut. Das hat mir sehr leidgetan.
So ein Pferd ist kein Hobby, das du mit auf Tour nehmen kannst.
Nein, aber gerade das finde ich gut: Dass man sich Zeit nehmen muss und raus aufs Land fährt. Das geht eingeschränkt vielleicht auch beim Schwimmen oder Radfahren, aber wer sagt schon: “Ich geh jetzt mal reiten”? Ich will auch mehr ein Naturmensch werden. Ein bisschen Regen wie jetzt gerade macht mir nichts aus, aber als ich letztens auf Zypern war, hatte ich an jeder Ecke Schiss, dass jetzt eine Schlange kommt. Ich muss zur Natur zurückfinden, ich will nicht mehr so viel Angst vor ihr haben. Das wird auch mit dem Alter schlimmer. Früher hatte ich keinen Schiss, durch den Wald zu rennen. Mittlerweile denke ich, da könnte ja ein Bär kommen. So ein Schwachsinn.
Und wenn du dann irgendwann mal richtig gut bist im Therapiereiten, willst du dann auch andere therapieren?
Na ja, es geht zwar darum, dass ich ruhiger werde, aber ich glaube, dafür hätte ich trotzdem nicht die Ruhe. Ich könnte mir nicht vorstellen, jemanden an ein Pferd zu gewöhnen wie Ina mich. Die Geduld habe ich nicht. Dafür muss man schon geboren sein.
In einem neu veröffentlichten Statement richten Pat Thetic, Chris #2 und Chris Head von ehemals Anti-Flag klare Worte an ihren Frontmann Justin Sane, aka Justin Geever: “Wir glauben, dass du sehr krank bist und ernsthafte professionelle Hilfe brauchst. […] Fick dich, dass du so vielen Menschen wehgetan hast. […] Fick dich, dass du die Arbeit der Band und der vielen Menschen, die mit ihr in Verbindung stehen, so lange ausgenutzt hast.” Zudem äußern die verbliebenen Bandmitglieder ihre volle Solidarität mit den Opfern und bedanken sich für ihren Mut, ihre Seite der Geschichte zu veröffentlichen: “Ihr sollt wissen, dass ihr nicht allein seid und dass wir euch glauben.”
Anfang der Woche hatten zwölf weitere Frauen Vorwürfe gegen Geever geäußert und ihm sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen vorgeworfen, die zwischen den 90ern und 2020 geschehen sein sollen. Viele der Frauen sollen zudem noch minderjährig gewesen sein, als sie mutmaßlich von Geever ungefragt zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden. Im Juli hatte die New Yorker Therapeutin Kristina Sarhadi erstmalig in dem Podcast “enough.” von ihren negativen Erfahrungen mit dem Frontmann der Punkband berichtet.
Die Band führt in ihrem Statement weiter aus, dass sie bereits einige Stunden vor der Veröffentlichung des Podcasts gewarnt wurden. Daraufhin hätten sie Geever umgehend geschrieben und die Anschuldigungen weitergeleitet – dieser hätte die Vorwürfe jedoch zurückgewiesen. Welcher Seite der Geschichte sie Glauben schenken wollten, war der Band dann kurz nach dem Erscheinen des Podcasts bewusst: “Als wir drei am nächsten Morgen Kristinas Geschichte hörten, wurde uns klar, dass er gelogen hatte.” Weiter erläutern sie auch die Deaktivierung der Social-Media-Präsenz von Anti-Flag und die umgehende Auflösung der Band: “Um den Werten treu zu bleiben, die wir jahrzehntelang vertreten haben, verließen wir die Band sofort und ohne zu zögern. Wir drei entfernten die Internetpräsenz der Band, um den Raum zu begrenzen, in dem Leute Kristina angreifen, anfeinden oder verletzen konnten.”
Abschließend betont die Band erneut ihre Dankbarkeit gegenüber den Opfern, ihre Seite der Geschichte zu veröffentlichen. Weiter erläutern sie, dass das weitere Vorgehen unklar sei: “Wir wissen nicht, wohin unser Weg uns führen wird. Im Moment fühlen sich die Worte hohl an, und keine Erklärung kann das verursachte Leid lindern.”
Geever hat auf die neuen Vorwürfe bislang nicht reagiert, zuletzt hatte er die von Sarhadi geäußerten Anschuldigungen zurückgewiesen und seine Unschuld beteuert. Das gesamte Statement der Band ist via Brooklyn Vegan zu lesen.
Als Kevin Shields im Alter von zehn Jahren nach Irland zieht, fallen ihm zwei Dinge auf: Es gibt viel weniger Menschen draußen vor der Tür, und viel weniger Fernsehkanäle. Mit seinen irischstämmigen Eltern und seinen Geschwistern hat der Junge in New York gewohnt, bis sie es mit dem Heimweh zu tun bekommen und in einen acht Meilen von Dublin entfernten Ort ziehen, wo auch der Rest der Familie ansässig ist. Im Fernsehen begeistert sich Shields Junior für eine Sendung, die es bei allem Überangebot in den USA so nicht gibt. Bei “Top Of The Pops” geben jede Woche die Top-40-Künstler ihr Stelldichein, schütteln die Haare und zwinkern ins Publikum. Es ist das Ende der Glam-Rock-Ära, und der frisch Zugezogene findet in Slade, The Sweet und Wizzard drei neue Lieblingsbands, die kindliche Lust am Lärm mit einer hohen Energie kombinieren. Während der Pubertät erkaltet die Liebe zu den Rockbands mit den Höhlenmenschfrisuren, aber als es so richtig akut wird mit der vorstädtischen Langeweile, ist Shields wieder ganz Ohr. Auch wenn seine neue Lieblingsmusik nicht mehr unbedingt im Fernsehen läuft.
“Für mich hat alles 1978 angefangen, als ich mich für Punk zu interessieren begann”, berichtet Shields. “Damals gab es in Dublin den so genannten Dandelion Market, eine Veranstaltung im Stadtzentrum, bei der die Leute Marktstände aufauten und alles Mögliche verkauften. Wer sich für Punk oder Ska interessierte, ließ sich auf diesem Markt blicken, zumal es dort am Wochenende auch Konzerte gab, die jüngere Kids ins Publikum ließen. Das Ganze spielte sich zwar nachmittags ab, war aber trotzdem ziemlich cool. Die meisten Bands aus Irland und Nordirland sind dort aufgetreten, inklusive die frühen U2, aber vor allem die Outcasts aus Belfast. Drei oder vier Bands spielten hintereinander auf einer behelfsmäßigen Bühne, und das war mein Erweckungserlebnis.” Shields ist auch deshalb wiedererweckt, weil ihn das Programm bei “Top Of The Pops” genau dann kalt lässt, als er es am meisten braucht. “Wer sich die Sendungen von 1975 und 1976 anschaut, ist verwundert, wie viele schlechte Songs dabei sind”, erinnert er sich. “Alles wurde zu aufgeweichtem, aufgeblasenem Kitsch. Für junge Leute war es ausgesprochen reizlos.”
So reizlos die Vorbilder im Fernsehen, desto aufregender dagegen die eigenen Möglichkeiten. Die Punk-Revolution gibt den Britischen Inseln eine neue, simple Philosophie der Selbstertüchtigung an die Hand, die eine Abkürzung in Sachen Selbstverwirklichung bedeutet. Die Botschaft lautet: Wer will, der kann, und der muss auch nicht auf die Aufmerksamkeit von Plattenfirmen und Tourpromotern warten. Für den Teenager hat das eine intuitive Richtigkeit. “Die Bands, die ich gut fand, waren nicht die großen Bands im Fernsehen, sondern die kleinen aus der Gegend“, sagt Shields. 1979 lernt er auf einer Busfahrt in die Stadt zwei Gleichgesinnte kennen, die eine Band gründen und dafür nicht lange über exotische Einflüsse diskutieren wollten. “Damals konnte man Leuten schon ansehen, auf welche Musik sie standen; es war wie bei einem Eingeborenenstamm”, erklärt er. “Die beiden wollten eine Band gründen und fragten mich, ob ich der Gitarrist sein wolle. Das war neu für mich, bis dahin hatte ich mir höchstens den Bass zugetraut und mir gerade mal einen Buzzcocks-Song beigebracht.”
Bei dieser Gelegenheit lernt der frisch getaufte Musiker auch seinen langjährigen Kreativpartner mit dem superirischen Namen Colm Ó Cíosóig kennen, der ebenfalls für die Newcomer-Band rekrutiert wird. Der Schlagzeuger ist genau wie der Verlegenheitsgitarrist ein eher scheuer Zeitgenosse, dessen musikalische Ambitionen mit einem einmaligen Live-Auftritt eigentlich schon erfüllt wären. Passend zur mangelnden Finesse an den Instrumenten ist es auch nicht das Ego, das die Band antreibt, sondern das schlichte Bedürfnis, etwas zu erschaffen, wo vorher nichts war. Graffiti für die Ohren gewissermaßen. “Wir probten vielleicht einmal die Woche und machten eigentlich nur Lärm”, sagt Kevin Shields. “Wir konnten nicht einmal unsere Instrumente ordentlich stimmen. Aber es war ein Anfang.” Weil im Teenager-Milieu von Dublin die Line-ups teilweise häufiger wechseln als die Garderobe, fluktuiert auch die Besetzung seiner Band. “Im Nachhinein geraten meine Erinnerungen durcheinander”, sagt Shields. “Ich weiß nur noch, dass wir sechs Monate lang The Burning Peacocks hießen.
Foto: Paul Rider
»›Isn’t Aynthing‹ sollte eine gewisse Rohheit reflektieren. Die Rohheit meiner Lieblingsbands, und die Rohheit unserer Lebensverhältnisse.«
Kevin Shields
Zu den Burning Peacocks gehört auch Sänger David Conway, den die beiden ganz klassisch über die Kontakt-Pinnwand eines Plattenladens kennenlernen. Zusammen mit Mark Ross am Bass und Stephen Ivers an der Gitarre konsolidiert sich eine Band, die ab Ende 1983 My Bloody Valentine heißt – nach einem kanadischen Horrorfilm, der Conway besonders beeindruckt hat. Der Sänger ist es auch, der den anderen den Vorschlag unterbreitet, die kleine Dubliner Szene zugunsten von grüneren Weiden zu verlassen. Damit verbunden ist auch eine lebensanschauliche Entscheidung. “Es gab damals eine Reihe von Bands, die so klingen wollten wie U2, die damals im Begriff waren, Erfolg zu haben”, sagt Shields. “Es kam uns vor, als schielte damals jeder auf einen Plattenvertrag. Uns dagegen lockte das Abenteuer. Im Gegensatz zu den anderen Bands war unsere Musik recht konfrontativ, und das passte nicht so gut in die Szene.” Tatsächlich haben My Bloody Valentine in ihrer Heimatstadt Probleme, einen echten Unterstützerkreis aufzubauen.
“Wir hatten damals jemanden, den wir den Fan nannten”, erinnert sich Shields mit einem Lachen. “Ein junger Mann, der auf jedes unserer Konzerte ging und damit offensichtlich der einzige war, dem wir wirklich etwas bedeuteten. Ansonsten war unser Publikum jedes Mal ein anderes, weil man uns als zu extrem ansah. Wir liebten die Birthday Party und alles, was Krach machte, und das Bedürfnis nach so einer Musik hielt sich in Grenzen.” Schließlich ist es ein Kollege, der den jungen Musikern den entscheidenden Tipp gibt. Gavin Friday von den Virgin Prunes ist so etwas wie der respektierte Vater der Dubliner Szene und wird von Conway eines Tages um Rat gefragt. “Sein Ratschlag war: ‘Geht nicht nach London. Geht nach Europa, dort sind sie offener für diese Art von Musik.’ Er gab uns eine Liste von Kontakten, und wir fingen an, sie abzutelefonieren.” Der erste, der zurückruft, ist ein Promoter aus Holland, der My Bloody Valentine nur aufgrund ihres Namens für ein Konzert in Tilburg buchen will. Der Band genügt das als Anreiz. Sie wirbt Conways Freundin Tina Durkin als Last-Minute-Verstärkung am Keyboard an, reduziert den Rest ihrer Instrumente auf ein Minimum und macht sich auf den Weg auf die andere Seite des Ärmelkanals, wo das Abenteuer dann so richtig beginnen soll.
2. Berlin
In den Niederlanden angekommen sind My Bloody Valentine überrascht von der Professionalität der dortigen Clubszene. Der Promoter wiederum ist überrascht von der Überraschung seiner neuen Schützlinge, die mit nichts als ihren Instrumenten und ein wenig britischem Kleingeld angereist sind und nun vor der Tür stehen wie fünf Waisenkinder in einer Schneewehe. Weil die Band kein Geld für ein Hotel hat, lässt er sie nach der Show auf seinem Wohnzimmerfußboden übernachten, bevor sie am nächsten Morgen nach Amsterdam weiterreisen. Ein erster Club-Auftritt in der Stadt spült sie in die Hände eines weichherzigen Ex-Bikers, der sie im Tausch für eine Handvoll Konzerte einen Monat lang kostenlos in einem Haus in Gouda wohnen lässt. Der Ex-Biker erlaubt es sogar, dass die Band nebenher in anderen Venues auftritt, wo sie von den generösen niederländischen Honoraren profitiert. Während es in Dublin für ein abendfüllendes Konzert nur einen warmen Händedruck gibt, sind es in Amsterdam 300 harte holländische Gulden pro Gig. Das reicht nicht nur für ein skorbutfreies Überleben, sondern sogar für eine Reise nach Berlin, jener Stadt, die für Shields einen ganz besonderen Klang hat.
Westberlin ist Mitte der 80er ein schlafender grauer Riese, in dessen Eingeweiden andere Regeln gelten als im Rest von Europa. Shields hat zwar auch von Iggy Pop und David Bowie gehört, interessiert sich aber mehr für The Birthday Party und die Einstürzenden Neubauten, in deren chaotischen Konzerten er die Handschrift von Gleichgesinnten erkennt. The Birthday Party haben der Stadt zwar bereits den Rücken gekehrt, als My Bloody Valentine dort Ende 1984 einfallen, aber Blixa Bargeld kann man noch leibhaftig erleben. “Blixa arbeitete in einer Bar, die erst um vier Uhr morgens aufmachte”, erinnert sich Shields. “Er lief damals schon ganz in Leder herum und machte hinter seiner Theke mit den leeren Flaschen einen ähnlichen Krach wie mit den Einstürzenden Neubauten.” Auch die jungen Iren lassen sich im Dunstkreis der Hausbesetzerszene nieder und machen das legendäre K.O.B. zu ihrem Hauptquartier, in dem siewieder und wieder auftreten. Bis zu 50 Punks wohnen damals in einer Schöneberger Mietskaserne; zu den Erfolgen im Häuserkampf gehören sogar teilweise reguläre Mietverhältnisse, die man dem Senat im Tausch gegen eine so genannte Instandsetzung abtrotzt.
Das einzigartige Flair der damaligen Inselstadt bildet dann auch den Rahmen für den ersten zaghaften Erfolg von My Bloody Valentine. “Gavin Friday hatte recht: In Dublin brachte man uns Gleichgültigkeit entgegen, in Berlin wurden wir geliebt”, sagt Shields. “Meistens ging man sogar davon aus, dass wir eine deutsche Band waren. Eines Tages wurden wir sogar gefragt, ob wir eine Platte aufnehmen wollten. Es war ein recht einfaches Achtspur-Studio, mit dessen Technik ich schon aus Dublin vertraut war, weil wir unser Demo-Tape auf etwas Ähnlichem aufgenommen hatten. Aber statt drei Stunden hatten wir jetzt vier Tage für die Aufnahme.” Das Resultat der Spontan-Session erscheint im Januar 1985 als Mini-LP “This Is Your Bloody Valentine”, laut Shields nur eine verschwommene Abbildung dessen, was My Bloody Valentine live zu leisten imstande waren. Und auch wenn er stolz auf diesen ersten musikalischen Studio-Schnappschuss ist, findet er die Liveaufnahme “Man You Love To Hate” bis heute repräsentativer.
3. London
“Wir wären gerne in Berlin geblieben, aber ohne Aufenthaltsgenehmigung durfte man nur drei Monate bleiben, und wir hatten unsere Besuchszeit schon überschritten”, sagt der Bandleader. “Eine richtige Arbeit aufzunehmen kam für uns nicht infrage, also sind wir nach London gefahren, wo wir wieder bei Null angefangen haben.” Vor allem, was das Portemonnaie angeht. Conway und Durkin ziehen zeitweise in ein Heim für Obdachlose, Shields und Ó Cíosóig lassen sich in einem Abrisshaus nieder, bei dem man bereits alle sanitären Anlagen herausgerissen hat. “In London gab es zwei parallele Szenen: die offizielle, bei der man für seine Auftritte selbst bezahlen musste, und die inoffizielle, die sich sehr spontan in besetzten Häusern abspielte“, erinnert sich Shields. “Anders als in Europa konnte man in London nicht von Konzerten leben. Bis wir annähernd in die schwarzen Zahlen kamen, dauerte es Jahre. Trotzdem fühlte es sich für uns immer an, als ginge es voran. In Berlin hatten wir schließlich schon vor 300 Leuten gespielt, und auch die entsprechenden Connections gemacht.”
Foto: AJ Barratt/Avalon/Hulton Archive/Getty Images
»Ich war sehr glücklich mit ›Loveless‹, weil ich das Gefühl hatte, all das Chaos, das uns damals umgab, an der Studiotür abgestreift zu haben.«
Kevin Shields
Zu diesen Connections gehört auch die zu einer schottischen Band namens The Jesus And Mary Chain, die ebenfalls in Berlin gastiert und mit einer ähnlich konfrontativen und lautstarken Musikmischung punktet. Außerdem verfügt die Band über etwas, das My Bloody Valentine noch nie in den Sinn gekommen ist: einen Manager. Alan McGee hat zunächst auch als Musiker begonnen und ist auch weiterhin in einer etwas glücklosen Band namens Biff Bang Pow! aktiv, sieht seine wahre Berufung allerdings als Mann hinter den Kulissen. Bei aller Eitelkeit ist McGee und die von ihm gegründete Plattenfirma Creation Records der Katalysator einer Szene, die noch nach einem gemeinsamen Zuhause sucht. Manchmal buchstäblich.
Mit 22 Jahren ist Shields schon einer der Älteren in der Hausbesetzerszene, doch der Musiker ist noch immer herrlich unbeleckt von den Sirenenrufen einer bürgerlichen Existenz. “Es war ein Lifestyle, der nicht um die übliche Definition von Status kreiste”, sagt er. “Bands wie The Cramps oder eben The Birthday Party symbolisierten für uns bereits den ultimativen Erfolg. Finanziell abgesichert waren die ganz bestimmt nicht, aber man konnte erkennen, dass sie einfach machten, was sie wollten. Dieser Spirit sorgte dafür, dass man im Underground viele Gleichgesinnte finden konnte, die quasi am selben Strang zogen. Es war beispielsweise völlig normal, dass man mit seinem Tape zur BBC fuhr, wartete, bis John Peel eintraf, um ihm dann die Kassette in die Hand zu drücken, die er dann auch wirklich gehört hat. Das haben wir mit unserer Berlin-Platte auch gemacht, und sie lief auch tatsächlich im Radio, während wir in unserem Abrisshaus saßen.”
Die Tatsache, dass in London Labels wie Rough Trade und neuerdings eben auch Creation einen musikalischen Zeitgeist bündeln, gefällt dem Musiker. Bei My Bloody Valentine hat es zuletzt ein paar Veränderungen gegeben. Vom Berliner Line-up sind nur noch Shields und Ó Cíosóig übrig geblieben, neu im Team sind Bassistin Debbie Googe und Sängerin Bilinda Butcher, deren apart hingehauchter Gesang der Musik der Band eine ganz neue Dimension verleiht. In ihrer Londoner Zeit spielen My Bloody Valentine ein paar EPs für das Indie-Label Lazy ein, doch Presse und Publikum zeigen sich nach wie vor unbeeindruckt. Alan McGee geht das anders. Biff Bang Pow! werden bei einem gemeinsamen Auftritt mit My Bloody Valentine dermaßen an die Wand gespielt, dass andere Leute mit den Zähnen geknirscht hätten. Doch statt mit Mord droht McGee den Iren mit einem Plattenvertrag. Als Shields erfährt, dass der ganze sechs Wochen im Studio beinhaltet, willigt er ein und zündet damit jene Phase im Leben der Band, für die ihn die Welt bis heute liebt.
“In diesem Sommer konnte man spüren, dass sich alles veränderte”, sagt der Bandleader. “Zum ersten Mal hatten wir ein starkes Gefühl, was unsere musikalische Richtung anging, und auch eine entsprechende Attitüde. Etwas hatte Klick gemacht. Unsere Konzerte 1987 und 1988 waren stark, und man konnte spüren, wie wir zu einer Einheit zusammenwuchsen. Es war, als ob wir von etwas besessen wären und plötzlich etwas in den Fokus rückte, was vorher außer Sicht gewesen war.” Shields lebt zwar nach wie vor in desolaten Wohnverhältnissen und muss sich die Instrumente für die Creation-Session zusammenleihen, aber irgendetwas in seinem Inneren blüht auf. Eine EP und ein Album sollen My Bloody Valentine für Creation anfertigen, und schon der erste Tonträger löst alle Versprechungen ein, die sich die Band selbst gemacht hat. “Alle unsere Mitbewohner waren Musikliebhaber”, sagt Shields. “Als wir ihnen die “You Made Me Realise”-EP vorgespielt haben, war die Reaktion einhellig. Anders, aber sehr gut, lautete die Einschätzung.”
“You Made Me Realise” lässt die Köpfe all jener kreisen, die bisher immer weggehört hatten, wenn My Bloody Valentine die Verstärker aufdrehten. Mit einem Mal hat der Lärm Methode, wartet am anderen Ende des akustischen Belastungstests eine Belohnung in Form einer Sinnlichkeit, für die es bis dahin noch keinen Ausdruck gibt. In der hervorragenden Musikdoku “Beautiful Noise” kommt ein gewisser Billy Corgan zu Wort, der einen My-Bloody-Valentine-Auftritt so beschreibt: “Die Lautstärke war immens. Für die ersten drei Minuten denkt man: ‘Ja, das ist ziemlich cool.’ Dann denkt man: ‘Das ist jetzt aber wirklich zu viel; ich wünschte, sie würden aufören.’ Nach sieben Minuten kommt es einem fast komisch vor. Und nach zehn Minuten ist man dann drin.”
Dieser Eindruck gelingt nun erstmals auch auf Schallplatte. “‘Isn’t Aynthing’ sollte eine gewisse Rohheit reflektieren”, sagt Shields. “Die Rohheit meiner Lieblingsbands, und die Rohheit unserer Lebensverhältnisse. Aber eben auch den Spaß und die Freiheit, die dieser Lebensstil mit sich brachte.” Dem Gitarristen, inzwischen mit Band-Kollegin Bilinda Butcher liiert, ist pünktlich zur Veröffentlichung das Kunststück gelungen, das er in all den Jahren geprobt hat: die Gitarre zu einem Instrument zu machen, das nicht führt, sondern lautmalerisch auf einer großen Leinwand zaubert, bis sie nur eine unter vielen Farben ist. In einem Fernsehinterview, bei dem der Reporter fragt, was “Isn’t Anything” eigentlich zum Ausdruck bringen soll, antwortet Shields offenbar vollkommen unironisch: “Personal confusion.”
Persönliche Verwirrung ist bald auch das, was das Publikum befällt, wenn es mit My Bloody Valentine live konfrontiert wird. Bereits im Studio ist klargeworden, dass hier ein neues Kapitel in der Gitarrenmusik aufgeschlagen wird, weg von der Struktur, hin zur Impression. Das Lob kommt sogar von den Profis. “Dave Anderson, der Toningenieur, der bei ‘Isn’t Anything’ an den Reglern stand, war für kurze Zeit der Bassist bei Amon Düül II und hat uns einen Crashkurs in Sachen Krautrock gegeben”, erzählt Shields. “Er hatte ein Gespür für aktuelle Musiktrends, und als ich den Song ‘All I Need’ einspielte, bestätigte er mir, dass ich hier gerade im Begriff bin, etwas sehr Originelles auf die Welt loszulassen.” Vor allem etwas besonders Lautes. Je nach Konzerthalle bis zu 130 Dezibel strafen Großmutters Sprichwörterschatz Lügen: Auch wer hören will, muss fühlen. Weil man zur Musik von My Bloody Valentine eigentlich eh nur die Augen schließen und den Mund öffnen kann, wird auch die klassische Bühnenshow mit klassischer Frontsau obsolet. Die “Hochzeit von Punk und Psychedelic”, von der Creation Records träumt, führt eben auch dazu, dass man es live mit Männern und Frauen zu tun hat, die auf Schuhe starren, während die Lautsprecher die eigentliche Arbeit verrichten. Damit ist das ungeliebte Behelfslabel Shoegaze geboren, das Bands wie Slowdive, Ride und Swervedriver Zeit ihrer Karriere begleiten wird. Und das für My Bloody Valentine vor allem eins bedeutet: “Jetzt hatten wir ein Publikum.”
4. Loveless
Wenn man den musikalischen Stammbaum von My Bloody Valentine bis zur Wurzel zurückverfolgt, landet man laut Shields unweigerlich bei seiner Jugendliebe Slade. Diverse Äste später drängt sich vor allem eine Abzweigung auf, die über den Atlantik reicht und Zweige namens Sonic Youth und Dinosaur Jr. hat. Auch die Pixies hinterlassen ihre Spuren im Sound der Band. 1988 touren beide Gruppen gemeinsam durch Europa, und der Sound der hyperaktiven Amerikaner inspiriert den Gitarristen dazu, mit seinem Werkzeugkoffer herumzuspielen. Der erste Kniff ist ein psychologischer Trick, der über eine Bewusstseinsveränderung auch klangliche Veränderungen herbeiführen soll. “Bei ‘Isn’t Anything’ haben wir Schlafentzug als kreatives Mittel eingesetzt”, berichtet der Bandleader. Um das Unterbewusstsein für die Musik anzuzapfen, kommen auch Drogen ins Spiel. Shields, ansonsten eher für Marihuana zu haben, versorgt sich und seine Band auf Tour nun auch mit Ecstasy – beschafft von ihrem eigenen Labelchef. “Alan hatte gerade Ecstasy für sich entdeckt und war so eine Art Evangelist dieser Droge geworden”, sagt Shields. “Er wollte jeden, den er kannte, dazu überreden, es doch einmal zu probieren. Also hat er auch uns welches gegeben.”
Die Droge ist die sinnliche Entsprechung dessen, was der Gitarrist auch auf seinem Instrument veranstalten möchte. Bis zu 30 Effektpedale umkreisen seinen Mikrofonständer bei Konzerten, der Vibratohebel der Gitarre ist im Dauereinsatz. Mit seiner Lust an der Manipulation erspielt sich Shields den Ruf eines Instrumentalvirtuosen, der mit Ideen jongliert, die seine Kollegen schwer beschreiben können. Solange die Band sich dabei in einen Rausch spielt, schweben My Bloody Valentine mit ihrem Publikum über der gesamten britischen Musiklandschaft. Sobald diese schwer zu fassende Energie wieder verebbt, ist dagegen Hängen im Schacht. Ein erster Absturz kommt Anfang 1989. Alan McGee drängt die Band dazu, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist, und für eine weitere EP ins Studio zu gehen. Die Aufnahmen müssen allerdings ohne Ergebnis wieder abgebrochen werden, genau wie ein weiterer Versuch vier Monate später. “Es war das erste Mal, dass wir versagt hatten”, sagt Shields. “Wir hatten auf Tour ziemlich viel Ecstasy genommen, und am Ende waren wir etwas ausgebrannt von der ganzen Anstrengung. Dadurch fehlte der Musik wahrscheinlich dieser letzte Kick, den es braucht, um in die spannenden Regionen vorzudringen. Die Magie, die wir im Sommer ’88 hatten, war offenbar verflogen.
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»Jeder, der Musik macht, weiß, dass er nicht wirklich die letzte Kontrolle darüber hat. Wenn es anders wäre, würden alle ja permanent immer bessere Alben machen.«
Kevin Shields
Ganz im Gegensatz zu McGees Spaß an seinem neuen Spielzeug. Der Labelchef wittert angesichts der Erfolge, die Konkurrenten wie Tony Wilsons Factory Records haben, Morgenluft und will seine vielversprechendste Band zu einem großen Wurf animieren. The Jesus And Mary Chain sind bereits 1985 bei einem anderen Label untergekommen, und das Creation-Debüt von Primal Scream ist hinter den Erwartungen zurückgeblieben. My Bloody Valentine dagegen ist die Band der Stunde, auch wenn diese Stunde immer länger wird. Viel ist schon gesagt worden über die Beziehung zwischen Shields und McGee, und speziell in Zusammenhang mit “Loveless” begibt man sich als Außenstehender zwangsläufig auf das Terrain der Legende. Die Aufnahmen zum zweiten regulären Album der Band beginnen im Spätsommer 1989, doch sechs Wochen Studiozeit reichen diesmal bei Weitem nicht. Shields folgt einem zunehmend perfektionistischen Ansatz, indem er jedes Songsegment einzeln einspielt und dabei größtenteils auf die Mitwirkung seiner eigenen Band verzichtet. Die Plattenfirma bekommt fast 18 Monate lang kaum etwas von der neuen Platte zu hören, am Ende sind 19 Studios und diverse Produzenten sowie 250.000 Pfund verschlissen. Laut McGee.
Shields macht seine eigene Rechnung auf und fängt dabei ganz vorne an. “Alan McGee hat eine lange Geschichte von Zusammenbrüchen, die er gerne ‘Odysseen’ nennt”, sagt er. “Dann verschwindet er, nimmt einen Haufen Drogen und erleidet den ein oder anderen emotionalen Breakdown.” Angeblich lässt sich McGee zunächst nur bei Partyanlässen blicken und schickt ansonsten seinen Labelkollegen Dick Green vor. “Aber 1989 ist er dann auch im Studio aufgetaucht, und wir haben relativ schnell beschlossen, dass wir ihn da nicht haben wollten. ‘Das muss jetzt ein richtig, richtig geiles Album werden!’ pflegte er immer zu sagen. ‘Das beste Album der Welt!’ Aber so kann ich nicht arbeiten.” Es spricht für Shields’ sanfte Dickköpfigkeit, sich seinen eigenen Labelchef so lange vom Hals gehalten zu haben, auch wenn es Berichte gibt, nach denen Green geweint und gebettelt haben soll, damit My Bloody Valentine endlich mit ihrem heiß ersehnten Album in die Pötte kommen. Immerhin wirft die Band ihrer Plattenfirma zwei EPs namens “Glider” und “Tremolo” hin, die in typischem Shoegaze-Understatement nach den Soundeffekten benannt sind, die darauf zum Einsatz kommen.
Als “Loveless” im November 1991 endlich erscheint, können die Reaktionen kaum unterschiedlicher sein. “Ich war sehr glücklich mit der Platte, weil ich das Gefühl hatte, all das Chaos, das uns damals umgab, an der Studiotür abgestreift zu haben”, sagt Shields noch heute. McGee dagegen behauptet, das Album habe sein Label in den Bankrott getrieben, so dass er es 1992 an Sony verkaufen muss – und wenig später mit Oasis ungekannte Erfolge feiert. Seitdem beharken sich die beiden Männer mit kühlen Kommentaren. “Ich mag Alan McGee als Mensch, aber nicht unbedingt als Geschäftsmann”, lässt Shields ausrichten. “Kevin ist irgendwann seinem eigenen Hype auf den Leim gegangen”, sagt McGee, und, schlimmer: “‘Loveless’ ist überschätzt.” Zumindest letzteres Statement ist etwas zu steil, um wirklich wahr zu sein. Zwar halten sich die Verkäufe des Albums seinerzeit in überschaubaren Grenzen, sein Ruf könnte im Nachhinein aber kaum besser sein. “Noch nie war eine solch vage Musik ein solcher Hit”, sagt Brian Eno voller Bewunderung. “Die erste Band, die ich gehört habe, die klar über uns drüber pisst”, urteilt Robert Smith von The Cure.
5. Endless
“Als ‘Loveless’ schließlich herauskam, wurde es von verschiedenen musikalischen Entwicklungen überschattet, die nicht zu unserem Vorteil waren”, sagt Shields. “Es war eine Zeit, in der Gitarrenmusik kurz ins Hintertreffen geriet und sich nicht mehr nach vorne entwickelte. Die Menschen wandten sich HipHop und elektronischer Musik zu.” Als dann auch noch Nirvana um die Ecke kommen, wirken die scheuen Iren wie die Mode vom vergangenen Jahr. Erst als sich das Jahrhundert seinem Ende entgegenneigt und plötzlich in Dutzenden von Musikmagazinen umfangreiche Bestenlisten erscheinen, wird “Loveless” von den Kritikern in den Rock-Olymp befördert. Bei den Kollegen steht die Band eh hoch im Kurs. Trent Reznor, Robert Smith und Billy Corgan sind nur drei namhafte Alternative-Rock-Musiker, die sich in “Beautiful Noise” zu Wort melden und vom überragenden Einfluss der Band schwärmen.
Dass deren drei Alben jetzt wiederveröffentlicht werden, ist auch einer gesteigerten Nachfrage geschuldet. Wie nur bei echten Kultbands muss man für Original-LPs von My Bloody Valentine inzwischen dreistellige Beträge zahlen – eine Tatsache, die Shields in seinem egalitären Anspruch stört. “Mit 17 war ich der Meinung, dass Bands für eine Zeitlang tolle Platten machen und dann irgendwann damit aufören”, sagt er. “Sie schlagen dann eine kommerziellere Richtung ein, in der Absicht, ein größeres Publikum anzusprechen und mehr zu verkaufen. Damals kam mir das wie ein Muster vor, deshalb habe ich mir selbst das Versprechen gegeben, nie so zu werden wie diese Bands. Ich möchte nie eine Platte machen, die aus den falschen Gründen gemacht wird.”
Aufgelöst haben sich My Bloody Valentine übrigens nie. Nachdem sie von Creation vor die Tür gesetzt werden, unterschreibt die Band für eine beachtliche Summe bei Island, ohne dass ein neues Album zustande kommt. Erosion statt Explosion: Während sich Shields in immer verschrobeneren Klangexperimenten verzettelt, verlassen die anderen Mitglieder nach und nach die Band. Irgendwann hat selbst der Gitarrist keine Lust mehr auf die Frickelei im eigenen Studio, so dass er die begonnenen Aufnahmen hinwirft und sich den alten Freunden von Primal Scream als Tourmusiker anbietet.
Erst 2002 spürt er wieder das Bedürfnis, selbst kreativ zu werden. Nachdem er den Soundtrack zu Sofia Coppolas Erfolgsfilm “Lost In Translation” beigesteuert hat, wendet er sich erneut den Aufnahmen zum abgebrochenen dritten My-Bloody-Valentine-Album zu, das die Band nach der Live-Reunion bei verschiedenen großen Festivalauftritten 2013 unter dem stenografischen Titel “MBV” veröffentlicht. Die Platte ist nicht nur ein großer Erfolg bei der Kritik, sondern verkauft sich erstmals in der Karriere der Band auch wirklich gut. Für Shields ist es eine späte Genugtuung und die Würdigung seines Anspruchs, wirklich nur dann neue Musik zu veröffentlichen, wenn er von deren absoluter Qualität überzeugt ist. Selbst wenn das im Durchschnitt nur ein neues Album alle acht Jahre bedeutet.
“Es kommt mir vor, als wäre die wichtigste Komponente beim Musikmachen diese schwer zu fassende Energie, die in den perfekten Momenten alles durchströmt”, sagt der Gitarrist. “Und das kommt einfach nicht oft vor, aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann.” Die langen Wartezeiten kommen auch deshalb zustande, weil Shields eigenen Angaben zufolge “nie viel Glück mit einer ordentlichen Karriere” hatte, seine Musik aber immer ausgesprochen ernst genommen hat. “100 mittelmäßige Filme verschwinden kurz nach ihrem Kinostart gleich wieder”, meint er. “Aber ein richtig guter Film bleibt für immer im Bewusstsein.”
Dann rückt er mit einer Überraschung raus. Gerüchte gab es in den vergangenen Jahren schon viele, aber seit My Bloody Valentine für die kommende Rerelease-Kampagne bei Domino unterschrieben haben, steht tatsächlich ein neues Album in den Startlöchern. Sogar eine Tournee soll nächstes Jahr stattfinden, wenn die Sterne günstig stehen und Shields’ Tinnitus es zulässt. Auf die Frage, was ihn sein Leben als Gitarrist einer der einflussreichsten Indierockbands aller Zeiten gelehrt hat, antwortet er: “Jeder, der Musik macht, weiß, dass er nicht wirklich die letzte Kontrolle darüber hat. Wenn etwas Gutes geschieht, dann in der Regel, weil es einfach passiert. Wenn es anders wäre, würden alle ja permanent immer bessere Alben machen.”
Ende September feiert das vierfach mit Platin ausgezeichnete Album “Siamese Dream” der Smashing Pumpkins seinen 30. Geburtstag. Das Jubiläum will die Band am 17. September mit einer Akustikshow zelebrieren, die zudem weltweit als Livestream übertragen wird.
Die Feierlichkeiten finden im Madame Zuzu’s in Highland Park, Illinois, statt. Vom 14. bis 17. September verwandelt sich das Teehaus, das von Frontmann Billy Corgan und seiner Frau Chloe Mendel betrieben wird, in einen Pop-up-Store von Tower Records. Mit diesem soll die damalige Albumveröffentlichung am 27. Juli 1993 nachgestellt werden, als rund 3000 Fans zur mitternächtlichen In-Store-Performance der Smashing Pumpkins in den Plattenladen in Chicago strömten. Die Polizei sah sich damals gezwungen, die Straße vor dem Laden abzuriegeln.
Am 17. September will die Band das Set nun noch einmal aufleben lassen und bietet Fans unter anderem auch die Möglichkeit, den zwei exklusiven Akustik-Performances beizuwohnen. Tickets waren kurzzeitig für umgerechnet rund 322 € erhältlich, sind mittlerweile jedoch bereits vergriffen. Gute Nachrichten gibt es für alle Daheimgebliebenen: Einer der beiden Auftritte wird am Montag, 18. September gegen 4 Uhr deutsche Ortszeit übertragen – und die Stream-Tickets sind kostenlos erhältlich.
Zehn Jahre sind vergangen seit Paint It Black ihre bislang letzte EP “Invisible” veröffentlicht haben, seit einigen Jahren verweisen sie bereits auf den baldigen Release von neuem Material. Mit “Famine” lassen sie Worten nun Taten folgen und kündigen mit Single-Release auch das Releasedatum ihres neuen Albums an: “Famine” erscheint am 3. November via Revelation und kann vorbestellt werden.
Das mitgelieferte Video zum Titelsong bietet einen Gesellschaftskritik-Rundumschlag: Kriege, Kapitalismuskritik, Tierversuche und Polizeibrutalität decken Paint It Black allesamt ab, während immer wieder Aufnahmen eines früheren Auftritts der Band eingeschoben werden.
Acht Songs umfasst das neue Album der Hardcore-Punks, das sie gemeinsam mit Produzent Jack Shirley (u.a. Deafhaven, Jeff Rosenstock) in Live-Sessions aufgenommen haben. Frontmann Dan Yemin erläutert, dass seine Band erst dann ein neues Album veröffentlichen wollten, wenn sie wirklich etwas zu sagen haben: “Ich will etwas Echtes machen, weil ich etwas Echtes fühlen will und es den Leuten ins Gesicht schreien will”, so Yemin. Weiter sagt er: “Ich möchte etwas in den Leuten bewegen, und ich möchte Musik machen, für die ich selbst etwas in mir bewegen musste.”
Paint It Black – “Famine”
01. “Famine”
02. “Dominion”
03. “Safe”
04. “Exploitation Period”
05. “Serf City, U.S.A.”
06. “The Unreasonable Silence”
07. “Namesake”
08. “City Of The Dead”
Haben Prong in den letzen beiden Singleauskopplungen “Breaking Point” und “Non-Existence” noch einen höheren Wert auf Groove als auf Härte gesetzt, veröffentlichen sie mit “State Of Emergency” einen Song mit klassischer Thrash-Manier, ohne sich jedoch zu weit von ihren ursprünglichen Genregrenzen zu entfernen.
Sänger und Gitarrist Tommy Victor sagt über den Song: “‘The Descent’ erzählt von Isolation, Verwirrung und Hoffnungslosigkeit durch das Eingreifen der Medien.” Im Song selbst wettert er zu einem rasenden Riff-Gewitter mit abgehackten Zeilen wie: “All the lies/ Can’t understand/ Can’t be free/ Out of reach”. Sehr verständlich, dass die Band sich für ihr Video in einen düsteren Keller begeben hat. Während der Songtext eher repetitiv bleibt, sorgen Tempowechsel und ein Gitarrensolo ab der Mitte des Songs für die nötige Abwechslung.
Die neue Platte “State Of Emergency” erscheint am 6. Oktober via Steamhammer und ist noch immer vorbestellbar. Prongs Headline-Tour ist gerade vorbei, im November sind sie aber wieder in Deutschland und Österreich als Support von Life Of Agony auf Tour.
VISIONS empfiehlt:
Prong & Life Of Agony
01.11. Köln – Carlswerk Victoria
09.11. Leipzig – Täubchenthal
13.11. Linz – Posthof
14.11. Graz – PPC
15.11. Innsbruck – Olympia World