6 Strangeways, Here We Come
VÖ: 1987 | Label: Rough Trade
Das „schwächste“ Album der Diskografie ist dennoch begnadet. Das gibt’s nur bei den Smiths. Als sich die Band an die Arbeit macht, steigt sofort das Stresslevel. Bassist Andy Rourkes Heroinabhängigkeit nimmt bedenkliche Formen an, Gitarrist Johnny Marr streitet mit Produzent Stephen Street über die klangtechnische Ausrichtung des vierten Studioalbums, Morrissey entwickelt eine gewisse Wehleidigkeit (die er danach nie mehr abgelegt hat). Am Ende ist allen Beteiligten klar, dass das kommende Album ein paar Schritte nach vorne machen muss. Weg vom Indiepop der mittleren Achtziger, hin zum Beispiel zu einem kompakteren Klang, der 1987 bereits erste Anzeichen des Alternative Rock in sich trägt. Nachzuhören beim Gitarrenriff von “I Started Something I Couldn’t Finish”. Auch trauen sich die Smiths Art-Pop-Arrangements wie dem von “A Rush And Push And The Land Is Ours” zu, beeinflusst sowohl von Oscar Wilde als auch vom Popsong “Shoes” der Ex-Girlgroup-Sängerin Reparta aus dem Jahr 1975. Das Problem der Platte beginnt mit dem besten Song: “Paint A Vulgar Picture” ist eine brillante Erzählung über die Kommerzialisierung der Popwelt. Ansonsten bietet das Album im letzten Drittel Stücke wie “Unhappy Birthday”: nett anzuhören, aber mit einem Text, bei dem Morrisseys Verbitterung die Verbindung zur Poesie verliert.
5 Meat Is Murder
VÖ: 1985 | Label: Rough Trade
Musikalisch weniger differenziert als alle andere Studioalben der Band. Jedoch kann die Wirkung dieser LP nicht überschätzt werden. Wer als Musikfan Mitte der Achtziger beginnt, vegetarisch oder vegan zu leben, tut dies höchstwahrscheinlich wegen “Meat Is Murder” (oder als Teil der Straight-Edge-Bewegung). Das Cover zeigt einen Soldaten im Vietnamkrieg, Morrissey ersetzt den Helm-Schriftzug „Make War Not Love“ durch „Meat Is Murder“ – der Kontext ist schief, die Wirkung groß. Der Titelsong selbst, platziert am Ende der LP, ist eine trübe und zähe Angelegenheit. Genauso ist’s gewollt. Was musikalisch davor passiert, ist aufregender. “The Headmaster Ritual” zählt nicht zu den größten Hits der Band, ist aber ein Paradebeispiel für ihre Klasse. Die Songstruktur und das Gitarrenspiel von Johnny Marr wirken luftig und leicht, sind aber beide sehr komplex. Textlich zieht Morrissey in diesem Song alle Register seiner Kunst, indem er zugleich ätzend und poetisch übers englische Schulsystem schimpft. Bei “Rusholme Ruffians” und “Nowhere Fast” spielt die Band Psychobilly für Indiepopper, “That Joke Isn‘t Funny Anymore” und “Well I Wonder” sind Blaupausen für die vielen Tränenzieher, die in der kurzen Karriere der Smiths (und der längeren von Morrissey) folgen werden.
4 The Smiths
VÖ: 1984 | Label: Rough Trade
Wie kann man ein Album nicht lieben, das mit den Zeilen „It’s time the tale were told/ Of how you took a child/ And you made him old“ beginnt in einem grandiosen Refrain mündet: „Fifteen minutes with you/ Well, I wouldn’t say no.“ “Reel Around The Fountain”, ein Lied über das Ende der Unschuld, klingt wie eine in sich ruhende, sehr melancholische Variante von Bruce Springsteen, wenn dieser nicht New Jersey käme, sondern aus Manchester, einer Betonstadt beinahe ohne Bäume. Fast scheint es, als wollten uns die Smiths danach auf die Folter spannen: Die folgenden vier Songs der A-Seite sind gut, werden aber von den Tracks der B-Seite noch getoppt. Marrs Jingle-Jangle-Spiel auf “Still Ill” ist genial, “Hand In Glove” besitzt eine rhythmische Dynamik, die man viele Jahre später beim Midwest-Emo lieben lernt, “What Difference Does It Make?” steht exakt auf der Schwelle zwischen Indierock und Indiepop, “Suffer Little Children” thematisiert die „Moors Murders“, eine Serie von Kindermorden in den Saddleworth Moor bei Manchester, die zwischen 1963 und 1965 ganz England in Atem hielt. „Oh Manchester, so much to answer for“, singt Morrissey gegen Ende und hat dabei die ermordeten Kinder im Sinn, die niemals träumen werden.
3 The World Won't Listen
VÖ: 1987 | Label: Rough Trade
Es ist üblich, in diesen Rankings ausschließlich Studioalben zu listen, keine Compilations. The Smiths sind eine Ausnahme. Erstens, weil die vier Original-LPs nur einen Teil des Schaffens der Band zwischen 1983 und 1987 abdecken – The Smiths sind seit Beginn auch eine Singles-Band. Zweitens, weil es zwei Compilations gibt, die diese Singles und andere Aufnahmen koppeln. (Einige werden mit “Louder Than Bombs” sogar noch eine dritte ins Spiel bringen – auch toll, aber schon zur Veröffentlichung 1987 vor allem eine für den US-Markt konzipierte Zusammenstellung). “The World Won’t Listen” versammelt A- und ausgewählte B-Seiten der Kleinformate, die die Smiths in der zweiten Hälfte ihrer Karriere veröffentlichen, also zwischen 1985 und 1987. Zu den A-Seiten zählen “Panic”, “Ask”, “Shakespeare’s Sister” oder “Shoplifters Of The World Unite” – kurze, knackige Hits. Unfassbar ist die Qualität der B-Seiten: Die Erzählung “Half A Person” gehört zu den besten aus Morrisseys Feder, inspiriert von einem Brief, den er von einem weiblichen Fan erhalten hat. Wer immer noch nicht glaubt, dass Johnny Marr ein Genie ist, muss “You Just Haven’t Earned It Yet, Baby” hören. Das Stück sollte eigentlich eine Single sein, wird dann aber zugunsten von “Shoplifters Of The World Unite” zurückgezogen – um auf “The World Won’t Listen” in voller Pracht zu erstrahlen.
2 Hatful Of Hollow
VÖ: 1984 | Label: Rough Trade
Diese Compilation beleuchtet die Singles der ersten Phase zwischen 1983 und 1984. Weil die Band damals bei den Kleinformaten noch nicht ganz so umtriebig ist wie ab 1985, wird die Compilation mit Aufnahmen aus verschiedenen BBC-Sessions für John Peel und David Jensen ergänzt, darunter Stücke wie “This Charming Man” oder “Back To The Old House”, die nicht auf den Original-LPs zu finden sind. “Hatfull Of Hollow” zeigt, wie gut The Smiths als Quartett zusammenspielen. Und wie schnell Johnny Marr in der Lage ist, perfekte Songs zu schreiben. So entstehen die drei Stücke der “William, It Was Really Nothing”-Single im Frühsommer 1984 in weniger als einer Arbeitswoche. Neben der A-Seite finden sich auch die beiden B-Seiten auf der Compilation: “How Soon Is Now?” beginnt mit einem revolutionären Gitarrenarrangement, das sehnsüchtige Flehen “Please Please Please Let Me Get What I Want” ist nicht einmal zwei Minuten lang. Und damit genau richtig, wie Morrissey weiß, als der dem skeptischen Label sagt, jegliche weitere Zeile würde nur noch „das Offensichtliche erklären“. Damals wusste er noch, wann Schluss ist.
1 The Queen Is Dead
VÖ: 1986 | Label: Rough Trade
Nimmt man das spaßig-alberne “Vicar In A Tutu” aus, taugt jedes Lied auf “The Queen Is Dead” dafür, ein eigenes Buch darüber zu schreiben. Das Titelstück ist einerseits ein Diss auf das britische Königshaus, andererseits lässt Morrissey in seinem Text die Option offen, die Queen auch als Camp-Figur zu begreifen – und damit durchaus auch als ihn selbst. Die Band spielt dazu einen Indierock-Wirbel mit Drummer Mick Joyce als prägendem Instrumentalisten. Bei “I Know It’s Over” zeigt Morrissey seine allerbeste Gesangsleistung; die existenzielle Beichte konnte später nur von einem Menschen gewinnbringend gecovert werden: Jeff Buckley. “Cemetry Gates” bringt den positiven Vibe zurück, “Bigmouth Strikes Again” und “The Boy With The Thorn In His Side” sind einerseits perfekte Popsongs, andererseits auf lyrischer Ebene Abrechnungen mit den Mechanismen der Musikindustrie – diese ist dann auch der Dorn, der dem Jungen in der Seite steckt. “Some Girls Are Bigger Than Others” ist einerseits ein Spaß, bietet andererseits eine der schönsten Gitarrenmelodien aller Zeiten. Und dann ist da “There Is A Light That Never Goes Out”: Johnny Marr lässt sich musikalisch von The Velvet Underground, den Rolling Stones und Marvin Gaye inspirieren, Morrissey verfasst den ikonischen Text mit James Dean im Film “… denn sie wissen nicht, was sie tun” sowie englischen Kitchen-Sink-Dramas im Hinterkopf, in denen sich aus dem Banalen das große Schicksal herauskristallisiert. Morrissey besingt die Chance der Freiheit: die Nacht, das Auto, der Mensch an der Seite – das Leben kann so perfekt sein, dass auch der Tod in Form eines Doppeldeckerbusses oder Zehntonners das Scheinen nicht beenden kann. „To die by your side/ Well, the pleasure, the privilege is mine.“ Höflicher Kitsch. Formvollendet.
Inhalt
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- Supergroups: Die 50 besten Alben – Alles super
- Supergroups: Superduos – Ein Fall für zwei
- Die 33 wichtigsten Koop-Alben – Kommt zusammen
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- Okkult-Rock - Die Plattenliste – Diabolus in Musica
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- Jahresrückblick 2022: Die 50 Alben des Jahres – Kommentare zur Zeit
- Britpop - Die Plattenliste – Cool Britannia
- Post-Punk: Die besten Alben der ersten Welle – Pinke Flagge, schwarzes Gewand
- Post-Punk: Die besten Alben des Revivals – Widerhall in der Fabrikhalle
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