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Your Alltime Favourite Band

Alles nimmt seinen Anfang in einem Örtchen namens Fagersta im Nordosten Schwedens. Anfang des 17. Jahrhunderts entsteht hier eine erste Siedlung, mit dem Hüttenwerk Fagersta Bruk – das erst Mitte der 1980er seine Pforten schließt – wächst im Zuge der Industrialisierung auch die Gemeinde. Stahl in allen Formen ist die Währung, mit der hier gezahlt wird. 1944 werden Västanfors und Fagersta zusammengelegt, auf den Industrieboom folgt die Stahlkrise, der Ort um das Stadtzentrum zwischen Järntorget und Brinelltorget entwickelt sich Richtung Moderne. Heute zählt die Kleinstadt in der Provinz Västmanlands Län gut 12.000 Einwohner, der Lebensstandard ist vergleichsweise hoch, den Menschen geht es gut, besser als in vielen anderen Industriestädten Schwedens. Unter den berühmten Söhnen und Töchtern Fagerstas sind Schriftsteller Lennart Helsing, die ehemalige Staatssekretärin Anitra Steen, Stabhochspringer Allan Lindberg – und zwei Brüder namens Pelle und Nicholaus Almqvist. Die beiden nennen sich Howlin’ Pelle Almqvist und Nicholaus Arson und schicken sich mit Beginn der 90er an, die Musikwelt zu erobern.

Klingt alles so ein bisschen nach schwedischer Mys (dt. Gemütlichkeit) mit Fika (dt. Kaffeepause) und Lucia-Fest, irgendwo zwischen “Michel aus Lönneberga” und “Fimpen, der Knirps”, und auf eine gewissen Art ist es wohl tatsächlich so. “In Fagersta leben die Leute fast noch wie in den 50ern. Ein eigenes Haus, zwei Autos vor der Tür, ein Garten, es geht einen eher ruhigen Gang”, bestätigt Pelle Almqvist mit heiserer Stimme. Am Vortag haben die Hives auf dem Glastonbury Festival gespielt, direkt danach ging es mit dem Tourbus weiter nach Glasgow, von wo er und sein Bruder Nicholaus Arson sich an ihrem spielfreien Tag per Zoom melden für einen Spaziergang über die Memory Lane.

Foto: Peter Pakvis/Redferns/Getty Images

»Was die Stones, AC/DC und Iggy können, warum sollten das nicht auch The Hives schaffen?«
Nicholaus Arson

Was das Schicksal der Hives angeht, sind es zwei Faktoren, die in Fagersta aufeinandertreffen und sich gegenseitig befeuern: Auf der einen Seite die Lust an Punk, an wilden Klängen, die die Almqvist-Brüder schon früh im Griff hat, auf der anderen Seite die Tatsache, dass in ihrer Heimatstadt nicht nur die wohl größte Rock’n’Roll-Band des Landes im Entstehen begriffen ist, sondern mit Burning Heart Records auch gleich noch das passende Label ansässig ist. Stilprägende Plattenfirmen – eine Angelegenheit allein für Großstädte? Mitnichten, gerade im Suburbanen, in den Kleinstädten, den etwas ereignisarmen Kaffs, pulsieren Teenage Angst und die Lust an Aufbruch und Ausbruch zuweilen besonders heftig. Labelgründer Peter Ahlqvist ist bereits in den 80ern mit Uproar Records aktiv und betreibt sein Geschäft zunächst vornehmlich auf Tauschbasis.

1993 hebt er Burning Heart aus der Taufe, mit Epitaph entsteht bald eine enge Zusammenarbeit, später übernimmt das US-Label sogar 51 Prozent der Anteile. Ahlqvist betreibt jedoch nicht nur sein Label, als umtriebiger Konzertveranstalter sorgt er zudem für eine florierende Liveszene in Fagersta. Zukünftige Größen wie Green Day, Radiohead und Soul Asylum, Dauerbrenner wie Biohazard, NOFX, Youth Of Today und The Exploited machen hier allesamt Station, nicht nur angesichts der Bevölkerungsdichte ein ziemlich spektakuläres Aufgebot.

Ein Kulturprogramm, dessen Einfluss nicht ohne Folgen bleibt, dabei spüren die Almqvist-Brüder dieses besondere Kribbeln bereits, da haben sie gerade mal die Schultüte aus der Hand gelegt. “Die erste Band hatten wir mit fünf oder sechs”, sagt Pelle Almqvist. “Wir dachten, es würde wie AC/DC klingen, aber in Wirklichkeit war das mehr so eine Art Grindcore. Es gibt sogar noch Aufnahmen davon.” – “Genau so muss es sein”, ergänzt Arson. “Du fängst mit irgendetwas an, dass du für Punk oder Rock’n’Roll hältst. Vom Gefühl her denkst du, es klingt wie die Musik, die du hörst und gut findest. In Wirklichkeit ist es aber nur die pure Energie und irgendjemand schreit sich die Lunge aus dem Hals. So ging das damals vielen Kids bei uns. Man spielte mal auf einer Party, später traten wir in unserer Schule auf, spielten Ramones-Cover und sowas.” Die Geburtsstunde der Hives schlägt am Silvesterabend 1992, Randy Fitzsimmons entert die Szene, der geheimnisumwitterte Manager, der zukünftige Band-Mogul, Songwriter und Konzeptioner der Hives, sorgt für die Initialzündung.

“Es war seine Idee, die Band zu gründen”, erzählt Pelle Almqvist an diesem Sommertag mehr als drei Jahrzehnte später, da das aktuelle Album im Titel den Tod ebenjenes Fitzsimmons’ thematisiert, die neuen Songs sein Vermächtnis sind – so heißt es jedenfalls. Die große Fitzsimmons-Sage… wäre dies nicht womöglich der Zeitpunkt, die wahre Geschichte zu erzählen? Oder gab es ihn tatsächlich?

Ein Bandname, der bei der Frage nach der Inspiration für die Hives immer wieder fällt, auch von Nicholaus Arson selbst: The Monks. Mitte der 60er aktiv, die Musiker in Deutschland stationierte US-Soldaten, ihr Sound ein ungewöhnlich dichter Rock’n’Roll an der Grenze zum Proto-Punk, dabei nicht nur stilistisch in der DNA der Hives wiederzufinden, sondern auch, was eine Art Betriebsanleitung für diese Formation angeht. Die Kunststudenten Karl-Heinz Remy und Walther Niemann, der sechste und der siebte Monk, wie sie genannt wurden, hatten die Bandmaxime klar umrissen: Kurze Haare und Tonsur waren Pflicht, schwarze Kleidung, ein Strick um den Hals anstelle einer Krawatte, die Musikmönche sollten betont dominant auftreten, selbstbewusst an der Grenze zum Arroganten.

Klingelt da kein Glöckchen? Die Anzüge, der Habitus als “your new favourite Band”, die Selbstbezeichnung als “Muhammad Ali des Rock”, die klangliche Nähe: Man muss kein Verschwörungsgläubiger sein, um hier eine Verbindungslinie zu ziehen. Und bei einem so schmucken Gesamtkonzept erfindet man sich den Macher im Hintergrund einfach dazu. Oder? Die Chancen auf Enthüllung sind gering, allein die Frage, wo Randy Fitzsimmons, der sechste Hive, damals eigentlich herkam, stößt auf schwedisches Granit. “Well…”, setzt Arson an und grinst. “Das ist privilegierte Information.”

Kurs auf Garage Rock!

Nun denn, belassen wir es bei diesem unbestritten unterhaltsamen Narrativ. Es heißt, Fitzsimmons habe Briefe an die zukünftigen Bandmitglieder verteilt, darin genaue Anweisungen für die Musiker bis hin zum Künstlernamen, die Formation der folgenden zwei Jahrzehnte steht damit unverrückbar fest: Howlin’ Pelle Almqvist, Nicholaus Arson, Dr. Matt Destruction, Vigilante Carlstroem und Chris Dangerous. Das Abenteuer beginnt, “Sounds Like Sushi” nennen sie ihr erstes Demo, der Weg der Band führt – wie soll es anders sein – zu Burning Heart Records, wenn auch mit Umwegen. Vielleicht ist es die Unerfahrenheit der jungen Musiker, das Ungewisse oder ein überdrehter Songtitel wie “Some People Know All Too Well How Bad Liquorice (Or Any Candy At That Matter) Can Taste When Having Laid Out In The Sun Too Long, And I Think I Just Ate Too Much”, der Peter Ahlqvist zunächst zögern lässt. Die Debüt-EP “Oh Lord! When How?” erscheint im Sommer 1996 jedenfalls beim Unter-Label Sidekicks. “Ich glaube, wir passten damals nicht so ganz zu Burning Heart”, so Arson. “Dieser ganze kalifornische Punk war total angesagt, das klang ja doch ziemlich poliert und auf Melodien getrimmt. Wir waren von Anfang an mehr in Richtung Garage Rock unterwegs, das war um einiges unaufgeräumter und schräger. Man wollte das Risiko wohl minimieren, also ging es erst mal zu Sidekicks. ‘Barely Legal’, unser Debütalbum, wurde dann auf Burning Heart veröffentlicht.”

Es bleibt nicht allein bei der Veröffentlichung, das Ganze ist der Auftakt zur ersten großen Europatour. Pelle Almqvist ist da gerade einmal volljährig. Was sagten eigentlich die Eltern zum Aufbruch ihrer Söhne in die weite Welt des Rock’n’Roll? Die beiden grinsen bei dem Gedanken daran. “Die waren schon ziemlich in Sorge, vor allem, was Drogen angeht”, so Pelle Almqvist. “Wenn wir wieder nach Hause kamen, fragten sie als erstes, ob wir was genommen hätten. Dann seufzten sie erleichtert, wenn wir das verneinten. Oh, und ich erinnere mich an eine Show ganz oben im Norden Schwedens, auf so einem Ski-Wettbewerb. Da meinten unsere Eltern, wir sollten in getrennten Zügen fahren. So ein bisschen wie bei der Königsfamilie: Wenn der eine verunglückt, dann hat man immer noch den anderen.” Beide lachen. “Nach einer gewissen Zeit entspannten sie sich. Als sie mitbekamen, dass wir das alles okay hinbekommen, dass wir mit dem, was wir da machen, Erfolg haben, waren sie sogar ziemlich beeindruckt.” Auch Arson erinnert sich gut an diese ersten Monate und Jahre. “Uns gefiel das Unterwegssein. Ich meine, was macht man als Band? Eine Platte veröffentlichten und anschließend auf Tour gehen. Für uns war das völlig selbstverständlich. Abgesehen von den Konzerten passierte in Fagersta ja nicht allzu viel. Und nun zogen wir plötzlich in einer Metropole wie Paris um die Häuser. Das war großartig.” Ein vielversprechender Anfang also. Dennoch ist das, was Arson im Rückblick als “perfect storm” bezeichnet, diesen Orkan von einem Durchbruch einige Jahre später, zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen.

Die populäre Gemengelage fußt noch auf anderen Geschmacksrichtungen, der Schlüssel zur Garage ruht noch in irgendeiner Schatulle, stattdessen ziehen große Namen wie Oasis und U2 durch die Stadien und über die Festivals der Welt. Wenn überhaupt ein bestimmter Sound in jenen Tagen die (kurzen) Hosen anhat, dann ist es Nu Metal. Aber es braut sich etwas zusammen rund um die Jahrtausendwende. Im April 2000 erscheint mit “Veni Vidi Vicious” das zweite Album der Hives. Mit Blick auf die Karriere, die wenig später so richtig Fahrt aufnimmt, tummeln sich hier bereits die Prognosen der Zukunft. Zum einen die Punk-Adaption des caesarischen “Ich kam, ich sah, ich siegte”, dazu das schlaumeierische “Siehste, hab’ ich dir doch gesagt” im Titel ihres damals wie heute erfolgreichsten Songs “Hate To Say I Told You So”.

Im Zuge des Garage-Rock-Revivals findet sich schließlich der Kontext, einer “Bewegung”, wie Arson es nennt, “denn die Leute lieben eine Bewegung.” Aber im Grunde genommen sind die Hives von Anfang an, sei es nun von Randy Fitzsimmons ersonnen oder ihrer eigenen Proberaum-Fantasie entsprungen, auf Weltherrschaft, auf Erfolg, auf Popularität ausgerichtet. Sie sind eben keine der Bermudashorts-Schlabbershirt-Bands mit umgedrehten Basecaps und schäumender Bierdose: Die jungen Herren tragen Anzug. Es gibt Künstlernamen, Manifeste und einen Mythos, der sich praktisch selbst erschafft. Ihre Lieblingsbands mögen die Ramones, die Sonics, New Bomb Turks – und vielleicht auch die Monks sein – aber für ein bloßes Nacheifern auf Dreikäsehoch-Art sind die Almqvists und ihre Kumpels viel zu informiert. Im schwedischen Fernsehen laufen US-Serien am Stück, der Comedy-Klassiker “Saturday Night Live”, vor allem die zahlreichen Wiederholungen der Show, prägen ihre Auffassung von Entertainment: anarchisch, offensiv, dabei immer kurzweilig und mit der Zunge in der Wange.

Vielleicht ist es sogar gut, dass die Szene in Fagersta zwar quicklebendig ist, die Situation, was Plattenläden angeht, jedoch suboptimal. Ihren Sound müssen sie so zu großen Teilen selbst kreieren, anstatt Bestehendem nachzueifern. Soundpartikel von so unterschiedlichen Künstlern wie Bill Haley oder Little Richard, Stooges oder Devo hinterlassen Eindruck. Um all das jedoch in einen Überwältigungssound wie den der Hives zu verbauen, braucht es einiges an selbstangerührtem Klangzement. Über den verfügen die Hives: Hate To Say I Told You So? Im Gegenteil: Es ist vielmehr eine diebische Freude darüber, es doch von Anfang irgendwie gewusst zu haben, die den Puls dieser Band auch heute noch zum Glühen bringt.

Beatles, Sex Pistols, Oasis

Im Herbst 2001 schließlich entert die Band jene Phase, die ihre Karriere entscheidend prägen wird. Von “Supply And Demand” singt Pelle Almqvist auf “Veni Vidi Vicious”, und in der Tat, das Angebot ist ausreichend vorhanden, die Nachfrage steigt fortan extrem, ein Rad greift jetzt ins andere. Smartphone und Breitband noch in den Kinderschuhen, spielt das gute, alte Pantoffelkino eine entscheidende Rolle, und das gleich mehrfach. The Hives touren zu dieser Zeit durch die USA, zusammen mit The (International) Noise Conspiracy (die übrigens einen Song von den Monks covern, um den Querverweis ein letztes Mal zu strapazieren). In Deutschland macht zu dem Zeitpunkt ein gewisser Alan McGee gerade Promo für sein frischgegründetes Label Poptones, als er Pelle & Co. im Fernsehen sieht. Dass der Mann eine gute Nase hat, ist bekannt, und so nehmen die Dinge ihren Lauf. McGee nimmt die Band für Poptones unter Vertrag, sein Kniff zur Eroberung des britischen Marktes: Er macht aus den ersten beiden Alben eine Best-of-Compilation, der Titel das adäquate Statement in jeglicher Hinsicht: “Your New Favourite Band”.

Die Rechnung geht auf: Am Ende erreicht das Album Platz 7 der UK-Charts, verkauft sich aus dem Stand um die 100.000 Mal. Im November ist die Band in der Fernsehsendung “Later With Jools Holland” zu Gast und manifestiert qua “Hate To Say I Told You So” ihren Durchbruch nach Ed-Sullivan-Art. Gekleidet wie die Beatles, rotzig wie die Sex Pistols, selbstbewusst wie Oasis. “We are the Hives! We’re from Sweden”, proklamiert Howlin’ Pelle im Bass-Breakdown vor dem Wiedereinstieg in den Song. “Wanna know how to spell the Hives? G-E-N-I-O-U-S. The Hives!” Deine neue Lieblingsband? Worauf du wetten kannst.

Drei Monate später treten die White Stripes bei “Top Of The Pops auf”, mit einer ähnlich euphorisierenden Version von “Fell In Love With A Girl”, spätestens jetzt hat sich Garage Rock auf der popkulturellen Landkarte sein Territorium ein weiteres Mal erobert. Dabei wirkt der Terminus Garage im Wortsinn insbesondere mit Blick auf die Hives und ihr Gesamtkonzept immer auch etwas limitierend. Mitnichten ist dies eine Band, die zwischen verrostetem Motorrad, Farbeimern und Tischtennisplatte ein bisschen herummuckt. Dies ist keine Garage, sondern vielmehr ein Ballroom, eine Halle, ein Stadion, anders gesagt: ganz großes Kino. James Brown und Chuck Berry, Ramones und Stooges, Gospel und Punk, alles drin. Und mit “the Freeze”, dem kompletten Stillstand aus dem Clip zu “Hate To Say I Told You So”, live zuweilen minutenlang ausgedehnt, bevor die Band wieder in den Song kickt, gibt es obendrein einen Signature-Move, als wären Fagersta und Las Vegas nur ein paar Schlipslängen voneinander entfernt.

Kein Wunder, dass man auch in den USA die Bleistifte spitzt, um Verträge zu skizzieren. Epitaph Records jedoch, Burning Hearts US-Partner, übernimmt lediglich die Rolle des Durchlauferhitzers. Warners CEO zu jener Zeit, Tom Whalley, ist ein alter Geschäftsfreund von Brett Gurewitz – und extrem erpicht darauf, die angesagten Schweden, die mittlerweile bei angesagten Radiosendern wie KROQ-FM auf Rotation laufen, unter Vertrag zu nehmen. Zu Zeiten von The Offspring hatte Gurewitz sich den Majors noch verweigert, diesmal läuft es anders. The Hives landen einen US-Deal bei Warner, doch der Schritt zieht einiges an juristischen Auseinandersetzungen nach sich. Anlass ist ein weltweiter Deal mit Universal, eine Entscheidung, die in der Chefetage von Burning Heart Records mehr als kritisch aufgenommen wird. Peter Ahlqvist und sein Team blicken auf eine langjährige Geschichte mit der Band, sehen sich um die Früchte ihrer Arbeit gebracht.

“Wir wurden da im Prinzip hineingezogen, in dieses Major-Ding. Epitaph hat uns ohne unsere Zustimmung an Warner verkauft, also dachten wir uns nichts dabei, zu Universal zu gehen”, erläutert Pelle Almqvist. “Das ist natürlich alles Schnee von gestern, aber damals waren wir echt sauer darüber, wir fühlten uns betrogen. Die nannten sich alle Indies und Punks, und dann wirst du von denen über den Tisch gezogen? Klar hauen dich auch die Majors übers Ohr, aber auf diese Weise war es besonders hart. Wir hatten ja auch keinen Manager, wir haben alles selbst gemacht.”

Arson nimmt den thematischen Faden sofort auf. “Gefühlt war man jeden Tag in irgendwelchen Telefon-Konferenzen, Marketing, Promotion, Veröffentlichungspläne, die unterschiedlichen Labels. Das war eine echte Herausforderung. Man muss auch bedenken, wie jung wir noch waren, zudem ständig auf Tour, wir spielten 200, 250 Shows im Jahr. Eins stand für uns immer im Vordergrund: Wir wollten es nicht versauen. Wir waren im Begriff, mit unserer Band so richtig Erfolg zu haben, mit so etwas rechnest du ja nicht unbedingt. Wir hatten das Gefühl, es uns selbst auch mit Blick auf die Zukunft schuldig zu sein, alles wirklich gut überlegt durchzuziehen.”

Foto: Frank Micelotta/ImageDirect/Getty Images

»Es geht um das, was wir geschaffen haben, nicht um die Typen dahinter, nicht um mich oder Nicholaus.«
Pelle Almqvist

Woher diese Ambitionen kommen, diese Disziplin, der Sinn fürs Geschäftliche? Arson zuckt mit den Schultern, versucht sich dennoch an einer Erklärung. “Vielleicht gibt es eine bestimmte Art von Arbeitsethos, das du in dir trägst. Wir haben uns von Beginn an um alles selbst gekümmert. Es gibt ja dieses Rockstar-Klischee: Typen, die alles hinterhergetragen bekommen, die nichts allein auf die Kette kriegen, umgeben von Assistenten. Das gab es bei uns nie. So wie wir uns bei den ersten Shows in kleinen Punkclubs um den Van, um Benzin und Verpflegung gekümmert haben, so betreiben wir die Band bis heute. Das ist eine Menge Arbeit, aber für uns funktioniert es nur auf diese Weise.”

Eine Maxime, die sich vollends auszahlt: Zwischen den Polen Garage-Rock-Revival und den gleichzeitig hohen Popularitätswerten ihrer Landsleute in jenen goldenen Jahren Anfang bis Mitte der 00er Jahre, da Bands wie The Hellacopters, The Soundtrack Of Our Lives, Millencolin und etliche mehr höchst erfolgreich ihre Kreise ziehen, werden die Hives zur universellen Erfolgsstory, touren unablässig, räumen nicht nur live ab, sondern platzieren ihre Hits auch lukrativ in Computerspielen und Werbespots, Kinofilmen und TV-Serien.

Zurück zu den Wurzeln

Mit ihrem dritten Album “Tyrannosaurus Hives” von 2004 räumt die Band gleich fünf schwedische Grammys ab, ihr Video zur Single “Walk Idiot Walk” gewinnt bei den MTV Video Music Awards, im Jahr zuvor hatte der englische New Musical Express den Hives bereits einen zweifachen Ritterschlag erteilt, als “Künstler des Jahres” und “Rockband des Jahres”. Wenn es überhaupt noch Zweifel gab, dann sind sie nun endgültig vom Tisch: The Hives sind in der Beletage des Alternative Rock angekommen.

Ein Zeitpunkt wie gemacht für einen Karriere-Move, der im Rückblick zumindest diskussionswürdig erscheint. Hatte man sich zuvor gerade noch experimentell ausgetobt und versucht, stilistisch ein Verbindungsstück zwischen Kraftwerk und Devo herauszuarbeiten, wird nun zum kommerziellen Großangriff geblasen. Firesides Pelle Gunnerfeld, langjähriger Weggefährte und eine der entscheidenden Personalien in der Entwicklung des Bandsounds, ist out, die großen Namen sollen die Hives aufs nächste Level hieven: Timbaland und Pharrell Williams, Dennis Herring und Jacknife Lee.

Noch eine offenkundige Veränderung: “The Black And White Album” (2007) wird mit über einer Dreiviertelstunde Spielzeit zum bis dato längsten der Band. Die erste Auskopplung “Tick Tick Boom” reißt eine kommerzielle Schneise. NFL, NHL und WWE, gleich drei große Sportverbände schmücken ihre Übertragungen mit dem Song, der ebenfalls in Videospielen von Lego bis XBox zu hören ist. In einer Kooperation von Apple und Nike entsteht der “Black, White And Run”-Mix mit Hives-Material als Workout-Musik. Was nach außen kommerziell glänzt, wird intern zumindest hinterfragt. Die Erträge aus dem Nike-Deal überlässt die Band einer Anti-Sweatshop-Initiative. Fans der ersten Stunde tritt gleichzeitig der Schweiß beim Anblick des Tourplans auf die Stirn: The Hives touren nun im Vorprogramm von Maroon 5.

Der Spreizsprung in den noch tieferen Kommerz hat Konsequenzen. Schon die trefflich betitelte “Tarred And Feathered”-EP (2010) schreibt sich mit Coverversionen von unter anderem Songs der Zero Boys und Easybeats eine Art Rückbesinnung
auf die Fahne. Nach dem Ende der Majorlabel-Verträge gründet die Band mit Disques Hives ihr eigenes Label, für die Aufnahmen zum nächsten Album “Lex Hives” (2012) geht es zurück in die Heimat, zurück zu den Wurzeln, in Stockholm und Fagersta findet ein großer Teil der Produktion statt. Wiederum liegen fast fünf Jahre zwischen zwei Alben, der schlichte Grund: Die Band ist nach wie vor fast ununterbrochen auf Tour, zudem agieren die fünf diesmal als Produzenten-Team, eine Situation, die kreative Entscheidungen zuweilen schwer macht. Mit dem gesundheitsbedingten Ausstieg von Dr. Matt Destruction ändert sich zum ersten Mal das Line-up, seine Nachfolge gestalten die Hives mit historischer Logik. Den Bass übernimmt fortan The Johan And Only alias Johan Gustafsson aus den Reihen der Kollegen Randy, deren Sound in den 90ern zu den entscheidenden Einflussen des aufkommenden Rock-Phänomens aus Skandinavien zählt.

In den 10er Jahren wird es zunehmend ruhiger um die Band, die Touren sind getourt, die Songs gesungen, ab Mitte des Jahrzehnts gibt es nur noch vereinzelte Festivalauftritte. Der Faden wird gerade wieder aufgenommen, da macht das Corona-Virus einen Strich durch sämtliche Rechnungen. Die Single “I’m Alive” erscheint im Frühjahr 2019, mit den wiedervereinten Refused geht es auf US-Tour, am Schlagzeug ersetzt Joey Castillo (ex-QOTSA) Chris Dangerous, der sich bei einem vermeintlich kleinen Eingriff eine schwere Infektion zuzieht, die ihn außer Gefecht setzt.

Nach den “World Wide Web Shows” 2020 und einer Tour mit The Offspring melden sich The Hives am Vorabend der UK-Tour im Vorprogramm der Arctic Monkeys mit der Single “Bogus Operandi” zurück, im Clip zur zweiten Single “Countdown To Shutdown” gibt es ein Cameo-Wiedersehen mit Dr. Matt Destruction. Mit “The Death Of Randy Fitzsimmons” erscheint nun, elf Jahre nach “Lex Hives”, über ein Vierteljahrhundert nach “Barely Legal”, ein neues Album. Und der Grund für den langen Atem? Wie haben The Hives all das geschafft, wie haben sie derart hochtourig so lange durchgehalten? Die Antwort aus dem Munde von Pelle Almqvist ist so schlicht wie das Schwarz-Weiß ihrer Anzüge: “Weil wir einfach gut sind.”

Arson führt etwas weiter aus, auch mit Blick darauf, dass wenig bis nichts bekannt ist über interne Querelen. So etwas wie Band-Gossip gibt es nicht: “Wir kümmern uns umeinander, wir achten auf den anderen. Wenn du 25 Jahre in einer Band spielst, kannst du nicht davon ausgehen, dass das alles immer ganz geschmeidig abgeht und alle grundsätzlich einen klaren Kopf behalten. So läuft das einfach nicht. Umso wichtiger, dass man die Dinge miteinander bespricht und klärt.” Pelle hakt ein weiteres Mal ein. “Es dreht sich einzig und allein um die Band. Es geht um das, was wir geschaffen haben, nicht um die Typen dahinter, nicht um mich oder Nicholaus.”

Eine reife Einstellung für jemanden, der jüngst noch so treffend konstatierte, dass der Rock’n’Roll keine Vernunft, kein Erwachsenwerden vertrage. Interne Ruhe, externes Durchdrehen: Es scheint immer noch zu funktionieren, da reicht allein ein Blick in die Videos der beiden neuen Singles. Und was das Alter angeht, da sind die Almqvist-Brüder sich einig: Was die Stones, AC/DC und Iggy können, warum sollten das nicht auch The Hives schaffen? Überhaupt: Die Sache mit den Brüdern in einer Band, man muss nicht weit schauen, um zu sehen, wie schwierig bis zersetzend das sein kann. Wie haben die beiden es hinbekommen? “Früher war unser Verhältnis beschissen, wir haben uns nur gestritten. Dafür klappt es mit der professionellen Zusammenarbeit bestens”, erklärt Pelle Almqvist. “Heute ist es eher umgekehrt. Wir sind gute Freunde, dafür ist das Teamwork manchmal knifflig, wobei es da meist nur um blöde Details geht. Letztlich vertrauen wir einander und darauf, dass der andere einen guten Job macht. Es hat keinen Sinn, sich die Köpfe einzuhauen.” Bleibt der vorsichtige Blick in die Zukunft: Randy Fitzsimmons in den ewigen Jagdgründen, was bedeutet das für die Kreativarbeit, darf man schon nach der nächsten Platte fragen und wie das wohl laufen könnte? Pelle Almqvist lacht laut auf. “Nein, auf keinen Fall. Dazu bin ich nicht bereit. Wir haben zehn Jahre gebraucht, um dieses Album hinzubekommen. Das reicht erst mal!”

Auf der Zielgeraden

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Im Gespräch mit NME hatte Nick Cave im Mai erzählt, dass er sich mit den Bad Seeds im Studio befinden würde. Nun scheint das neue Album kurz vor der Fertigstellung zu stehen. Das teilte der 65-Jährige auf seinem Blog The Red Hand Files mit. Ausgangspunkt war die Frage eines Fans gewesen. Diese bezog sich darauf, ob Cave an das Konzept der Seelenverwandtschaft glauben würde. Eine Antwort auf die Frage hatte der Bad-Seeds-Frontmann nicht gegeben. Allerdings verwies er darauf, die zahlreichen Briefe erst nach Beendigung seiner Studioarbeit lesen und beantworten zu wollen.

Welche Richtung die Band diesmal einschlägt, lässt Cave nach wie vor offen und nannte auch ansonsten keine Details zur neuen Platte. Allerdings schließt er bereits im Mai aus, dass es eine “eine Bad Seeds-Platte der alten Schule” wird. “Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Nicht, dass das nächste [Bad Seeds]-Album ein Ambient-Album wäre – das ist es ganz und gar nicht – aber ich sehe einfach nicht, dass wir zu diesem grundlegenden Rock’n’Roll-Stil zurückkehren könnten. Ich weiß einfach nicht mehr, wie man das macht”, so Cave.

Vor einigen Monaten hatte er über den Kampf gesprochen, die mit der Arbeit an einem neuen Album einhergeht. Diesen Prozess verglich er mit einem “vertraute Gefühl eines Mangels, als wäre er ein dummes, leeres Ding in einem Anzug”. Daneben deutete er Pläne für ein neues Grindermann-Album an. 2019 hatten Nick Cave & The Bad Seeds ihr bisher letztes Studioalbum “Ghosteen” veröffentlicht.

Kindheitserinnerungen

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Nachdem Yellowcard 2022 beim Riot Fest in Chicago erstmalig wieder gemeinsam auf der Bühne gestanden hatten, gibt es nun neues Material der Pop-Punks: vor wenigen Tagen haben sie ihre EP “Childhood Eyes” herausgebracht. Damit ist es die erste Veröffentlichung seit ihrem Studioalbum “Yellowcard” (2016). Und die erste Veröffentlichung über ihr neues Label Equal Vision – ein Neuanfang seit der Pause vor sechs Jahren.

Wer allerdings ein unbeschwertes Pop-Punk-Revival der 1997 gegründeten Band erwartet hat, der hat die Rechnung ohne die vierköpfige Band gemacht. Die Leichtigkeit und den Bombastrock hatten sie bereits mit “Paper Walls” abgelegt, mit “Childhood Eyes” knüpfen sie daran an. Vor allem die von einem schnellen Beat begleitete Leadsingle lässt zwischen Optimismus immer wieder melancholische Momente durchscheinen – nicht zuletzt durch Sean Mackins Violinenspiel. Diese Momente werden auf “Hiding In The Light” zusätzlich verstärkt, wenn es heißt: “Now I choose life/ and I’ll get by/ and sing until the day I die”. Das hymnisch balladeske “The Places We’ll Go” hat die Band gemeinsam mit Dashboard Confessional-Frontmann Chris Carrabba aufgenommen. Zwischen Gitarrensolos, Violine und handwerklich ausgereiftem Songwriting, erzählen Yellowcard eine Geschichte vom emotionalen Ertrinken.

Bereits Ende Mai sagte Frontmann William Ryan Key über den Titeltrack: “Als wir mit dem Schreiben begannen, warf ich die Idee in letzter Minute in den Hut, nahm eine Gitarre in die Hand und versuchte zum ersten Mal, die Melodie in meinem Kopf zu vertonen, und ‘Childhood Eyes’ war geboren. Dieser Song handelt davon, dass man immer wieder besiegt, enttäuscht und betrogen wird, es aber trotzdem schafft, seine kreative Seele zu finden und weiterzumachen.”

Neben ihrer neuen EP hat die Band ihre Nordamerika-Tour angekündigt. Termine in Europa stehen bisher nicht an.

Yellowcard – “Childhood Eyes”

    1. 01. “The Places We’ll Go”
      02. “Honest From The Jump”
      03. “Hiding In The Light”
      04. “Childhood Eyes”
      05. “Three Minutes More”

Triumph statt Traum

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Das Londoner Grimepunk-Duo Bob Vylan veröffentlicht seine neue Single “Dream Big”. Im Song geht es darum, unter ärmlicheren Verhältnissen und von strukturellem Rassismus geprägt aufzuwachsen.

Sänger/Gitarrist Bobby Vylan und Drummer Bobbie Vylan haben das Beste daraus gemacht und zeigen im Musikvideo Material ihrer Shows von 2017 bis heute: Aufwärmen vor dem Hochbett, schwitzige Clubshows, über das Schlagzeug springen, bis hin zu den NME- und MOBO-Awards – alles mit dabei. Ein triumphaler Siegeszug des DIY-Duos.

Im breiten Spektrum von Bob Vylans Sound-Palette ist “Dream Big” instrumental eher im geradlinigen UK-Punk der Marke Slaves (nun Soft Play) zu verordnen. Aber auch Bobbys Flow in den gerappten Strophen schafft Dynamik; der repetitive Refrain mit den Worten “Dream big kid, kid dream big” heizt doppelt ein.

Ende des Jahres kommen Bob Vylan im Rahmen ihrer “Viva La Vylan Tour” auch für drei Termine nach Deutschland. Karten sind noch bestellbar.

Live: Bob Vylan

29.10. Köln – Luxor
30.10. Wiesbaden – Kesselhaus
01.11. Berlin – Cassiopeia

Konzertabbruch nach Kritik an malaysischer Regierung

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Am Wochenende wurde der Auftritt von The 1975 beim Good Vibes Festival in Kuala Lumpur vorzeitig abgebrochen. Grund: Frontmann Matty Healy hatte sich kritisch gegenüber der dortigen Regierung geäußert. So bezog er Stellung zur Kriminalisierung der Homosexualität in Malaysia. Unter anderem sagte er: “Es tut mir leid, wenn euch das beleidigt und ihr religiös seid und es Teil eurer verdammten Regierung ist, aber eure Regierung ist ein Haufen verdammter Idioten und es interessiert mich nicht mehr. Wenn ihr Druck macht, werde ich zurückschlagen.” Daneben kam es unter Applaus zu einem Kuss zwischen Healy und Bassist Ross MacDonald.

Kommunikations- und Digitalminister Fahmi Fadzil beendet allerdings nicht nur das Set der Indiepop-Band, sondern die gesamte Veranstaltung. Den Vorfall bezeichnete er als “Herabwürdigung und Verletzung der dortigen Gesetze”. In Malaysia steht Homosexualität unter Strafe und wird mit bis zu 20 Jahren Haft und einer Prügelstrafe geahndet. Im Gespräch mit der Taz äußerte der Vorsitzende der malaysischen LGBTQ-Organisation PLU (People Like Us) Gavin Chow zu den Ereignissen: “Bedauerlicherweise ist die Gegenreaktion auf die LGBTQ-Community in Malaysia nach dem Vorfall bereits im Gange und es werden in den nächsten Tagen wohl weitere Anti-LGBTQ-Narrative auftauchen.”

In Zuge dessen hat die Band auch ihre Konzerte in Indonesien und Taiwan abgesagt. In einem Statement heißt es: “Die Band nimmt die Entscheidung, eine Show abzusagen, nie auf die leichte Schulter und hat sich sehr darauf gefreut, für die Fans in Jakarta und Taipeh zu spielen, aber leider ist es aufgrund der aktuellen Umstände unmöglich, die geplanten Shows durchzuführen.”

Bereits 2019 hatte Healy bei einem Auftritt von The 1975 in Dubai Stellung zu den Rechten der LGBTQIA+-Community bezogen. Damals hatte er einen männlichen Fan geküsst. Damit wollte er ein Zeichen gegen die Diskriminierung Homosexueller in den Vereinigten Arabischen Emiraten setzen. In Dubai steht Homosexualität ebenfalls unter Strafe.

Seit 2012 veröffentlicht die Spartacus-Redaktion den Gay Travel Index. Bezüglich der Reisesicherheit soll der Index queeren Menschen als Orientierung dienen. 202 Länder und 50 US-Staaten werden nach einem eigenen Punktesystem miteinander verglichen und bewertet. Malaysia befindet sich aktuell auf Rang 188. Deutschland auf Rang neun.

Daneben veröffentlicht die ILGA World jährlich Weltkarten, um auf Gesetzeslage für die LGBTQIA+-Community aufmerksam zu machen. So hat ILGA Asia im November vergangenen Jahres in einem Bericht darauf hingewiesen, dass es für queere Menschen in Malaysia kaum noch soziale Räume gibt, in denen sie sich frei bewegen können. Dabei hat die Organisation auf ihrer Website im Detail diejenigen Gesetzte aufgelistet, die die Rechte der queeren Community einschränken. So werden unter anderem geschlechtsangleichende Operationen und gleichgeschlechtlicher Sex unter Strafe gestellt.

Bands und Label beenden Zusammenarbeit

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Erste Konsequenzen nach der überraschenden Auflösung von Anti-Flag im Zuge der Vorwürfe gegen Sänger Justin Sane: Die Bands Wolves & Wolves & Wolves & Wolves, Hanalei, American Television, Celebration Summer und The Darien Gap haben ihre Zusammenarbeit mit Anti-Flags Label A-F Records beendet. “Glaubt den Opfern. Glaubt den Überlebenden. Schlicht und einfach. Wir sind angewidert und enttäuscht”, verkündeten etwa Wolves & Wolves & Wolves & Wolves ihren Abschied vom 1998 gegründeten Indielabel. Es wurde damals von der engagierten Polit-Punk-Band vor allem ins Leben gerufen, um mehr politisch motivierte Punkbands einem größeren Publikum bekannt zu machen.

Celebration Summer erklärten zu ihrem Abschied: “Obwohl das A-F-Records-Management kein Teil der Vorwürfe ist, ist es bedauerlich, dass sie sich entschieden haben, das Problem nicht schon vorher publik gemacht zu haben. […] Wir bedanken uns für all die Unterstützung bis hierhin, aber wir können nicht guten Gewissens mit dem Label verbunden sein.”

Auch Label Get Better Records, das für zwei Veröffentlichungen auf Kassette mit Anti-Flag kooperiert hatte, beendete die Zusammenarbeit: “Diese Anschuldigungen sind sehr ernst und dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Wir werden die Band nicht länger promoten oder die Kassette, die wir neu aufgelegt haben, verkaufen.”

Des Weiteren hat sich die gemeinnützige Organisation Punk Rock Saves Lives von Justin Sane, der zuvor sogar im Vorstand war, getrennt. “Der Vorstand und die Mitglieder von PRSL haben diese Entscheidung in dem Wissen getroffen, dass die ganze Geschichte noch nicht aufgeklärt ist. Wir treffen diese Erklärung und Entscheidung jedoch im Interesse unserer Gemeinschaft und im Einklang mit unseren Grundwerten.” Die Organisation ist laut eigener Beschreibung “ein Katalysator für die Punk-Rock-Gemeinschaft, die sich auf Veranstaltungen mit Gesundheitsfragen, Gleichberechtigung, Menschenrechten und vielem mehr beschäftigt.”

 

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Ein Beitrag geteilt von Punk Rock Saves Lives (@punkrocksaveslives)

Am 19. Juli hatten sich Anti-Flag ohne Angabe von Gründen aufgelöst. Die Ankündigung erfolgte aber, nachdem in einem einstündigen Podcast-Interview schwerwiegende Vergewaltigungsvorwürfe gegen einen nicht namentlich genannten “Sänger einer politischen Punkband” erhoben wurden. Durch die detaillierte, auch zeitlich nachvollziehbare Erzählung des mutmaßlichen Opfers und einigen Indizien vermuten viele, dass es sich daher um Frontmann Justin Sane handelt. Anti-Flag haben bislang noch nicht öffentlich auf die Anschuldigungen reagiert. Sämtliche Social-Media-Kanäle der Bandmitglieder wurden deaktiviert. Auch die Webseite der Band sowie die Webseite von A-F Records sind nicht mehr verfügbar.

VISIONS hatte im Zuge der Auflösung eine Anfrage mit Bitte auf Stellungnahme zu den Gründen der Auflösung und den Vorwürfen ans Management geschickt. Eine Antwort steht noch aus.

Nichts über uns ohne uns

Die Begriffe “Barrierefreiheit” und “Inklusion” sind untrennbar miteinander verknüpft. Ohne Barrierefreiheit ist kein inklusives Konzertpublikum denkbar, ohne Inklusion rücken manche Barrieren gar nicht erst in den Fokus, wo sie dann im besten Fall abgebaut werden können. Das Ziel unter der Bündelung von Barrierefreiheit und Inklusion ist die Beteiligung aller Menschen am gesellschaftlichen Leben und das Schaffen von Strukturen, die das auch erlauben, egal ob auf Festivals, in Clubs oder beim Stadionkonzert. Geregelt ist das in Deutschland seit 2002 durch das Behindertengleichstellungsgesetz. Nur: In der Umsetzung funktioniert das nicht immer reibungslos.

Uwe Niksch ist Fan der Red Hot Chili Peppers und schwärmt davon, wie es sich im vergangenen Jahr angefühlt hat, sie wieder vereint mit Gitarrist John Frusciante live zu sehen – ein denkwürdiger Moment. Der in Berlin lebende Musikliebhaber und Rollstuhlfahrer besucht zwischen zehn und zwölf Konzerte im Jahr, “je nachdem, wie viele Lieblingsbands gerade auf Tour sind.” Für VISIONS zeichnet er nach, welche Erfahrungen er bisher mit physischen und systemischen Hindernissen gemacht hat.

Die Hürden beginnen teilweise schon beim Ticketkauf und dem Anmelden einer Begleitperson für Assistenztätigkeiten. Zum Mitbringen berechtigt zwar eine Kennzeichnung im Ausweis, jedoch ist diese ohne spezielles Ticket oft nicht gültig. Vor allem online, beim Kauf über große Plattformen wie Eventim, ist es laut Niksch oft Glückssache, ob man die Option “Rollifahrer:in mit Begleitung” direkt anklicken kann oder sich in eine zeitaufwendige Telefon-Odyssee begeben muss: “Manchmal steht unten ‘Rollifahrer:innen melden sich bitte unter dieser Nummer.’ Dann hänge ich mindestens 50 Minuten in der Warteschleife, nur um zu erfahren, dass das Ticket unter dieser Hotline gar nicht gebucht werden kann. Stattdessen erhalte ich die Nummer einer anderen Hotline zum Veranstaltungsort, wo ich bitte noch mal anrufen soll.”

Foto: Maren Michaelis

»Diese Opferrolle, damit komme ich nicht gut klar.«
Uwe Niksch

Dieses Szenario wird bei heißbegehrten Tickets schnell zur Abwägungssache. “Das beeinflusst schon, wo ich hingehe und ob ich die Begleitperson überhaupt vorher anmelde”, so Niksch. “Oder mich nicht doch lieber vor Ort mit den zuständigen Leuten herumärgere. Aber manchmal lassen sie mich dann nicht rein. Das nervt auf jeden Fall, weil Tickets oftmals begrenzt sind.” Wenn möglich, geht der 35-Jährige lieber zu seiner lokalen Konzertkasse in Kreuzberg – die allerdings keine Tickets für große Venues vertreibt.

Wo ein Konzert stattfindet und wie der Veranstaltungsort konzipiert ist, versucht Niksch grundsätzlich vorher in Erfahrung zu bringen. Die Zugangsmöglichkeiten und Rollstuhlplätze, so vorhanden, variieren: von der Tribüne mit Rampe über freie Platzwahl bis zum Zugang nur durch den Backstagebereich oder per Hebelift, für den man den Schlüssel erst anfordern muss. Der jeweilige Umstand diktiert auch die Anreisezeit: “Ich versuche, nicht allzu knapp anzukommen”, sagt Niksch, “damit es nicht so hektisch wird, denn manchmal ist das Personal, das einen zum Platz bringt, aufgeregt, weil dann schon alles voll ist und sie mich durch die Masse begleiten müssen. Aber wenn ich weiß, dass ich durch den Seiteneingang muss, wo keine Leute sind, muss ich auch nicht eine Stunde vorher da sein.”

Ein weiterer Punkt, der direkt zum Aspekt der Inklusion führt und leider mancherorts daran vorbei: “Vergangenes Jahr war ich bei den Gorillaz und bei Kummer in der Wuhlheide, aber nur, weil ich sie unbedingt sehen wollte. Es gibt dort nämlich einen gesonderten, abgesperrten Bereich, in den alle Rolli-Fahrer:innen müssen. Das finde ich immer eine komische Situation, wenn ich abgeholt und zu den anderen Rolli-Fahrer:innen geleitet werde, obwohl ich woanders einen echt sicheren Platz habe.” Zwar weiß Niksch, dass bestimmte Vorgaben aus gutem Grund bestehen, findet aber, Konzertbesucher:innen mit Behinderung sollte an dieser Stelle mehr Eigenverantwortung zugestanden werden, so wie anderen Besucher:innen auch: “Ich weiß, dass ich bei einem Rockkonzert nicht in der ersten Reihe stehe, weil ich Pogen nicht mitmachen kann oder übersehen werde. Diesen Gedanken muss ich aber selbst fassen. Bei Konzerten, wo es nicht diese krasse Energie gibt, wippe oder schwinge ich einfach nur mit. Und da wäre es für mich in Ordnung, bei meinen Freunden in der Masse zu stehen, anstatt allein am Rand.”

Sprich es an

Das wichtigste Werkzeug ist die Kommunikation. “Um herauszufinden, was vor Ort möglich ist, sprich darüber”, so Niksch. Schon allein deshalb, weil nicht alles im Vorfeld planbar ist. “So ein Konzert ist dynamisch. Die Leute bewegen sich, es wird voll an einer Stelle und mich sieht man dann manchmal nicht so gut. Die Leute rempeln oder fallen dann während des Konzerts oftmals über mich, weil sie mich nicht sehen. Es ist anstrengend, sich Gehör und Platz verschaffen zu müssen. Weil es dabei auch darauf ankommt, wie man mit den Leuten umgeht.”

Gespräche kommen jedoch oft auch mit anderen Konzertbesuchern zustande. Zum einen treffen sich Rollstuhlfahrer:innen mit ähnlichem Musikgeschmack auf der ein oder anderen Veranstaltung wieder, zum anderen gibt Niksch gern Auskunft, wenn sich andere Konzertgänger an ihn wenden – zumindest, wenn der Ton stimmt. “Manchmal fragen mich Leute: ‘Wie bist du reingekommen? Ich habe vorne bloß die Stufen gesehen und ich habe auch einen Kumpel, der gerne auf Konzerte geht und im Rollstuhl sitzt.’ Dann erkläre ich das gerne. Im Gegensatz zu Leuten, die das Gespräch mit Sätzen beginnen wie: ‘Ach, schön, dass du hier bist. Ich könnte mir das ja gar nicht vorstellen in deiner Situation.’ Diese Opferrolle, damit komme ich nicht gut klar.”

Gute Kommunikation ist auch der Schlüssel beim Zusammentreffen mit dem Personal, das je nach Venue oft gut geschult ist und Grundregeln in jedem Fall beachtet. So ist das Schieben des Rollstuhls erst nach vorheriger Absprache gestattet. “Es ist nämlich wichtig”, sagt Niksch, “dass die Leute einen nicht einfach anfassen, egal ob man Rollstuhlfahrer ist oder ein Mensch mit einer Sehbehinderung. Sie müssen vorher fragen, danach ist alles easy. Oftmals ist es cool, wenn ich noch die Frage gestellt bekomme, ob ich mich im Venue auskenne oder ob man kurz erklären soll, wo alles ist.”

Zum Konzertsaal und zur Toilette geht es für Uwe Niksch per Fahrstuhl (Foto: Maren Michaelis)

Besonderes Fingerspitzengefühl ist gefragt, wenn die Personen auf der Bühne auf das Konzertpublikum mit Einschränkungen aufmerksam machen. Wie man dafür die richtige Balance findet, erlebte Niksch vor einigen Jahren bei einem Billy Talent-Konzert in einem kleinen Kellerclub: “Da hat die Band gesagt: ‘Wir haben hier vorne einen Rolli-Fahrer. Passt ein bisschen auf und achtet auch auf die Person neben euch!’ Ich fand es cool, dass die das kurz angesprochen und gleichzeitig alle für den Nachbarn sensibilisiert haben.”

Ein anderer wichtiger Aspekt in der Kommunikation ist das Feedback, das für Veranstalter wertvoll sein könnte, würde nicht häufig eine zentrale Stelle fehlen, um es abzugeben. Bleibt also nur, eigenverantwortlich tätig zu werden. “Wenn ich sehe, dass jemand vom Veranstaltungsteam vor Ort ist, versuche ich schon, mir die- oder denjenigen zu schnappen”, so Niksch. “Aber oftmals ist es bei Venues kaum möglich, etwas zu verändern, weil die Sicherheitsvorkehrungen und Brandschutzverordnungen sehr eng gesteckt sind. Bei Festivals ist es schon eher möglich, Tipps und Hinweise zu geben, wie man zum Beispiel Rollifahrer Barrieren einfacher umfahren lassen kann.”

Am Ende sind es trotz aller mehr oder weniger präsenten Widrigkeiten die angenehmen Begegnungen, die hängen bleiben, möchte Niksch unbedingt klarstellen: “An sich komme ich mit den Leuten gut ins Gespräch und kann mit ihnen auch tanzen. Dann ist es gut zu spüren, dass die Behinderung keine Rolle spielt, sondern nur die Sicht auf die Musik und das gemeinsame Erlebnis. Das macht die anderen Erfahrungen wieder wett. Oder sie scheinen nicht mehr so schlimm.”

“Metalheads mit Einschränkungen”

Ein gutes Beispiel dafür, wie eine Umsetzung von Barrierefreiheit auf einem großen Festival aussehen kann, gibt derzeit das Wacken Open Air ab: “Infobroschüre für Metalheads mit Einschränkungen” nennen die Veranstalter ihr Infoheft, das zahlreiche Themen unter einen Hut bringt und das sie in diesem Jahr erstmals auch als Audioversion für Sehbehinderte herausgegeben haben, eingesprochen von Beyond-The-Black-Sängerin Jennifer Haben. Darin finden sich unter anderem Hinweise zu den Tickets. Den von Niksch angesprochenen Telefonmarathon beim Ticketkauf umgeht das Wacken Open Air laut Broschüre komplett: “Es gibt keine gesonderten Tickets für Metalheads mit Einschränkung. […] Sollte ein Schwerbehindertenausweis mit dem Merkbuchstaben ‘B’ vorliegen, berechtigt dies, eine Begleitperson kostenlos mit auf das Festival zu nehmen.”

Zudem weist das Wacken Open Air mit der “Wheels Of Steel Area” einen separaten, bühnennahen Campingbereich für Festivalbesucher mit Einschränkungen aus. Der erfreut sich einer derart hohen Nachfrage, dass die Anzahl mitreisender Freunde pro Parzelle in diesem Jahr auf vier begrenzt ist. Diese Deckelung soll aber nicht final sein, sondern unter Umständen, je nach Bedarf und Nachfrage, angepasst werden.

Im Merkblatt ist also ausführlich beschrieben, was eines der größten Metal-Festivals der Welt leisten kann – aber auch, was nicht: “Leider können wir als Wacken Open Air nur in wenigen Bereichen eine Barrierefreiheit bieten. Wir feiern auf einem Acker (!), und dieser Acker wird matschig werden, sobald es regnet. Es kann also immer notwendig sein, dass ihr Hilfe benötigt. Bitte wählt eure Begleitperson mit Bedacht aus.” Sollte einem Besucher keine Begleitperson zur Verfügung stehen, verweist der Text weiter auf die “Buddies” von der Initiative Inklusion Muss Laut Sein (siehe Kasten).

Jenseits der Ideale

Wie Inklusion innerhalb eines Bandgefüges funktionieren kann, zeigt die Hamburger Band Station 17, die seit 33 Jahren in wechselnder Besetzung Krautrock, elektronische Musik und Noiserock vereint. Gegründet wurde sie 1989 von Heilerzieher Kai Boysen als Musikprojekt einer Wohngruppe der evangelischen Stiftung Alsterdorf. Keyboarder Sebastian Stuber ist seit 2000 Teil der Gruppe und konnte so sein Hobby zum Beruf machen. Gitarrist Nils Kempen stößt einige Jahre später hinzu. Er erinnert sich noch gut, wie ihm Station 17 bereits als Teenager ein Begriff waren: “Mit 18 habe ich in alternativen Hamburger WGs rumgehangen, wo Poster von Station 17 hingen. Jetzt spiele ich selbst in der Band.”

Bei Station 17 spielen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen – ein immer noch besonderes Merkmal, das Kempen lieber als kaum erwähnenswerte Normalität sähe: “Wir sind uns unseres Nachrichtenwerts bewusst und wollen das auch nicht verschweigen. Wir reden gerne darüber, aber letztendlich wollen wir natürlich einfach Musik anbieten. Von wem die gemacht worden ist, das ist zweitrangig.” Den Grund für den Berichtsduktus über Station 17 vermutet Kempen in den gelernten Strukturen des Musikgeschäfts: “Der Musikmarkt ist nicht für Inklusion ausgerichtet. Das ist auch eine Barriere. Es geht um bestimmte Punkte, die erfüllt werden müssen, Schönheitsideale oder Körperbewegungen, die man von Pop-Acts erwartet. Für uns spielt das alles keine große Rolle, wir wollen für die Menschen, die es interessiert, die Musik machen, die uns gefällt.”

Foto: Tim Bruening

»Wir haben über die Jahre gelernt, aufeinander zu achten.«
Nils Kempen, Station 17

Damit befinden sich Station 17 historisch gesehen in guter Gesellschaft, denn die Musikwelt ist voll von Beispielen dafür, dass Behinderungen jeglicher Art irrelevant sind für kreatives Talent: Das fängt bei Ludwig van Beethoven an, der sich von seinem schwindenden Gehör nicht vom Komponieren abhalten ließ. Im Soul geht es weiter mit Stevie Wonder und Ray Charles, deren Sehbehinderung in Bezug auf das musikalische Werk maximal eine Randnotiz wert ist. Es touchiert Paul Stanley von Kiss, der mit nur einer Ohrmuschel und auf einem Ohr taub geboren wurde, und Pop-Genie Brian Wilson, der durch einen Unfall (oder den gewaltsamen Vater, da sind sich Quellen uneins) bereits seit seiner Kindheit auf seinem rechten Ohr nahezu taub ist. Rick Allen von Def Leppard trommelt seit einem Autounfall 1984 einarmig, Robert Wyatt (Soft Machine, Matching Mole) lässt sich von seiner Querschnittslähmung nicht aufhalten. Eric Howk von Portugal. The Man auch nicht. In der finnischen Punkband Pertti Kurikan Nimipäivä spielen Mitglieder mit geistigen Behinderungen. Und so weiter.

Die Live-Logistik

Aktuell stehen für Station 17 im Zuge des neuen Albums “Oui Bitte” einige Liveshows an, auf die Stuber, der mit einer Sehbehinderung lebt, schon hinfiebert: “Ich freue mich auf die Leute. Ich sehe sie zwar nicht, aber ich höre sie. Und die Stimmung springt natürlich über.” Eine kleine Anekdote dazu hat er auch parat: “Als wir nach der langen Lockdown-Zeit wieder das erste Konzert gespielt haben, das war eine geile Stimmung. Hätte man mir nicht gesagt, dass das ein Sitzkonzert gewesen ist, hätte ich das nicht mitbekommen.”

Barrierefrei sind die Shows dann nicht für alle Bandmitglieder. Eine gewisse Anpassung sei unumgänglich, so der Keyboarder: “Manchmal lassen die Leute irgendwelche Sachen rumstehen oder die Bühne ist eng und dann wackelt es auch noch überall. Ich kann auch nicht kurz auf die Bühne kommen und dann wieder gehen. Jemand muss mich führen, ich bin also durchgehend 90 Minuten auf meiner Position auf der Bühne. Einer meiner Bandkollegen schnappt sich manchmal das kabellose Mikrofon und geht ins Publikum, da denke ich dann schon: ‘Wie geil, er geht jetzt runter und macht seine Show.'”

Seit 33 Jahren inklusiv: Station 17 mit Sebastian Stuber (m.) und Nils Kempen (r.) – Foto: Tim Bruening

Die Frage, wo Veranstalter mehr machen könnten für barrierefreie Konzerte für Künstler und Publikum, finden Stuber und Kempen schwer zu beantworten, gerade mit Blick darauf, wo man am besten ansetzt und welche Anmerkungen letztendlich sinnvoll erscheinen: “Kleine Kulturbetriebe haben oft nicht die Möglichkeiten, viel an ihren Setups zu ändern”, sagt Kempen. “Deswegen nehmen wir das mitunter hin. Wir haben über die Jahre gelernt, aufeinander zu achten, potenzielle Barrieren zu umgehen und uns gegenseitig zu unterstützen.”

Ein Ereignis, das Stuber nachhaltig beeindruckt hat, zeigt, wie aus einer schwierigen Situation ein einfaches Ultimatum werden kann: “Bei einem Konzert des Hamburger Konservatoriums fehlte die Rampe für den im Rollstuhl sitzenden Sänger der Konservatoriumsband. Dann hat der Chef der Band gesagt: ‘Das kann doch wohl nicht so schwer sein. Entweder packt ihr da eine Rampe hin oder wir spielen heute nicht.’ Die Rampe war in kürzester Zeit organisiert.” Auch die häufigere Hilfestellung für hörbeeinträchtigtes Konzertpublikum fällt den Bandmitgliedern positiv auf. “Wir reden die ganze Zeit von räumlicher Barrierefreiheit, aber es gibt noch viel mehr Barrieren”, sagt Kempen. “Für Gehörlose zum Beispiel haben wir bei großen Events oft Gebärdenperformer. Die sind nicht Teil unserer Crew, sondern werden von den Veranstaltern dazugebucht.”

Verrückt nach Musik

Einer ungewohnten, anpassungsfordernden Situation sieht sich Walter Hoeijmakers gegenüber. Der Mann, dessen Name synonym für das Roadburn Festival im niederländischen Tilburg steht (wenn ihn Fans nicht gleich “Walter Roadburn” nennen), hat seit anderthalb Jahren eine starke Sehbehinderung. “Ganz ehrlich?”, sagt er. “Davor hätte ich mir nicht vorstellen können, wie es ist, fast vollständig blind zu sein. Jetzt, wo ich es selbst erlebe, gewöhne ich mich nur langsam an dieses neue Leben.”

Das Festival mit seinen avantgardistischen Ansätzen zwischen Psychedelic Rock, Doom, Hardcore und Metal ist für seine außergewöhnlichen Shows rund ums 013 Venue im Zentrum Tilburgs bekannt, die oft genug Brutstätte für einzigartige Livealben sind, ein Liebhaberfestival für Bands und Besucher gleichermaßen. Hoeijmakers ist der Mann mit der Vision, Mitbegründer und künstlerischer Leiter – und seit kurzem gezwungen, seine Arbeitsweisen anzupassen. “Ich bin nicht nur das Gesicht des Festivals, vielmehr ist es um mich herum entstanden. Ich habe die Bands selbst gebucht und die künstlerische Ausrichtung jeder Festivalausgabe bestimmt. Ich habe etwa die Kunstausstellungen im Rahmenprogramm mit ausgewählt. Das geht jetzt nicht mehr. Jetzt leite ich Leute an, die die Bands buchen, bestimme aber immer noch, in welche Richtung wir gehen. Ich stelle das Netzwerk und die Inspiration zur Verfügung und versuche mit meiner Erfahrung so gut es geht zu beraten und zu führen. Es ist jetzt eine Teamarbeit.”

Für Hoeijmakers ist es eine umfangreiche, oft energiezehrende Aufgabe, all die eingeschliffenen Routinen anzupassen: “Ich bin andauernd damit beschäftigt meine Berufung zu erhalten. Ich versuche weiterhin, Walter zu sein, der Typ, der beim Roadburn alles rund um die Musik bestimmt. Dazu brauche ich jetzt ein gutes Netzwerk von Leuten, die bereit sind, mich zu begleiten durch alles, was anfällt. Das versuche ich im Moment zu etablieren.”

Foto: Seyi Cadmus

»Ich möchte unter keinen Umständen darauf verzichten, auf dem laufenden Festival greifbar zu sein.«
Walter Hoeijmakers

Die Nachbereitungen der 2023er Festivalausgabe mit Headlinern wie Deafhaven oder Cave In sind gerade abgeschlossen, da haben Hoeijmakers und sein Team ihre Fühler schon wieder ausgetreckt Richtung Untergrund, um die besten neuen Bands für das Roadburn 2024 zu entdecken. Gleichzeitig ist für den selbsterklärten Musiknerd jeder Tag mit neuen Herausforderungen und Lernschritten verbunden: “Ich habe sehr viel gelernt, um mit meiner Behinderung umzugehen. Vorher habe ich praktisch online gelebt, dort alles über neue Bands nachgelesen. Jetzt bin ich darauf angewiesen, dass mir jemand von einer Band erzählt. Ich werde zum Beispiel nach unserem Gespräch online gehen und versuchen, mehr über Station 17 herauszufinden, weil du die Band erwähnt hast und ich jetzt neugierig auf ihre Musik bin. Ich brauche also zuerst den Bandnamen von dir. Früher wäre mir das einfach so zugeflogen, weil ich regelmäßig VISIONS, Pitchfork und all diese Magazine lesen konnte.”

Seit kurzem lässt sich Hoeijmakers Magazine vorlesen und stößt auf ganz neue Hürden: Ellenlange Linkbeschreibungen von Youtube-Videos, in denen sich irgendwo ein Bandname versteckt, Bilder, Werbung, Emojis auf Webseiten, die Vorleseprogramme zusammen mit dem Fließtext vorlesen. All das erfordert Konzentration: “Ich mache jetzt alles über das Hören. Das ist die größte Herausforderung in der Roadburn-Organisation. Ich muss die ganze Zeit zuhören. Menschen sprechen mit mir, mein Tablet und mein Smartphone sprechen mit mir. Das ist manchmal ziemlich ermüdend.”

Dass Hoeijmakers das Visuelle der Liveperformance fehlt, erschwert die Sache zusätzlich. Nicht sehen zu können, wie sich die Künstler:innen zur Musik bewegen, welches Charisma sie versprühen, fehlt ihm. Das ist für ihn aber kein Grund, Livekonzerten den Rücken zu kehren, gerade erst hat er eine Swans-Show besucht, bei der die Energie greifbar intensiv war. “Es fühlt sich zwar schräg an, Leute fragen zu müssen, wie die Band aussieht und was auf der Bühne gerade passiert, aber das Gefühl ist immer noch das alte, mein Körper und mein Geist sind immer noch verrückt nach Musik. Außerdem” – Hoeijmakers lächelt – “bin ich immer noch ziemlich gut darin, neue Bands zu entdecken.”

Greifbar

Auch auf dem Festival an sich ist Hoeijmakers nach wie vor jedes Jahr unterwegs, sitzt in Panels, ist ein Teil des Ganzen. Im laufenden Festivalbetrieb helfen ihm Kleinigkeiten. So gibt es jedes Jahr einen Hinweis in den sozialen Medien des Roadburn, der Festivalbesucher im Vorfeld für Hoeijmakers’ Sehbeeinträchtigung sensibilisiert und um das Einhalten von Regeln für die direkte Kommunikation bittet. Die sind leicht umzusetzen, müssen aber zuerst ins Bewusstsein von Sehenden gebracht werden: einfache Umgangsformen wie “Sag deinen Namen, damit er weiß, wen er gerade vor sich hat, und vermeide Berührungen, bevor du dich vorgestellt hast” bringen große Erleichterung mit sich im naturgemäß wuseligen Festivalalltag – den der 58-Jährige nach wie vor braucht. “Ich möchte unter keinen Umständen darauf verzichten, auf dem laufenden Festival greifbar zu sein. Ich laufe umher mit jemandem, der mich führt, rede mit den Leuten und höre ihnen zu, was sie über die Musik und die Bands berichten.”

Schwierig findet Hoeijmakers die Frage, wie er das Festival nun erlebt, denn oft erfährt er Dinge erst im Nachhinein. “Bevor meine Sehkraft beeinträchtigt war, habe ich mir alles angesehen, was für ein Publikum da ist, habe sichergestellt, dass ich genau Bescheid wusste, was gerade wo los ist, aber auch, wie es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gerade geht. Das geht jetzt ebenfalls nicht mehr. Ich habe aber nach dem diesjährigen Festival gehört, dass viele neue, jüngere Menschen da waren und auch viele Besucher aus der queeren Gemeinschaft, die Farbe in die Menge gebracht haben. Natürlich macht mich das als Veranstalter stolz, aber erst nachdem mir berichtet wurde, dass ich auch stolz sein kann.” Am meisten fehlen Hoeijmakers in der Kommunikation Körpersprache und Augenkontakt. “Ich verstehe Körpersprache nicht mehr, sehe keine Handzeichen und kann auch nicht erkennen, ob mein Gegenüber vor Freude funkelnde oder mit Tränen gefüllte Augen hat, ob er oder sie glücklich oder traurig ist. Es ist immer noch wundervoll, auf dem Festival umherzulaufen, aber manchmal kann es sich auch sehr einsam anfühlen.”

Weiterhin auf dem Roadburn unterwegs: Hoeijmakers bei einem der zahlreichen Panels (Foto: Paul Verhagen)

Hoeijmakers muss sich als Veranstalter vielen neuen Anforderungen stellen, aber auch im Alltag. Allein bei seiner beeindruckenden Plattensammlung, die während des Interviews im Hintergrund seines Arbeitszimmers sichtbar ist, ist ganz neue Vorsicht geboten. “Noch so eine Sache”, sagt er. “Ich bin stolz auf meine Sammlung und sehr froh, dass ich immer noch Platten abspielen kann. Ich habe etwa 50 Alben, bei denen ein Kratzer kein Beinbruch wäre, aber dann sind da noch 4.000 andere Platten, viele Originale, Erstpressungen aus den 60ern und 70ern, da wäre es sehr schmerzhaft, sollte beim Auflegen etwas schief gehen. Daran hätte ich früher keinen Gedanken verschwendet.” Auch zum Thema Livemusik offenbart sich plötzlich eine neue Einstellung: “Das klingt jetzt wahrscheinlich schräg, aber ich merke, dass ich, obwohl ich das Visuelle natürlich vermisse, nicht mehr davon abgelenkt bin. Ich spüre plötzlich kleinste Veränderungen in der Energie der Menge, wenn auf der Bühne etwas Aufregendes passiert. Das ist ein intensives Gefühl für mich und es hilft mir sehr, mit allem weiterzumachen.”

Diese eigenen, noch frischen Erfahrungswerte auf die Organisation eines großen Festivals zu übertragen, ist dabei eine Aufgabe, der sich Hoeijmakers im Moment nur mit sehr kleinen Schritten nähern kann. Vieles, was zum Thema Barrierefreiheit umgesetzt wird, fällt in den Verantwortungsbereich des 013 Venue, das unter anderem die Hauptbühne des Roadburn stellt. Für Hoeijmakers ist es noch zu früh, sich neben allem, was als künstlerischer Leiter zu leisten ist, auch dort mit einzubringen. In Zukunft wird er dem Festival jedoch Stück für Stück mit wertvollem Feedback zur Seite stehen können, so seine Prognose: “In der Hinsicht ist unser Gespräch auch eine Inspiration für mich. Ich werde bei den nächsten Treffen zum Roadburn 2024 hier und da Fragen stellen, wie wir bestimmte Dinge handhaben und was wir verbessern können.”

Es beginnt im Kopf

Bei all den verschiedenen Erfahrungen bleibt die Frage, wo man als Veranstalter am besten anfängt, wenn man es sich zum Ziel setzt, Konzerte, Festivals oder generell Events so barrierefrei wie möglich zu gestalten, um Inklusion gewährleisten zu können. Hier kommt Handiclapped e.V. ins Spiel. Seit 15 Jahren richtet der Berliner Verein regelmäßig barrierefreie Veranstaltungen vom Punkkonzert bis zum HipHop-Event aus. Mitbegründer Peter Mandel fasst zusammen, wie es dazu kam: “Wir haben uns gefragt, wieso so wenige Menschen mit Behinderung auf Konzerten zu sehen sind und sind bei drei Gründen gelandet: Entweder finden die Konzerte zu einer zu fortgeschrittenen Uhrzeit statt oder sie sind zu teuer – oder aber sie sind nicht barrierefrei. An diesem dritten Punkt haben wir angesetzt. Wir wollten diese Gruppe Menschen für eine gleichberechtigte Teilhabe aktivieren und mit einbeziehen.” Seit den ersten barrierefreien Konzerten 2008 ist viel passiert. Handiclapped ist gewachsen und parallel mit dem Verein seine Ideen und Anknüpfungspunkte. Heute finden neben barrierefreien Konzerten mit inklusiven Bands in Berlin auch im umliegenden Brandenburg Veranstaltungen statt, es gibt eine Radiosendung und alle zwei Jahre einen Fachkongress zum Austausch von Ideen und Erfahrungswerten.

Darüber hinaus bietet Handiclapped Beratungen an für Veranstaltungen in der Größenordnung bis 500 Besucher, denn oftmals ist die Starthilfe, die Struktur, der entscheidende Punkt, so Mandel: “Wer merkt, dass er bei der Umsetzung von Barrierefreiheit an seine Grenzen stößt, kann sich bei uns melden. Wir beraten dann vor Ort, wenn gewünscht, vielleicht helfen aber auch schon allgemeine Informationen. Wir haben auch mal – ganz simpel, aber effektiv – einen Sticker entwickelt, auf dem ‘Barrierefreier Veranstaltungsort’ steht. Den konnten sich die Veranstalter an die Tür heften, um das deutlich zu signalisieren.”

Für ihn sind Barrierefreiheit und Inklusion ein stetiger Prozess: Peter Mandel (r.) auf einer Handiclapped-Veranstaltung (Foto: Martin Sommer/[c] und [p] Handiclapped)

»Einfach nur eine Rollstuhlrampe hinzustellen, langt nicht.«
Peter Mandel, Handiclapped e.V.

Auf die Liste für ein barrierefreies Konzert gehört vieles. Das beginnt bereits mit der Wahl der Formulierungen im Vorfeld. “Wichtig ist, dass man keine langwierigen Ankündigungen macht”, so Mandel, “sondern für Menschen mit Leseschwierigkeiten in leichter, einfacher Sprache formuliert. Dann geht es auch darum, dass während der Veranstaltung vielleicht Gebärdensprachdolmetscher vor Ort sind und alles mit gut sichtbaren Piktogrammen mit deutlichem Schwarz-Weiß-Kontrast ausgeschildert ist. Außerdem sollte es an den Getränkeständen Klappen oder Lücken in den Theken geben, damit auch Menschen im Rollstuhl guten Zugang haben. Wir haben einen ganzen Katalog aufgestellt, mit dem wir beratend zur Seite stehen. Was klar ist: Einfach nur eine Rollstuhlrampe hinzustellen, langt nicht.”

Der allererste Schritt ist für Mandel aber ein anderer. Es fällt schwer, als Mensch ohne Behinderung, alle Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen, deswegen braucht es schon in der Umsetzung den wertvollen Erfahrungsschatz von Menschen mit Einschränkung. “Barrierefreiheit fängt in den Köpfen an”, so Mandel, “das zu sagen und auch zu bemerken, ist enorm wichtig.”

Die wichtigste Erkenntnis ist wohl, dass nicht sofort alles perfekt funktionieren muss, auch die Veranstaltungen von Handiclapped sind im Laufe der Zeit dank zahlreichem Feedback von Besuchern und eigener neuer Anregungen noch barrierefreier geworden. So gibt es seit einer Weile auf der Webseite des Vereins audiodeskriptive Wegbeschreibungen zu den Veranstaltungsorten. „Ich habe einen Lehrgang dazu besucht”, so Mandel, “und gemerkt, dass wir über diese Sache bisher überhaupt nicht nachgedacht haben. Barrierefreiheit ist ein stetiger Prozess, der durch Anmerkungen von außen vorangetrieben wird, von Menschen mit Beeinträchtigungen. Das kann auch nur so sein. Es geht auf keinen Fall ohne die Menschen, die wir als Zielgruppe betrachten.” Nichts über uns ohne uns.

Bierdusche für alle

Dass die Argumentation mancher Venues und Veranstalter, es gäbe bei ihnen kein Publikum mit Einschränkungen und Barrierefreiheit sei daher nicht nötig, eine selbsterfüllende Prophezeiung übelster Art ist, beweist nicht zuletzt die hohe Nachfrage für die “Wheels Of Steel Area” beim Wacken Open Air. Auch Uwe Niksch findet klare Worte für die Problematik: “Je mehr Menschen mit Behinderung unterwegs sind, desto mehr geht das auch in die Köpfe aller Leute und desto weniger entsteht dieser Moment ‘Oh, toll, dass du auch hier bist, dass du dich traust und am Leben teilnimmst’, mit dem man manchmal konfrontiert ist. Ich finde es echt komisch, wie viele Leute immer noch denken, dass man als Mensch mit Behinderung nicht am öffentlichen Leben teilhaben kann.”

Foto: Maren Michaelis

»Ich finde es echt komisch, wie viele Leute immer noch denken, dass man als Mensch mit Behinderung nicht am öffentlichen Leben teilhaben kann.«
Uwe Niksch

Dass sich im Gegenzug vieles noch verbessern kann, ist für Niksch dabei keine Frage. Nicht umsonst widmet er sich nach Abschluss seines Stadtplanungsstudiums der projektbezogenen Arbeit zu Barrierefreiheit und Inklusion. “Wichtig ist, dass die Wünsche von Menschen mit Behinderung angenommen werden, das kreative Lösungen gefunden werden, um Barrieren zu umgehen, auch wenn ich weiß, dass oft Brandschutz vor Barrierefreiheit geht, aber auch hier kann man die Leute ja einfach mal anhören. Vielleicht haben Menschen mit Behinderung eine Lösung für bestimmte Sachen, auf die Veranstalter nicht kommen. Ein weiterer großer Wunsch ist, dass das Besorgen der Tickets erleichtert wird, dass ich die Möglichkeit habe, Tickets mit zwei, drei Klicks zu kaufen.”

Es sind also viele Stellschrauben, an denen noch zu drehen ist – und manche, wie die Problematik des Ticketkaufs, wirken so, als säßen sie besonders locker. Vor allem, wenn man bedenkt, wie viele Ticketvarianten die einschlägigen Plattformen für Großevents anbieten. Was Niksch am meisten auf dem Herzen liegt, wenn er für sich persönlich als Konzertgänger spricht: “Ich mag es bei Konzerten nicht, an einem bestimmten Ort zu stehen, der exklusiv für Menschen mit Behinderung vorgesehen ist. Ich möchte Teil des Ganzen sein, ich möchte in der Mitte stehen und genauso mit Bier beschüttet werden und mich dann darüber aufregen. Wie alle anderen auch.”

Lego, My Lego

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Das bestätigt L.S. Dunes-Gitarrist Frank Iero auf seinen sozialen Netzwerken und adressiert dabei die Verantwortlichen von Lego direkt. Demnach habe die Anwälte des dänischen Spielwarenherstellers das Label der Band kontaktiert und das Entfernen des Musikvideos zum Song “Grey Veins” gefordert. Darin waren einige Szenen mit den typischen Lego-Minifiguren zu sehen.

In seinem Statement bringt Iero auch sein Unverständnis gegenüber der Abmahnung zum Ausdruck und outet sich auch als “lebenslanger” Lego-Fan: “Als Lego-VIP und lebenslanger Schöpfer und Baumeister bin ich verletzt und sehr verwirrt. Ich habe mehr Stunden damit verbracht, eure Sets zu kaufen und zu bauen, als ich es mir ausrechnen kann, ganz zu schweigen von den Tausenden von Dollar, die ich im Laufe der Jahre ausgegeben habe […].”

Zudem habe er auch seinen Sohn für die Klemmbausteine begeistern können, sodass die Familie auch regelmäßig “im Legoland Urlaub macht”. Außerdem wurde Ieros andere Band My Chemical Romance von mehr als 10.000 Unterstützer:innen in das Lego-Ideen-Programm als potenzielles zukünftiges Bauset gewählt. Iero beendet sein Statement mit dem Aufruf an Lego, ihn und seine Leute in Ruhe zu lassen sowie “Freundlichkeit” und “Kreativität” zu verbreiten. Das Video ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch nicht entfernt worden.

 

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Ein Beitrag geteilt von frnkiero (@frankieromustdie)

Abmahnungen von Lego wegen vermeintlicher Nichtigkeiten haben vor allem in der jüngeren Vergangenheit zugenommen. Gegenstand der Schreiben ist dabei meistens der markenrechtliche Vorwurf hinsichtlich verschiedener von den Rechteinhabern geschützter Marken. Hierzu zählt unter anderem das Lego-Logo sowie die Lego-Minifiguren in ihren verschiedenen Ausführungen.

Anfang 2021 sah sich auch etwa der beliebte YouTuber “Held der Steine” mit einer ähnlichen Abmahnung konfrontiert. In einigen Videos hatte er verschiedene Klemmbausteine mit dem Sammelbegriff “Legos” bezeichnet, auch wenn diese eigentlich von anderen Herstellern stammten. Dagegen ging Lego mit einem Schreiben vor. Darin forderten die Anwälte des Unternehmens den YouTube ebenfalls auf, die entsprechenden Videos zu löschen bzw. nicht mehr in der Öffentlichkeit zu verbreiten.

L.S. Dunes bestehen neben Iero aus Tim Payne (Bass), Tucker Rule (Schlagzeug, beide Thursday), Travis Stever (Gitarre, Coheed And Cambria) und Anthony Green (Gesang, Circa Survive). Im September 2022 spielte die Band ihr erstes Konzert auf dem Riot Fest in Chicago. Anfang dieses Jahres folgte eine erste kleine Europa-Tour mit zwei Shows in Köln und Berlin. Ihr Debütalbum “Past Lives” war im November 2022 erschienen.

Sonnenpeitsche vs. kühles Nass

Fred Bienert sitzt sonnengegerbt auf seinem kleinen Motorroller. Mit dem wuchtet er sich über das Gelände am Alperstedter See. Das geht schneller, als ständig immer zu Fuß irgendwo hinzulatschen. Vor allem bei der Hitze. Die Sonne prügelt mit flammenden Peitschen auf die Erde ein. Auf dem Gelände vor der Bühne buckeln sich die, die es am frühen Nachmittag schon hierhin wagen, in den Schatten der Bierstände oder in einer schmalen Reihe vor die Bühne. Hauptsache: keine Sonne.

Bienert weiß, dass es in diesem Jahr nicht so leicht ist. Der Vorverkauf hat spät begonnen und ist noch später in die Gänge gekommen. Eine Mischung aus Spontaneität und ewiger Treue. Gerade von letzterer profitiert das Stoned From The Underground. Der verbreitete Tenor ist diesmal, dass das Line-up nicht den Hauptanreiz gegeben hat, hierher zu kommen – dass das Festival aber zu schön und familiär sei, um es sich entgehen zu lassen.

Gerade jetzt punktet das Gelände mit dem Umstand, direkt neben einem See zu liegen. Bei bis zu 37 Grad ist es darin einfach angenehmer als sich vor der Bühne auch noch mit schweren Riffs zu beladen. Wer soll das bei dieser Hitze verpacken? Vor der Bühne im Zelt ist es nicht viel angenehmer, wenn die ersten Bands den Tag einläuten. Hier herrscht zwar Schatten, aber auch ein Klima wie im Tropenhaus eines botanischen Gartens.

Stoned From The Underground, Weite (Foto: Maren Michaelis)
Weite – das krautige Projekt von Michael Risberg (2.v.l.) und Nick DiSalvo (3.v.l.) von Elder (Foto: Maren Michaelis)

Es sind so manche übliche Verdächtige und Altbekannte da: Acid Mammoth und 1000 Mods, Mother Engine und Dÿse, Colour Haze und Orange Goblin. Sie alle gehören zur Familie, profitieren vom Status im Gefüge. Die spannenden Akzente bringen andere. Das weiß auch Bienert. Der macht sich und seiner riesigen, hart ackernden und verdammt treuen Crew mit den isländischen Kyuss-Epigonen Brain Police am Samstagabend ein kleines Geschenk. Die Band genießt Kultstatus in der intimen Riege des SFTU.

Die Akzente gibt es immer wieder zu Beginn oder zum Ende eines Tages. Am Freitag etwa die internationale, aber aus Berlin stammende Metal-Band Aptera, deren Schlagzeugerin Sara Neidorf gleich in mehreren Bands spielt und höllisch groovt, um dazwischen ganz entspannt einen Blastbeat anzustimmen. Timo Tolkmitt variiert das Stoner-Punk-Rezept seiner (Ex-)Bands Drive By Shooting und Blutige Knie am Samstag mit Margot Erkner zum samstäglichen Auftakt im Zelt.

Stoned From The Underground, Temple Fang (Foto: Maren Michaelis)
Der Yoga-Hippie Jevin De Groot und seine Space-Rocker Temple Fang (Foto: Maren Michaelis)

Instrumentale Leichtigkeit, die nicht nur auf tonnenschwere Riffs abzielt, bieten (ebenfalls am Samstag) die angenehm spacigen Lucid Void aus Darmstadt und die im Anschluss auftretenden Weite. Letztere sind das neue Projekt von Michael Risberg und Nick DiSalvo von Elder. Letzter spielt diesmal nicht Gitarre, sondern Schlagzeug. Und gesungen wird auch nicht. Dafür gibt es krautigen Post-Rock mit kraftwerkschen Synthesizer-Einschüben und subtiler Southern-Note. Die Songs erreichen so eine – sorry – enorme Weite und Atmosphäre.

Stoned From The Underground, Reactory (Foto: Maren Michaelis)
Die Thrash-Metaller Reactory zerlegen zum Finale das Party-Zelt (Foto: Maren Michaelis)

Antifaschistischen Metal zwischen Death, Doom, Black und Post gibt es am Sonntag mit Thronehammer aus Nürnberg – in deren Mittelpunkt Kat Shevil stimmlich alle Genres abdeckt und mit sagenhafter Wucht für etwas Diversität sorgt. Ein ähnlicher Blickfang ist sicherlich auch Jevin De Groot von Temple Fang. Die niederländischen Space-Psych-Rocker um Ex-Death Alley-Bassist Dennis Duijnhouwer katapultieren sich in ihren langen Songs quer durch den Kosmos und zurück auf den – endlich! – regengetränkten Boden in Erfurt-Stotternheim. Der komplett zutätowierte Yoga-Hippie De Groot hat eine enorme Ausstrahlung und leiht den Abfahrten gelegentlich etwas Gesang und eine Menge Aura. Das Finale gehört dann den Berliner Thrashern Reactory, die – während es draußen regnet – die letzte Energie aus dem Publikum quetschen. Zumindest scheinen sich alle Anwesenden davon noch reichlich bewahrt zu haben: Das Zelt gleicht einem Schlachtfeld.

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