Gitarrist und Songschreiber Omar Rodríguez-López lacht. “Na ja, es ist unsere Version eines Akustik-Albums. Ich habe mich viel von Leonard Cohen, Syd Barrett, Nick Drake und so Sachen beeinflussen lassen. Mir war von Anfang an klar, dass ‘Octahedron’ etwas komplett anderes sein würde.” Das bedeutet natürlich nicht, das Rodríguez-López und Sänger Cedric Bixler-Zavala auf ihrem fünften Album Gitarren-Akustik-Pop machen – aber tatsächlich ist “Octahedron” mit Abstand das zugänglichste und freundlichste Album, das sie je aufgenommen haben; in The Mars Volta-Dimensionen könnte man Songs wie den Opener “Since We’ve Been Wrong” fast Pop nennen. Statt sich endlosen Instrumentalparts hinzugeben, jedem Song etliche Ebenen und Overdubs zu verpassen, hielt Rodríguez-López sich diesmal zurück.
Einigen Songs kann man so bis auf die Knochen sehen: Struktur und Melodien sind klar erkennbar – selbst bei Stücken wie der lauten ersten Single “Cotopaxi”. Um diese neue Einfachheit zu erreichen, dezimierte Rodríguez-López die “Mars Volta Group” vom Oktett zum Sextett und verschrieb sich selbst einer ganz neuen Strategie: “Selbstauferlegte Limitiertheit! Das war definitiv eine Herausforderung für mich. Mir wurde in letzter Zeit ein paar Mal gesagt, dass die Leute auf dem neuen Album das Experimentelle vermissen. Aber im Kontext meiner Band und dem, was ich die letzten Jahre an Musik gemacht habe, bedeutete es für mich eine Menge an Experimenten, um an diesen Punkt zu kommen.” Mit anderen Worten: The Mars Volta sind auf “Octahedron” genau deshalb experimentell, weil sie nicht experimentell sind.
Omar, je experimenteller die Songs geraten, desto leichter scheinen sie dir zu fallen. Dich selbst zu bremsen, ist das nicht so, als würde ein Maler nur die Hälfte aller Farben auf seiner Palette benutzen?
Ein bisschen ja. Oder eher: wie ein Maler, der nicht mit den Farben malt, die er sonst immer benutzt; einer, der versucht, sein Schema zu ändern. Stell dir einen Maler vor, der ein Pferd in jedes seiner Bilder malt und eines Tages entscheidet, eine Serie von Bildern ohne Pferde zu malen.
Was antwortest du, wenn Leute sagen, “Octahedron” sei ihnen nicht experimentell genug?
Mir ist es egal, ob die Leute meine Alben mögen – weil ich Musik nicht für sie, sondern für mich mache. Mein größter Albtraum ist es, irgendwann auf mein Leben zurückzublicken und festzustellen, dass alle meine Platten gleich klingen. Ich kann mir selbst ja sowieso nicht entkommen: Ich schreibe die Musik, ich entwerfe die Strukturen – es klingt so oder so nach mir! Und Cedrics Art, Texte zu schreiben und zu singen, ist auch sehr speziell. Auf eine Weise sind wir bereits in einem gewissen Sound gefangen. Deswegen müssen wir alles tun, damit dieser Sound unterschiedliche Varianten bekommt.
Ich glaube, ich kenne keinen, der behaupten würde, The Mars Volta seien in einem gewissen Sound gefangen…
(lacht) Stimmt! Aber die meisten Leute hängen sehr an der Vergangenheit und alten Erinnerungen. Wenn sich jemand in unser erstes Album “De-Loused In The Comatorium” verliebt hat, dann will er am liebsten, dass alles so bleibt und jede Platte, die wir danach machen, genauso klingt. Das ist wie auf der Highschool in den Jahrbüchern; jeder schreibt das gleiche rein: “Bleib, wie du bist!” Das ist doch verrückt! Ich will doch mit 35 nicht dasselbe unreife Arschloch sein wie mit 16! Ich lebe mein Leben im Hier und Jetzt und bin sehr gut darin, die Vergangenheit loszulassen.
Du hängst also gar nicht an Dingen oder Erinnerungen?
Oh doch! Ich bin ein einziger wandelnder Widerspruch: Ich sammle alles Mögliche. Aber trotzdem laufe ich nicht rum und sage ständig: “Weißt du noch, damals…” Schau dir das Phänomen der Midlife Crisis doch mal an: Da wird ein Typ 40 und verhält sich plötzlich, als wäre er wieder 20, kauft sich eine Corvette, pierct sich das Ohr und geht wieder in Clubs. Dieses traurige Verhalten will ich vermeiden. Ich glaube sowieso fest daran, dass wir Menschen unseren kreativen Höhepunkt erst erreichen, wenn wir 60 sind.
Ist das nicht ein bisschen spät?
Einstein, Hitchcock, Sid Arthur – die meisten Leute, zu denen ich aufblicke, waren in der zweiten Hälfte ihres Lebens am besten. Wenn man auf seinen Körper achtet, ihn nicht misshandelt und sich gut ernährt, dann ist das Gehirn mit 60 auf dem kreativen Höhepunkt.
Du erwähntest gerade deinen Sammeltick. Was hortest du denn?
Ich habe zum Beispiel eine riesige Sammlung alter Röhrenfernseher – 40 oder 50 Stück.
Was willst du denn mit 50 Fernsehern?
Ich sammle sie eben einfach: die richtig alten großen aus den 50ern bis in die späten 70er. Also wenn du einen im Keller hast und darüber nachdenkst, ihn wegzuschmeißen, dann bring ihn einfach mit zur nächsten Show… Ich habe aber auch eine Menge alter Receiver, Tape-Maschinen, natürlich eine große Sammlung Bücher, Filme und Platten; ich sammle Schlüssel, Uhren, Spielzeugpistolen – ich habe viele Sammlungen.
Ist das dein Ernst? Deine Garage muss ja voller Müll sein.
Nein, kein Müll! Und die Sachen stecken auch nicht in meiner Garage, sondern im ganzen Haus. Ich habe auch eine Sammlung von Pfeifen-Feuerzeugen, alten Taschenrechnern…
Du bist ein echter Messie!
Vielleicht. Aber ich habe schon eine gewisse Ordnung darin. Es ist nicht so chaotisch, wie es klingt. Die Sammlungen sind alle sortiert. Mein Opa war genauso und meine Mutter auch. Ich weiß nicht, was es ist, aber es muss ein Gen sein, das man in sich trägt. Ich kann einfach nichts wegschmeißen.
Auf dem neuen Album geht es quasi auch um Verlust – allerdings nicht durch Wegschmeißen, sondern Verschwinden.
Die Themen unserer Alben haben immer damit zu tun, was uns in unserem Leben gerade beschäftigt. Bei “De-Loused…” haben wir viel an unseren Freund Julio gedacht und ihm das Album gewidmet. Als wir “Frances The Mute” geschrieben haben, sprachen wir viel über Jeremy (Ward, Ex-“Sound Manipulator” von The Mars Volta), der gerade gestorben war. Und diesmal hat mich und Cedric das Thema Verschwinden sehr beschäftigt.
Wieso?
Wir haben zwei gute Freunde aus der Highschool, die in der Nähe von El Paso einfach verschwunden sind. Die Polizei glaubte, dass sie ertrunken seien, aber die Leichen wurden nie gefunden. Andere Leute aus der Schule behaupteten, sie seien noch am Leben. Es gab alle möglichen Spekulationen, was mit ihnen passiert ist, aber Fakt ist, dass wir es nicht wissen. Es gibt viele solcher Legenden, die ein großes Fragezeichen hinterlassen: das Bermuda-Dreieck. Oscar Zeta Acosta, der die Inspiration zu “Fear And Loathing In Las Vegas” war, ist auf mysteriöse Weise verschwunden. Oder Richey James Edwards von den Manic Street Preachers.
Komisch, wenn ein Mensch einfach verschwindet.
Ich glaube, das Schlimmste für uns Menschen ist, auf etwas keine Antwort zu haben. Wenn jemand stirbt, kann man damit abschließen und die Person seinem spirituellen Glauben überlassen. Dann ist sie im Himmel bei Gott oder meinetwegen bei Krishna oder einfach unter der Erde und die Würmer zerfressen sie. Aber wenn jemand einfach verschwindet…
Ein anderer Aspekt dieses Themas ist das Verschwinden von Gefühlen.
Genau, damit müssen wir uns nahezu jeden Tag auseinandersetzten. Ich habe einen guten Freund, dessen Eltern 35 Jahre glücklich verheiratet waren. Eines Tages wachten sie auf, stellten fest, dass sie sich nicht mehr liebten und ließen sich scheiden. Warum passiert das? Wo ist die Liebe hin?
Wahre Liebe scheint es jedenfalls zwischen dir und Cedric zu sein: Ihr arbeitet seit über 16 Jahren zusammen.
Die Musik ist ja eigentlich nur der Nebenschauplatz unserer Beziehung und spirituellen Verbindung. Wir haben 13 Jahre lang zusammengewohnt. 1988 haben wir uns in einem Proberaum getroffen, wurden einander vorgestellt – es war das, was einige Pärchen Liebe auf den ersten Blick nennen. Wir haben uns gesehen und wussten, dass wir uns aus anderen Leben kannten. Nach dem Motto: “Hey – da bist du ja endlich! Lass uns das Gespräch aus unserem letzten Leben fortsetzen!”
Du glaubst an Wiedergeburt?
Auf jeden Fall. So bin ich aufgewachsen, das ist ein Teil meiner Kultur.
Hast du eine Idee, was du früher einmal warst?
Ich war schon alles Mögliche. Und ich muss auf jeden Fall etwas richtig gemacht haben in meinen vorigen Leben, um dort zu sein, wo ich jetzt bin. Ich bin ein sehr glücklicher Mensch; ich bin gesund, habe eine Familie und Freunde, die mich lieben, und ich lebe vom Musikmachen – das ist unglaublich!
Du glaubst an viele spirituelle Dinge. Auf eurem letzten Album standet ihr im Bann eines Ouija-Boards. Hörte der Fluch auf, nachdem du es vergraben hattest?
Nein, es wurde sogar noch schlimmer! Unser Pech hörte erst auf, nachdem ich mit “The Bedlam In Goliath” (2008) fertig war, diese Ära abgeschlossen hatte. “Bedlam…” zu machen war ein Albtraum. Zu der Zeit war ich wirklich davon überzeugt, dass es mein letztes Album sein würde. Dagegen war “Octahedron” ein großer Spaß.
Und – lass mich raten – die nächsten zwei Mars-Volta-Alben hast du auch schon fertig.
Musikalisch ja. Die Texte und der Gesang fehlen noch.
Heißt das, Cedric ist zu langsam?
Nein, er hat ein gutes Tempo. Ich selbst habe nur ein sehr schnelles und verrücktes Tempo. Cedric sagt immer, ich bin wie ein Zug, der mit 500 Sachen auf dich zukommt. Entweder du springst auf – oder du springst ab.
Dein Output abseits von The Mars Volta ist derzeit fast beängstigend: zwei Platten im letzten September, eine im November, zwei im Februar, eine im Mai. Hast du kürzlich dein Studio aufgeräumt und alles veröffentlicht, was herumlag?
(lacht) Das kann man so sagen. Aber ich mache Alben nicht, damit sie veröffentlicht werden, sondern wegen des Prozesses, der Erfahrung. Ich nehme zehn bis 13 Alben pro Jahr auf, aber höchstens drei davon werden veröffentlicht – und dann oft auch erst Jahre später.
Du meinst, es ist reiner Zufall, was wann veröffentlicht wird?
Ja. Ein Grund kann sein, dass mich jemand fragt, was mit einem bestimmten Album passiert ist. Dann sage ich meinem Tontechniker Lars, dass er mal nach einer Platte von 2006 namens “Old Money” gucken soll; wir machen ein Cover und bringen sie raus. Oder letztes Jahr zum Beispiel, da habe ich viel an meinen verstorbenen Freund Jeremy Ward gedacht und mir fiel ein, dass wir 2001 ein Album zusammen gemacht haben. Lars hat es also gefunden – und dadurch fiel mir eine andere Platte in die Hände, die ich vergessen hatte. Auf der hat Jeremy zwar nicht mitgespielt, aber ich erinnere mich, dass er immer im Studio war und mich viel zum Lachen gebracht hat. Da habe ich beschlossen, die auch noch zu veröffentlichen. Es ist alles reiner Zufall.
Wie viele Alben hast du zu Hause herumliegen, die du jetzt sofort veröffentlichen könntest?
Ich weiß nicht – zu viele, um sie zu zählen. Weit über 20.
Blickst du da überhaupt noch durch?
Großteils schon. Ich habe ein relativ gutes Gedächtnis, und wenn ich nach bestimmten Aufnahmen von vor vier Jahren suche, dann kann ich meinem Techniker meistens sagen, was genau ich suche und wo er das findet. Aber es gibt natürlich auch Sachen, die mir durchgehen, weil mein Output so groß ist. Ich sammle eben gerne – und genauso ist es auch mit Musik. Ich sammle Songs, ich sammle Alben, ich sammle Momente. Ich habe da dieses zwanghafte, obsessive Gen in mir.
John Frusciante von den Red Hot Chili Peppers hat eine Zeit lang ähnlich viele Soloalben veröffentlicht wie du jetzt – war er eine Inspiration für dich?
Wir haben uns da gegenseitig inspiriert. Als wir uns kennenlernten, hatten wir beide eine sehr kreative Phase und haben viele Solosachen geschrieben – aber John hatte einfach deutlich mehr Geld und konnte seine Sachen auch allesamt veröffentlichen. Das hat mich definitiv inspiriert, meine Soloprojekte auch ernster zu nehmen.
Mal ehrlich: Im Gegensatz zum neuen Mars-Volta-Album sind einige der Sachen, so wie das im Mai veröffentlichte Album “Cryptomnesia”, nahezu unhörbar – findest du nicht?
(lacht) Ich kann verstehen, wenn Leute das so sehen. Aber es gibt da dieses englische Sprichwort: One man’s trash is another man’s treasure (Was für den einen Müll ist, ist für den anderen ein Schatz). Meine Songs klingen für manche Leute vielleicht unstrukturiert, aber für mich bedeutet es ein Monat Arbeit an Strukturen. Was sich für andere anhört wie Chaos, ist für mich organisierte Verrücktheit.
“Cryptomnesia” erschien unter dem Namen deines neuen Projekts El Grupo Nuevo de Omar Rodríguez-López, bei dem auch Sänger Cedric und Bassist Juan von The Mars Volta mit von der Partie sind. Ist es nicht ein bisschen verrückt, das zeitgleich zu einem Mars-Volta-Album zu veröffentlichen?
Um ehrlich zu sein habe ich darüber gar nicht nachgedacht, bevor man mich kürzlich darauf angesprochen hat. Es könnte mich auch kaum weniger interessieren. “Cryptomnesia” ist 2006 entstanden – das ist drei Jahre her, aber neulich dachte ich, wir sollten es herausbringen. Das ist einfach ein Instinkt, ich bin da sehr impulsiv.
Du nimmst all diese Musik in deinem Heimstudio auf. Würdest du es eher als ein Labor oder als einen Spielplatz bezeichnen?
Als beides. Ich sage immer, es ist meine Kirche und mein Spielplatz. Es ist heilig, aber irgendwie auch nur ein Spiel. Ich glaube, alles im Universum braucht sein Gegenstück, um existieren zu können. Die Chinesen haben das mit dem so einfachen wie wundervollen Symbol Yin und Yang beschrieben – ein simples Konzept, das wir alle verstehen können. Yin und Yang, schwarz und weiß, kalt und heiß. Ich brauche diese Widersprüchlichkeit, dieses Gegengewicht. Mein Studio ist ein Ort, an dem heilige Dinge passieren – aber gleichzeitig ist es ein Witz. Wer interessiert sich dafür, dass ich Musik mache und vielleicht Schwierigkeiten habe, irgendetwas fertig zu kriegen? Das ist ja kein ernstzunehmendes Problem.
Wie viel Zeit verbringst du in deinem Studio?
Das kann alles sein – 15 Stunden am Tag, acht oder auch mal nur zwei. Manchmal steht man mit dem falschen Fuß auf und kriegt nichts auf die Reihe. Das Gute ist: Mein Studio verbindet den einen Teil des Hauses mit dem anderen, und um von meinen Privaträumen zur Küche zu kommen, muss ich durch das Studio gehen. Selbst wenn ich nur frühstücken will, muss ich durchs Studio – und fühle mich gleich inspiriert, wenn ich meine Instrumente sehe.
Bei all der Zeit, die du im Studio verbringst, hast du da überhaupt ein Sozialleben?
Ich habe sicherlich kein Sozialleben, wie es die meisten Leute führen. Ich gehe nicht aus und trinke, ich treffe Leute nicht auf Partys oder so etwas. Aber ich habe ein persönliches Leben. Ich habe eine Freundin, die ich sehr liebe, und mein Bruder und mein bester Freund spielen in einer Band mit mir. Wenn ich jemanden wirklich lange nicht gesehen habe, weil ich viel arbeite, dann denke ich mir ein kreatives Projekt aus, an dem wir beide zusammen arbeiten können. Arbeit ist auch das falsche Wort dafür. Die Leute fragen mich immer, wie ich so viel arbeiten kann. Aber ich arbeite nicht, ich spiele. Und ich mache es mit Freunden und der Familie. So lernen wir auch viel übereinander und unsere Probleme. Das ist meine Form von Therapie und meine Art, mich und die Leute in meinem Umfeld zu verstehen.
Du bist also gar kein Workaholic – du kriegst nur einfach nicht genug von Musik?
Ich kriege nicht genug vom Leben! Musik und Filme sind für mich nichts anderes als Leben. Was soll ich denn sonst machen? Ich feiere nicht, ich trinke nicht, ich bin nicht sexsüchtig. Musik ist meine Party. Komm zu mir nach Hause, und wir nehmen etwas zusammen auf – etwas, das uns später an diesen Moment erinnert.
Also ist es ganz unmöglich, zu dir nach Hause zu kommen und nicht auf einem Tonband verewigt zu werden?
Richtig, genau darum geht’s. Wir sitzen nicht einfach so herum bei mir. Wer mich besuchen kommt, wird Teil eines Projekts – ob es demjenigen nun passt oder nicht.