2022 war ein mehr als anstrengendes Jahr für Fontaines D.C. und ihren Sänger Grian Chatten. Mit ihrem dritten Album “Skinty Fia” räumten die irischen Post-Punk-Durchstarter bei den BRIT Award für die International Group of the Year ab, erreichten die Chartspitze in ihrer neuen Heimat England und gingen auf eine üppige Tour durch Großbritannien, die USA, Europa sowie Japan, Australien und Neuseeland.
Nebenbei arbeitete Chatten an Alben von Kae Tempest, Leftfield und zuletzt Slowthai mit. Zeit für sich selbst konnte er zuletzt in Spanien finden, um seine erste Solo-Single zu schreiben: “‘The Score’ ist ein schwergewichtiges Stück, das vor Lust nur so strotzt. Ich habe es in Madrid zwischen einem elektrischen Ventilator und einer sterbenden Pflanze geschrieben und hatte vor, es dort zu lassen. Es wurde von Zucker und Sonnenuntergang inspiriert”, so Chatten.
“The Score” knüpft zwar dank Chattens markantem Gesang unverkennbar an seine Arbeit bei Fontaines D.C. an, hat aber mehr zu bieten als ein typisches “Frontmann goes Singer/Songwriter”-Stück. Chatten haucht zwar zunächst nur über gezupfte Akustikgitarren, doch im Verlauf verwebt der Ire lässige Basslines, elektronische Beats und Streicher mit seinen introspektiven Texten.
Ob Chatten auch ein ganzes Soloalbum in Planung hat, ist noch nicht bekannt – ist aber zu vermuten, da mit Partisan schon ein Label bekannt gegeben wurde, dass die vorerst nur digitale Single vertreibt.
Der “Godfather of Punk” und seine Band touren momentan mit dem aktuellen Album “Every Loser” in den USA. Am 20. April machte die Tour Halt im berühmten Regent Theater in Los Angeles. Dabei war der Lou-Reed-Song “Walk On The Wild Side” (1972) Teil des Zugabenblocks. Instrumentale Unterstützung bekam Iggy dabei von Produzent Andrew Watt, The Kills-Sänger und Gitarrist Jamie Hince, Guns N’ Roses-Bassist Duff McKagan und Red Hot Chili Peppers-Schlagzeuger Chad Smith. Watt, McKagan und Smith spielen auch einige Parts auf “Every Loser”, das von Watt produziert worden ist.
Weitere Songs des Abends waren “Frenzy” und “Strung Out Johnny” vom neuen Album sowie die eigenen Klassiker “The Passenger” oder “Lust For Life”.
Im Sommer spielt Iggy Pop zusammen mit The Mars Volta einige Shows im Vorprogramm der Red Hot Chili Peppers. Tickets für das Konzert in Mannheim gibt es an allen bekannten Vorverkaufsstellen.
Live: Red Hot Chili Peppers
26.06. Mannheim – Maimarktgelände (+ Iggy Pop, The Mars Volta)
Erst vor wenigen Monaten hatte die Indierock-Band Palila mit “Restless” die erste Single aus ihrem im Mai erscheinenden Album “Mind My Mind” veröffentlicht. Jetzt legen sie mit “Try To Fail Again” nach und liefern eine solide Hymne an die Vorzüge des Scheiterns – da, wo unfehlbarer Perfektionismus den Takt vorgibt.
“Try To Fail Again” handelt davon, dass man auch mal an sich und den Hürden der Welt scheitern darf, auch wenn man sich als Individuum zwischen all der Last wie ein schwankender Kegel fühlt; einer, der mit seinen Kreisbewegungen an Ort und Stelle verharrt und zwischen dem brüchig gewordenen Bass mehr stolpert als festen Boden unter den Füßen zu haben scheint. Damit begeben sich Palila auf eine emotionale Karussellfahrt, deren Geschichte Nada Surf und Damien Rice nicht besser hätten erzählen können.
Die Schwierigkeit, das Gleichgewicht zu halten, bildet den roten Faden der neuen Platte. So erklärt Sänger Matthias Schwettmann bezüglich der zweiten Singleauskopplung: “Im Song geht es auch um diejenigen, die ständig ein Problem mit allem haben, sich und ihren Alltag bedroht sehen und sich über alles aufregen, was anders und fremd ist. Dann ist Sheena jetzt eben keine Punkrockerin mehr, sondern hört inzwischen halt HipHop (siehe Lyrics) – so what!? Insgesamt wollten wir mit dem Song also ausdrücken: entspann dich mal!” Und obwohl dieses Entspannungsmantra an einigen Stellen einem unüberhörbaren Grübeln weicht, zementiert das Album nichtsdestotrotz einen Kontrast: Zwischen all der inhaltlichen Düsternis, wird der Sound von einer Harmonie und Beschwingtheit getragen und streift damit das engmaschige Korsett der Gedankenschwere ab. Die Vertonung eines vorübergehenden Glücks mit Indie-Touch.
Gegründet hat sich die Hamburger Band um Sänger, Songwriter und Gitarrist Matthias Schwettmann und Bassist Christoph Kirchner 2019, ein Jahr später erschien mit “Tomorrow I’ll Come Visit You And Return Your Records” die erste EP. Seit 2021 vervollständigt Drummer Sascha Krüger das Trio, das Debüt “Rock’n’Roll Sadness” (2021) folgte im selben Jahr. Die neue LP erscheint am 19. Mai via Devilduck und kann laut Band in allen Plattenläden vorbestellt werden.
Live kann man Palila ab Mai erleben. Tickets gibt es an allen bekannten Vorverkaufsstellen.
Angeführt wird die finale Bandwelle der Festivals von Rapper Marteria, der erst im vergangenen Dezember seine große Arena-Tour zu seinem aktuellen Album “5. Dimension” beendet hatte. Anfang April wurde Berichte bekannt, nach denen der Rostocker in den USA wegen “häuslicher Gewalt” verhaftet und gegen Kaution freigelassen worden sei. Nach einer Anhörung wurde allerdings keine Anklage erhoben. Auf Instagram bestätigte er inzwischen einen lautstarken Streit mit seiner Freundin inklusive Polizeieinsatz. Die Gewaltvorwürfe wies er dabei ausdrücklich zurück.
Als weitere Bestätigung präsentieren die Veranstalter:innen die Pop-Senkrechtstarterinnen Domiziana und Fortella. Die deutsch-italienische Rapperin und Musikerin Domiziana erzielte mit ihrer Debüt-Single “Ohne Benzin” mehrere Rekorde auf TikTok und sicherte sich so auch über mehrere Wochen die Spitzenposition in den deutschen Singlecharts. Das Indierock-Trio The Pale White aus Newcastle und die kalifornischen Punks Beauty School Dropout werden ebenfalls auf den beiden Festivals zu sehen sein. Die Hamburger Punkband Tyna wird dagegen nur auf dem Hurricane spielen.
Das Hurricane & Southside starten auch in diesem Jahr wieder mit der Warm-up-Party am Donnerstag. Hiervon konnten für das Hurricane Antje Schomaker, Zugezogen Maskulin, Rogers und Querbeat gewonnen werden. Auf dem Southside werden Frittenbude, Schmutzki, Rikas und Beauty & The Beats für eine intensive erste Nacht sorgen.
Wie so oft erscheinen die Dinge im historischen Rückspiegel betrachtet als logische Abfolge von Ereignissen, fast so, als hätte es gar nicht anders passieren können. So auch im Fall von Cargo Records: ein Teenager, eine Band, ein Laden, wir schreiben das Jahr 1988. “Ich war 18 Jahre alt und habe eine Bürokaufmanns-Ausbildung gemacht, die mich total runtergezogen hat”, erzählt Michael Schuster. “Gewohnt habe ich in einem kleinen Dorf im tiefsten Bayern, in Dillingen an der Donau. Da habe ich in einer Band gespielt, und weil man halt in einer Band spielt, macht man irgendwann einen Plattenladen auf. Ich habe mir ein bisschen Geld von meiner Mutter geliehen, dann ging’s los mit Subway Records. In einem Ort mit 20.000 Einwohnern gibt es vielleicht nur eine Zielgruppe von 200 bis 300 Leuten. Aber wenn die regelmäßig kommen, läuft der Laden. Und so war’s!”
Subway Records kommt gerade richtig. Zum Ende der 80er legt die Geschichte der Rockmusik den nächsten Gang ein. Nirvanas “Bleach” erscheint, Schuster verkauft Platten von Fugazi, es ist der Vorabend der großen Grunge-Revolution. Schuster veranstaltet Konzerte von den Spermbirds und The Notwist, startet schließlich auch ein eigenes Label. Die erste Platte, die er veröffentlicht, ist von den Resistors, deren Gitarrist Torsten Dohm heute Manager der Beatsteaks ist. Kurz darauf veröffentlicht Schuster das Debütalbum von The Notwist und schließt einen ersten Vertriebsdeal mit Rough Trade ab. 1993 zieht es ihn nach Wuppertal. Was als erste Anlaufstation gedacht ist, wird zum dauerhaften Stützpunkt, privat und professionell – bis heute. Zwischenzeitlich wechselt er zum Semaphore-Vertrieb, wo The Offspring gerade durchs Dach gehen, doch nur ein Jahr später geht der Vertrieb pleite, Labels wie Lookout oder Captain Oi! hängen plötzlich in der Luft. “Ich sagte zu den Labels: Ihr habt gerade alle das gleiche Problem, lasst uns doch zusammen weiterarbeiten. Ich mache jetzt einen Vertrieb auf”, erinnert sich Schuster. “Meine Partner waren Cargo UK und Cargo Music aus USA, die damals Blink-182 im Programm hatten. Ich habe den Namen übernommen und 1998 Cargo Records Deutschland gestartet.”
Majors und Indies
Die Geschichte der unabhängigen Musikvertriebe hat zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Anfang der 80er entsteht im Umfeld von Ton Steine Scherben und ihrem umtriebigen Manager Nikel Pallat “Energie für alle”, kurz EFA, als erster großer Independent-Plattenvertrieb. Es ist der unkaputtbare Spirit von Ton Steine Scherben, der kreative Aufschwung der deutschen Independent- und Punk-Szene, in der es nicht nur Engagement für die eigene Kunst gibt, es entstehen auch im Geschäftlichen Alternativen zu den kapitalistisch ausgerichteten Strukturen der Plattenindustrie. Vertrieb, oder auch Distribution, war bis dato Sache der Majorlabels. Neben jenen Unternehmensabteilungen, die sich um die Künstler und ihre Veröffentlichungen, die aktuellen und den Backkatalog kümmern, verfügen die großen Plattenfirmen über eigene Distributionsabteilungen, wie etwa Universal Music Distribution (UMD) oder WEA Distribution, deren Aufgabe ist, das Produkt aus eigenem Hause an die Zielgruppe zu bringen.
Feiern 25-jähriges Jubiläum: ein Großteil der Cargo-Belegschaft im Erdgeschoss der Firmenzentrale, das einen Plattenladen beherbergt (Foto: Luise Jakobi)
Dort, wo Independent-Labels in der Lage sind, mit bestimmten Künstlern große Absätze zu generieren, werden sie attraktiv für die Majorlabels, die Kooperationen eingehen und so den Vertrieb für externe Acts übernahmen. Je kleiner jedoch das Label, desto schwieriger der Vertrieb. Die finanziellen Mittel fehlen, das Wissen um die geschäftlichen Strukturen, die Vernetzung mit den entscheidenden Kontakten. EFA setzt genau hier an, wird zum Verbindungsstück zwischen Independent-Labels und Absatzmarkt, und das in verschiedenen Größenordnungen vom kleinen Plattenladen um die Ecke bis zu den großen Handelsketten. In Großbritannien handelt Southern Records nach einer ähnlichen Philosophie. Der Gründer John Loder hat als Toningenieur und Produzent für zahlreiche Bands auf dem Label der Politpunks Crass gearbeitet, zudem als Business Manager agiert. Aufbauend auf diesen Erfahrungen, gründet er mit Southern Records Anfang der 90er ein unabhängiges Plattenlabel, nachdem er in den 80ern auch schon mit amerikanischen Labels wie Touch And Go und Dischord zusammengearbeitet hat, die sich wiederum um den US-Vertrieb der Releases auf Crass Records kümmern. “Fontanelle” von den Babes In Toyland ist die erste Veröffentlichung auf Southern, im Zuge seiner Vertriebsarbeit eröffnet Loder zwischenzeitlich Büros in Chicago, Le Havre und Berlin. Loder stirbt 2005, drei Jahre später zieht Southern die Geschäfte wieder in London zusammen.
Auch bei der EFA stehen die Zeichen auf Expansion. In Köln und Berlin sitzen die Büros, in Frankfurt und Göttingen die Verwaltung, das Lager befindet sich in Hamburg. Ende 1992 verkaufen Nikel Pallat, Albrecht Böhm und Jörn Heinecker ihre Firmenanteile, kurz darauf gründen die drei mit Indigo ihr eigenes Distributionsunternehmen. Geräuschlos geht das nicht vonstatten, auch weil Labels wie Normal, Trikont und What’s So Funny About und so unterschiedliche Künstler wie Dinosaur Jr., Phillip Boa oder Blumen am Arsch der Hölle gleich mit die Seiten wechseln. Während die EFA zu dieser Zeit auf rund 150 Veröffentlichungen im Monat kommt, hält man es bei Indigo überschaubarer, zum Start umfasst das Vertriebskontingent um die 20 Labels und ebenso viele monatliche Releases.
Zum Ende des Jahrtausends hat Indigo sich längst etabliert. Nach den politisch geprägten Anfangsjahren gibt es eine breite Palette anspruchsvoller Indie-Platten, 1999 baut die Firma in Harburg ein Bürogebäude von Wahrzeichen-Ausmaßen. Der runde Turm in der Nähe des Harburger Binnenhafens symbolisiert in seiner Form die LP respektive die CD. Anfang des neuen Jahrtausends befinden sich Wolfsheim und Fettes Brot unter den Indigo-Megasellern, später gehört über die Beggars-Labelgruppe auch Adele zum Portfolio. Heute hat die Produktionsfirma Yellow Media GmbH ebenso hier ein Büro wie die Inhouse-Label Glitterhouse und Strange Ways, die 375 Media GmbH und das Tonstudio Master & Servant.
Wuppertal und der Rest der Welt
Für Cargo laufen die Geschäfte zu dieser Zeit rund, Michael Schuster stellt die Firma auf eigene Füße. “Von 2001 an war Cargo komplett von uns selbst gesteuert, unabhängig und ohne Beteiligung von außen. Dann kamen die Labels. Das war insofern ein ganz guter Start. Aber wie das immer so ist: Man verkauft am Telefon. Unsere ersten Veröffentlichungen waren 999 und Leatherface. Es kamen immer mehr Labels dazu, dann hat sich das so weiterentwickelt.” Interessant auch aus heutiger Sicht ist die Tatsache, dass Vinyl als solches immer ein fester Bestandteil des Programms war. “Wir haben uns sehr auf das Format gestützt und mit ganz vielen Labels, später auch tatsächlich mit der Industrie, Lizenzdeals gemacht. Von 2008 bis 2010 hatten wir teilweise 20 Prozent Marktanteil. Da hat kein Sony und kein Warner und kein Universal Vinyl herausgebracht. Wir haben früher die Beatsteaks lizenziert und die Red Hot Chili Peppers.” An der Einführung des Vinyl-Feiertags Record Store Day ist Schuster mit Cargo maßgeblich beteiligt, 2011 bringt Cargo mit dem 33punkt3 sogar einen eigenen Plattenspieler auf den Markt.
Foto: Luise Jakobi
»Majors böse, Indies gut – davon halte ich nichts.«
Michael Schuster, Cargo
Doch zurück zur EFA, ins Frühjahr 2004. Das Unternehmen sorgt damals für Schlagzeilen, bringt mit seiner Insolvenz die ganze Independent-Szene in Aufruhr. Mehr als 50 EFA-Mitarbeiter und über 200 vertraglich involvierte Labels nehmen Schaden. Die Konzentration auf elektronische Musik entgegen des abflauenden Booms, die immer unübersichtlichere Labelarbeit, die Gründung eigener Sublabels, ausbleibende Einnahmen, umfassende Retourzahlungen – alles Auslöser für das Ende von EFA. Eine Insolvenz, die Kreise zieht: Zahlreiche kleine Labels müssen ebenfalls aufgeben oder zumindest das Geschäft einschränken. “Die derzeitige Situation auf dem Indiemarkt ist vergleichbar mit der Lage im Baugewerbe. Geht eine Bauunternehmung Pleite, sind auch die Subunternehmer betroffen, egal, wie gut sie gewirtschaftet haben”, so damals Christoph Wieland vom Hamburger Label Pop Up Records in einem längeren Intro-Artikel von Julian Weber. Jene Labels, die bis zum Schluss auf die EFA vertrauen, müssen am Ende bis zu siebenstellige Summen abschreiben, andere sind bereits im Auge der nahenden Katastrophe zu Vertrieben wie Indigo gewechselt. In besonders tragischen Fällen, wie etwa Force Inc., müssen Indie-Labels im Zuge des EFA-Niedergangs selbst die Segel streichen.
Neue Herausforderungen
Und wie sieht es im Kräfteverhältnis zwischen den vermeintlich Großen und den alles andere als Kleinen aus? Mit Blick auf die Konkurrenzlage im Vertriebssegment erteilt Michael Schuster klassischer Schwarz-Weiß-Malerei eine Absage: “Majors böse, Indies gut – davon halte ich nichts. Arschlöcher gibt es überall. Es war nur immer schon so, dass Major-Strukturen viel Geld im Umlauf haben und damit ganz andere Marketingmöglichkeiten. Man hat als Indie meistens eine Band aufgebaut, ab einer gewissen Größe kommt der Major und bekundet plötzlich Interesse. Das ist auch normal, das gibt es in vielen Bereichen, ich denke da zum Beispiel ans Fußballgeschäft. Ich würde es allerdings begrüßen, wenn eine gewisse Aufbauarbeit, nennen wir es mal so, auch gewertschätzt wird. Sub Pop hat es mit Nirvana ja auch hinbekommen. Die erhalten für jedes “Nevermind”-Album auch noch einen sogenannten Overwrite-Anteil, weil sie damals die Band aus dem Vertrag gelassen haben. Das ist eigentlich genau so, wie es sein muss. Wir hatten als Cargo insofern immer ein bisschen… Ich will nicht sagen Glück, aber wir wurden meist von der aggressiven Abwehrpolitik verschont, weil wir auf der anderen Seite auch Vinyl-Lizenzpartner waren. Insofern haben wir Abgaben an die Majors bezahlt bei der Lizenzierung einer Platte. Dann wird nicht im gleichen Augenblick wieder der Künstler abgeworben.”
Steht symbolhaft für CDs und Vinyl: das Indigo-Hauptquartier in Hamburg-Harburg (Foto: Malin Heinecker)
Das Unternehmen Cargo wächst schnell, ist jedoch nie, wie Schuster es ausdrückt, “eine große Firma”. Die heutige Kapazität von 24 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist konstant, Praktikanten gehören unverzichtbar zum Unternehmensalltag, ebenso dass Leidenschaft für Musik im Spiel ist. Seit einigen Jahren gehört mit Cargo Digital Services auch ein reiner Digitalvertrieb zum Portfolio. Über die Entwicklung vom Phänomen Napster über Downloads zum Streaming haben sich auch die Ansprüche an die jeweilige Vertriebsform verändert. Schuster betrachtet die Entwicklung pragmatisch: “Wie alle stellen wir fest, dass es eine Transformation ins Digitale gibt. Das ist sicherlich auch preislich bedingt. Wenn man für 10 Euro ein Monatsabo bekommt, egal bei welchem Anbieter, und dort alles hat, ist es schon krass, wenn man gleichzeitig 30 Euro für eine Platte ausgeben soll. Da muss man schon echter Fan sein.”
Als Digitaldienstleister ist Cargo Teil des Merlin-Netzwerks. 2007 von Alison Wenham (WIN), Michel Lambot (PIAS), Tom Silverman (Tommy Boy) und Martin Mills (Beggars) gegründet, ist Merlin der größte, digitale Lizenzrechtepartner für Independent-Labels, -Vertriebe und -Rechteinhaber weltweit. Bereits 2008 erfolgt ein erster kommerzieller Deal mit Spotify, danach Verträge mit Vevo, Youtube, Deezer und anderen. 2018 auch mit chinesischen Streamingdiensten wie Net Ease und Alibaba. Seit 2020 fungiert Jeremy Sirota als zweiter CEO, es gibt Deals mit Apple, Snap und Triller und im Oktober 2021 einen Vertrag mit dem Music-App-Unternehmen Trebel, auch ein Agreement mit dem afrikanischen Musikstreaming-Dienst Boomplay steht zu Buche. Das Besondere: Merlin agiert als Non-Profit-Organisation und erhebt lediglich eine Verwaltungsgebühr, die sich als Anteil aus den Lizenzeinnahmen ergibt.
Es muss flashen
In Wuppertal und Hamburg hat man sich vor vier Jahren dazu entschlossen, die Kräfte zu bündeln. Indigo, für legendäre Labels wie Matador,Epitaph oder die der Beggars-Gruppe zuständig, und Cargo Records, die unter anderem mit Sub Pop, Merge, Fire Records, Jagjaguwar und der Secretly-Gruppe zusammenarbeiten, haben gemeinsam die 375 Media GmbH gegründet. Über 1.000 unabhängige Plattenläden, Ketten und Online-Shops auf der ganzen Welt erhalten so Zugriff auf den gemeinsamen Katalog, der mehr als 30.000 Titel umfasst. Global denken, lokal agieren – die regionalen Kontakte in Sachen Online-, Print- und Radiopromotion sind die essenziellen Verbindungsstücke im täglichen Geschäft. Eine logische Entscheidung? Schuster sieht es wieder sachlich. “Wir hatten keine Not, aber wir sagten irgendwann: Wir haben uns in 20 Jahren nicht bekriegt, warum machen wir nicht zusammen eine Vertriebsgesellschaft? So ist die 375 Media entstanden, ein 50:50-Zusammenschluss von Cargo und Indigo, bei dem wir gesagt haben, dass wir nicht alles doppelt und dreifach brauchen. Wir können unsere Stärken zusammenschmeißen – und das als jeweils immer noch autarke Firmen. Wir nutzen einen gemeinsam gegründeten, dabei definitiv unabhängigen Vertrieb.”
Nach all den Jahren ist Schuster offensichtlich kein Bisschen Motivation abgegangen. “Wenn man mit 19 einen Plattenladen aufmacht und mit 20 ein Label”, sagt er, “und irgendwann mal einen Vertrieb gründet, dann allein aus absolutem Enthusiasmus. Weil man daran glaubt, warum sonst? Das wissen wir alle: Wenn wir nur das Monetäre sehen würden, hätten wir wahrscheinlich längst Socken verkauft oder etwas anderes gemacht. Aber das befriedigt uns eben nicht. Natürlich ist Geld für alle wichtig und auch wir sind wirtschaftlich unterwegs, aber eben mit einem anderen Blickwinkel. Das ist immer noch der Punkt, an dem wir Energien entwickeln: wenn uns etwas flasht!”
John, das kongeniale Duo mit dem absolut ungooglebaren Namen, schmeißt für die neue Single “Trauma Mosaic” wieder seine Noise-Post-Punk-Dampfwalze an – und wagt sich damit auch immer weiter auf experimentelles Terrain. Das war auch schon auf den beiden Singles “Theme New Bond Junior” und “Hopper On The Dial“, die als Seven-Inch zuletzt Platz 1 der britischen Vinyl-Single-Charts erreichten, zu hören, wenn auch noch ähnlich wuchtig wie auf ihrem aktuellen Album “Nocturnal Manoeuvres” (2021).
“Wir sind der Meinung, dass der Backkatalog zeigt, wie sich das Projekt über die vielen Jahre und Veröffentlichungen entwickelt und erweitert hat”, sagt Drummer/Sänger John Newton zum Song. “‘Trauma Mosaic’ fühlt sich wie ein echtes Zeugnis unserer fortlaufenden Reise an und beweist, dass es selbst innerhalb unserer inhärenten Grenzen als Duo noch viel zu erforschen gibt. Das ist tatsächlich zu unserer Stärke geworden – es hilft uns, den Entscheidungsprozess zu vereinfachen, während wir weiter definieren, was John ist – in einem einzigartigen Sinne.”
Und tatsächlich formen John langsam mit einem fast sechsminütigen Brecher ihre eigene Nische. Angeheizt von einem dumpfen Schlagzeug-Sample schichten die beiden Londoner kantige Noise-Gitarren à la Metz und chantähnlichen Gesang ähnlich Idles übereinander, um sich ab der Drei-Minuten-Marke einem überlebensgroßen instrumentellen Jam hinzugeben, der fast schon in Post-Rock-Manier die grauen Großstadt-Aufnahmen des Videos untermalt.
Über das Video sagt Newton: “Es gibt eine absichtliche klaustrophobische Wiederholung in den früheren Phasen des Songs/Videos, die die sehr menschliche Tendenz widerspiegelt, in Gedankenzyklen zu versinken – das ist sicherlich etwas, womit wir beide als Individuen kämpfen.” Newton fährt fort: “Nimmt man den Titel wörtlich, so enthalten wir alle einen Flickenteppich aus Bildern, die aus der Vergangenheit zusammengenäht wurden, und diese Erinnerungen dienen als Landkarte für das Überleben in unserer Gegenwart. Diese Urinstinkte scheinen heutzutage überlastet zu sein, und wir sind offen dafür, von der kleinsten Reflexion heimgesucht zu werden.”
Im Oktober gehen John auf ihre erste US-Tour, vorher stehen noch ein paar Shows im Heimatland und den Niederlanden an. Ob auf die Single noch ein Album folgen soll, gab die Band zunächst nicht bekannt.
Planeten, Sterne und eine mysteriöse Frau – das Cover der Smashing Pumpkins spielt sich augenscheinlich im Weltraum ab: Die Protagonistin scheint auf ihrem kosmischen Gefährt durch die Galaxis zu gleiten. Wer genauer hinsieht, erkennt, dass es sich bei der Dargestellten um einen Zusammenschnitt aus zwei bekannten Kunstwerken handelt.
Bleiben wir erstmal beim Offensichtlichen: Umsäumt von Kometen und Planeten wirkt der stilisierte Stern ziemlich ungewöhnlich. Es ist der einzige Himmelskörper weit und breit, der tatsächlich fünf Zacken besitzt, so wie ein Kind ihn zeichnen würde. Aus dem Loch in seiner Mitte gucken Rumpf und Haupt einer jungen Frau heraus, die an einen barocken Engel erinnert: Ihr Haar ist lang und golden und ihre Augen sind gen Himmel gerichtet. Das lässt nicht etwa auf ihre Genervtheit schließen, sondern weist in der kunstgeschichtlichen Bildtradition auf Ekstase oder zumindest eine Verbindung zu Gott hin.
The Smashing Pumpkins – Mellon Collie And The Infinite Sadness (Virgin)
Das Bild wirkt zusammengefügt, beinahe wie eine Collage unterschiedlicher Objekte. Fast so, als hätte sich hier jemand mit einem traditionellen Weihnachts-Stickerset einen Spaß erlaubt. Und tatsächlich handelt es sich bei dem Design um eine Symbiose zweier Werke: Das Gesicht der jungen Frau stammt von Jean-Baptiste Greuzes Werk “The Souvenir (Fidelity)”. Auf dem ursprünglichen Gemälde, das Ende des 18. Jahrhunderts entstanden ist, hält die junge Frau einen kleinen Hund eng an sich gedrückt. Der hat es leider nicht aufs Cover geschafft.
“The Souvenir (Fidelity)” (1787/89) Jean-Baptiste Greuze, Public domain, via Wikimedia Commons
Der Körper der Dargestellten ist Raffaels Werk “Heilige Katharina von Alexandrien” entnommen, das der italienische Künstler um 1507 gemalt hat. Auch Raffael hat die christliche Märtyrerin mit verdrehten Augen dargestellt: Ein Hinweis darauf, dass sie trotz ihrer Verfolgung als Christin immer mit Gott in Verbindung stand. Das Album-Cover hat ihr buntes Kleid und ihre auffällige Gestik übernommen: Die Finger der linken Hand scheinen ein Victory-Zeichen zu mimen. Auf christlichen Darstellungen verweisen ausgestreckter Daumen, Zeige- und Mittelfinger auf den Segensgestus und symbolisieren die Dreifaltigkeit. Ihre rechte Hand hält die junge Frau schützend vor sich. Diese Handhaltung nennt man “Venus Pudica”, also schamhafte Venus: Die aus der Antike stammende Darstellungsform zeigt die Göttin Venus, die ihre Brüste oder ihre Geschlechtsorgane vor neugierigen Blicken schützen will.
“Heilige Katharina von Alexandrien” (1508) Raffael, Public domain, via Wikimedia Commons
Die zusammengesetzte Cover-Protagonistin symbolisiert also vor allem eins: Schamempfinden und Frömmigkeit. Wie eine Galionsfigur kündigt ihr ausgestreckter Rumpf das Album an: Ob die Songs ebenso viele Bezüge zum christlichen Glauben aufweisen, bleibt allerdings fraglich.
Bereits mit der ersten Single aus ihrer kommenden Platte “The Complex Inbetween”, hat das Instrumental-Rock-Duo Jegong eine dystopische Reise in die 60er Jahre vertont. Mit der zweiten Singleauskopplung “Kurkom” legt die Band jetzt nach – und läutet einen nicht weniger kosmischen Trip durch die Space-Rock-Ära ein, als mit dem Vorgänger-Stück “Come To The Center”.
Genregrenzen? Spielen für das Duo, das Krautrock-Elemente höchstens als Spielwiese zum Experimentieren und zur Weiterentwicklung ihrer diffus vor sich hin wabernden Soundlandschaften nutzt, eine untergeordnete Rolle. So wandern Jegong mit ihrem pochenden Instrumentalsound durch einen Dunstkreis, dessen Ambient-Partikel zu gleichen Teilen aus Space-und Post-Rock-Elementen zusammengesetzt sind und an die Ästhetik von Ash Ra Tempel, Tangerine Dream und Mogwai erinnern. Ein dystopischer Klangteppich aus verschiedenen Genre-Fragmenten.
Dass vor allem die Videos zu den jeweiligen Singleauskopplungen dabei dem Faden einer musikalischen Reise folgen, hatte die Band bereits im Zuge der Veröffentlichung von “Come To The Center” erklärt: “Mit dem Video zum Song ‘Come To The Center’ beginnen wir eine vierteilige Reise mit unserem Protagonisten Dofi. Er ist 1967 von der kleinen Schweiz in die großen Vereinigten Staaten von Amerika gereist und hat seine Abenteuer gefilmt. Wenn wir Vergleiche zu unserer Musik ziehen müssten, dann wären es die Stimmungen, die Neugierde und die Offenheit für neue Eindrücke, die uns antreiben, vorwärtszugehen. Vergleichbar mit einer Reise, bei der man loslassen muss, um umso mehr überrascht zu werden. Also lasst los und begleitet Dofi auf seinem Weg zur Mitte.”
2020 erschien mit “I” das Debütalbum des Duos, das aus Dahm Majuri Cipolla – dem Schlagzeuger von Mono und Watter – sowie Reto Mäder von Sum Of R besteht. Entstanden ist das Projekt während eines Festivals in den Niederlanden, bei dem sich die beiden Musiker im Zuge ihrer anderen Bandprojekte kennengelernt hatten.
Das nun im Juni via Pelagic erscheinende zweite Album kann bereits vorbestellt werden.
Jegong – “The Complex Inbetween”
01. “Come To The Center”
02. “Clear The Way”
03. “KurkoM”
04. “Night Screaming Moves”
05. “Former Wish”
06. “Focus Defocus”
07. “An Oval And A Star.
08. “We End Here – We Start Here”
Erst am Freitag veröffentlichten Wrest ihre neue Single “Keep Going”. Die Wahl der Location für ihr neues Video im Barrowland Ballroom in Glasgow hat einen guten Grund: Der Termin für ihr Konzert im August 2024 in der Location steht bereits fest. Für die (noch) intimere Version der Ballade entschlossen sie sich, schon vorher dort einzukehren – diesmal blieben sie aber unter sich.
Und tatsächlich: Die Worte “Never wanted to be found/ Think I’ll notice you around” wiegen schwer in der Totale in dem verlassenen Tanzsaal. Die Band selbst beschreibt ihren Sound als “happy sad” – die neue Single und EP seien “sad sad”.
Produziert wurde die neue EP “Bedtime Rhymes” in den Castle Of Doom Studios, einem Tonstudio, das der Band Mogwai gehört.
Live: Wrest
27.05.2023 Beverungen – Orange Blossom Special
03.08.2023 Saarbrücken – Studio 30
03.-05.08.2023 Elend bei Sorge – Rocken am Brocken
06.08.2023 – Berlin – Badehaus
09.08.2023 – Hamburg – Molotow
11.08.2023 – Eschwege – Open Flair Festival
31.08.2023 – Düsseldorf – Vierlinden Open Air
01.09.2023 – Pünderich – Oben Air
15.09.2023 – Osnabrück – Kleine Freiheit
16.09.2023 – Hannover – Faust
17.09.2023 – Dresden – Beatpol