Jordan, nimmst du die Themen und Inhalte der “Wildlife”-Songs noch wahr, wenn du sie auf der Bühne singst? Oder sind das eher auswendig gelernte Zeilen?
Jordan Dreyer: Letzteres. Auch wenn die Inhalte der Songs mit das Interessanteste an dieser Jubiläumstour sind. Wenn du Songs schreibst, machst du eine Momentaufnahme einer bestimmten Zeit deines Lebens – aber du wirst auch älter. Mit den Leuten im Publikum zu interagieren, hat mich auf jeden Fall dazu gebracht, mehr darüber nachzudenken, worum es auf der Platte ursprünglich ging und welche Aspekte davon heute noch relevant sind. Besonders nach drei Jahren, in denen die Welt merklich schlimmer geworden ist und die Menschen in kurzer Zeit viel durchgemacht haben. Es war interessant, darüber nachzudenken, wie die Themen der Platte mein Leben und wohl auch das Leben vieler Leute im Publikum noch betreffen. Aber so etwas passiert nicht auf der Bühne, sondern rund um die Shows.
Welche Themen der Platte sind heute noch aktuell für dich?
Das sind eher allgemeinere Dinge: Verlust zu erfahren, sich isoliert und allein zu fühlen. Auf der Platte geht es auch darum, einen Ort zu finden, an den du gehörst, an dem du ein Gemeinschaftsgefühl hast. Nach so langer Zeit wieder vor Menschen zu spielen, hat mich deutlich spüren lassen, dass der Grund, in einer Band zu spielen, für uns immer noch darin besteht, sich mit Menschen zu verbinden und sich in einem Umfeld zu bewegen, in dem man sich wohl fühlt.

Die Songs auf “Wildlife” bestehen aus Kurzgeschichten, Einträgen und Anmerkungen eines fiktiven Autors, der sich unter anderem selbst hinterfragt. Du bist der Autor des Autors – wie viele deiner Gedanken und Sorgen gleichen denen des fiktiven Autors?
Im Laufe der Zeit und insbesondere für “Wildlife” habe ich Figuren erschaffen, durch die ich spreche. Die Grenze zwischen dem, was fiktionalisiert ist, und dem, was real ist, verschwimmt ganz schön. Einige Geschichten habe ich mir ausgedacht, aber die grundlegenden Themen der Isolation, die Suche nach einer Perspektive und der Umgang mit persönlichen Problemen ähneln meinen eigenen. Wenn ich nicht direkt aus meiner Perspektive schreibe, kanalisiere ich sicherlich meine eigene Perspektive, um eine realistischere Figur zu schaffen. Der “Wildlife”-Autor und ich sind in vielerlei Hinsicht also die gleiche Person, wir bewegen uns zumindest parallel auf dem Album.
Die Figuren sind realistisch und die Geschichten sehr direkt, weshalb viele Leute sie auf dich zurückführen. Ärgert dich das manchmal?
Manchmal schon. Wenn du über schwierige, emotionale Situationen schreibst und diese in der Öffentlichkeit preisgibst, nimmt der Zuhörer automatisch an, dass sie dich auch persönlich betreffen. Ich versuche mich nicht daran zu stören, schaffe das aber nicht immer. Es ist auf jeden Fall komisch, dass mir Leute Fragen zu Situationen gestellt haben, die ich für ein Album erfunden habe.
Wie nah bist du heute noch an deinen Figuren von vor zwölf Jahren?
Für unsere Patreon-Seite habe ich etwas über die Texte von damals geschrieben, und ich war überrascht, wie nah dran ich noch bin, näher als erwartet auf jeden Fall. Das hat wahrscheinlich auch mit den letzten drei Jahren zu tun. Die Gedankengänge auf dem Album kann ich jedenfalls noch mit meinem heutigen Denkprozess verbinden, es fühlt sich an, wie ein altes Bild von dir zu betrachten. Es gibt aber auch Dinge, die mich heute nicht mehr ansprechen.
Es wäre auch seltsam, wenn heute alles noch so wäre wie vor zwölf Jahren.
Ich glaube nicht, dass jemand beim Schaffen von Kunst – und das gilt für jede Art des Schreibens, für Musik und für Kunstwerke – darüber nachdenkt, sich diese eines Tages noch mal genau anzusehen. Ich habe jedenfalls nie über den unmittelbaren Moment hinausgedacht, in dem wir als Band etwas getan haben. Es gibt auch Dinge, auf die ich zurückblicke und die ich etwas erschreckend finde. Dinge, die mir ein wenig peinlich sind, etwa weil ich ein bestimmtes Wort verwendet habe. Den emotionalen Inhalt der Texte zu betrachten, ist genauso seltsam, weil man daran erkennen kann, inwiefern man erwachsener geworden ist und nicht mehr genau so fühlt wie damals. Aber der Punkt ist, dass ich das Album geschrieben habe, als ich 22 Jahre alt war. Und es wäre vergebliche Mühe zu denken, ich hätte damals die Perspektive eines 35-Jährigen haben sollen.

Wie ist es mit den Songs, die du nach “Wildlife” geschrieben hast: Besteht in denen eine größere Distanz zwischen den Figuren und dir?
“Rooms In The House”, die Platte, die wir nach “Wildlife” veröffentlicht haben, ist stärker fiktionalisiert. Es sind Aspekte meines Lebens eingearbeitet, aber zum größten Teil sind die Songs und die Figuren erfunden. Unser letztes Album, “Panorama”, ist wieder etwas repräsentativer für mein Leben. Ein persönliches Album, das absichtlich etwas abstrakter geschrieben ist, weil ich absichtlich weniger detailliert und dafür poetischer geschrieben habe, um mich so vom Inhalt der Platte zu distanzieren. Es handelt aber viel von meinem Leben, meiner Beziehung und meinem Zuhause.
Ist das auch eine Art Selbstschutz, damit du in 20 Jahren nicht noch einmal zurückblicken und darüber nachdenken musst?
Da ist auf jeden Fall etwas Wahres dran. Auf unserem ersten Album “Somewhere At The Bottom Of The River Between Vega And Altair” sind ein paar Songs, die von Leuten handeln, die ich kenne, und die Geschichten von Leuten erzählen, die ich kannte. Als ich die Songs damals geschrieben habe, war ich mir ziemlich sicher, dass die biografischen Informationen genug verschleiert waren, damit niemand erkennan kann, um wen sich die Songs drehen – was sich als falsch herausstellte. Jeder wusste, über wen ich geschrieben habe und worum es in den Songs geht. Die Leute, über die ich geschrieben habe, waren glücklicherweise mehr oder weniger zufrieden damit, wie ich das gemacht habe. Mir war es trotzdem unangenehm und mir wurde klar, dass ich zukünftig eine gewisse Distanz zwischen den Leuten, über die ich schreibe, dem Thema selbst und mir herstellen wollte.
Hast du in den letzten Jahren Geschichten erlebt, die thematisch zu “Wildlife” gepasst hätten und die du damals vielleicht in einen Song umgemünzt hättest?
Das ist schwer zu sagen. Ich bin mehr oder weniger zufrieden damit, wie “Wildlife” geworden ist. Der Song, der für mich heraussticht, ist “King Park”. Daran würde ich aber gerne ein paar Dinge ändern. Er hat sich so verselbstständigt, wie ich es nicht erwartet hätte, besonders im Rahmen der Internetkultur und mit der Art und Weise, wie Dinge aus einem Gesamtkontext herausgelöst werden. Allein durchs Streaming, bei dem Songs losgelöst vom Kontext eines Albums wahrgenommen werden und nicht, wie sie eigentlich geschrieben wurden. Im Kontext von “Wildlife” hat “King Park” einen Sinn, der oft verloren geht, wenn er unangemessen zitiert wird.
Wie meinst du das genau?
Es gibt eine Zeile am Ende des Songs, an der die Leute hängen, weil sie so emotional ist: “Can I still get into heaven if I kill myself?” Ein vermeintlich tatsächlich gesprochener Satz aus einer realen Situation. Wenn diese Zeile ins Netz gestellt oder von Leuten zitiert wird, verschweigt sie den kompletten Kontext der Geschichte. Auf eine bestimmte Weise bereue ich den Song deshalb, aber niemand kann Künstler von dieser Art der oberflächlichen Interpretation schützen. Wenn wir eine Platte aufnehmen, machen wir das für uns, wir machen das, weil es ein Kunstwerk ist, auf das wir hingearbeitet und über das wir sorgfältig nachgedacht haben. Was danach passiert, liegt nicht in unserer Verantwortung, und zu viel über das nachzudenken, was über die Veröffentlichung von Musik hinausgeht, würde einen kreativ lähmen. Trotzdem empfinde ich das oft als frustrierend. Manchmal muss man sich einfach mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Leute zu unseren Konzerten kommen, nur um diese eine Zeile zu hören.
Dass sich das falsch oder schlecht anfühlt, kann ich nachvollziehen. Das Problem ist, die Zeile funktioniert auch für sich allein – wenn auch anders.
Genau. Ich glaube allerdings schon, dass sich die überwiegende Mehrheit der Leute mit unserer Musik und Band beschäftigt hat. Das ist unglaublich. Ich möchte das auch niemandem absprechen. Vielleicht ist es auch nur meine selektive Wahrnehmung, weil Streetwear-Unternehmen die Zeile auf T-Shirts gedruckt haben. Das macht sie zu einer Art Emo-Mode-Gadget. Ein Shirt mit der Aufschrift “Can I still get into heaven…” zu sehen, frustriert mich tatsächlich.
Ich habe tatsächlich mal jemanden mit genauso einem Shirt getroffen, und sie kannte eure Band nicht mal. Das ist ähnlich wie mit den Nirvana-Shirts, die man bei H&M als Modeartikel kaufen kann und die Leute tragen, die nicht mal wissen, wer Kurt Cobain war.
Exakt. Vor einigen Jahren schrieb eine Zeitschrift etwas Unglaubliches über die Zeile aus dem Song. Die waren auf einem unserer Konzerte, haben die Zeile gehört und anschließend behauptet, wir würden unser junges Publikum zum Selbstmord ermutigen. Das ist eine dramatische und fast vorsätzliche Fehlinterpretation des Songs. Zumindest war das jemand, der sich keine Mühe gegeben hat, zu versuchen herauszufinden, worum es in dem Lied geht.
Ein anderes Thema: Schreibst du neben deinen Songtexten aktuell auch an anderen Arten von Texten?
Ja, ich schreibe unregelmäßig Gedichte, bin mal eine Zeit lang sehr aktiv, dann wieder länger nicht. Aber ich würde das gerne regelmäßig machen und irgendwann auch etwas veröffentlichen. Das ist eine Art zu schreiben, die ich schon lange liebe. Ich denke, ich kann noch um einiges besser werden, aber ich würde es gerne als zusätzlichen Karriereweg oder zumindest als ernsthaftes Hobby verfolgen. Es fühlt sich aktuell so ähnlich an, wie es sich lange Zeit beim Schreiben von Songtexten anfühlte. Aber ich war damals jung genug, um mich nicht zu hinterfragen und es einfach zu tun, weil ich verrückt danach war. Ich fühle mich erst in den letzten fünf oder sechs Jahren wohl dabei, zu sagen, dass ich Musiker bin. Ich denke also, es wird noch einige Zeit dauern, bis ich wirklich versuche, etwas außerhalb dieser Band zu schreiben, das Leute auch lesen werden, aber es steht auf meiner To-do-Liste.

Das hat sich offenbar geändert: 2011 hast du in VISIONS noch gesagt, dass die Musik deiner Band der einzige Rahmen für dich wäre, um zu schreiben.
Dann habe ich meine Meinung also geändert (lacht). Ich würde das wirklich gerne machen. Ich bin gerade auch dabei, andere musikalische Projekte mit Freunden zu verfolgen. Nichts Ernstes, aber ich fühle mich endlich wohler damit, das zu tun. Und ich würde das gerne ausbauen. Wir können mit La Dispute nicht jedes Jahr ein Album veröffentlichen, allein schon, weil wir an verschiedenen Orten leben. Deshalb würde ich gerne andere Dinge verfolgen, und ich denke, das gilt auch für die anderen in der Band.
2011 hast du außerdem gesagt, dass es dir eines Tages helfen könnte, die Situationen und Geschichten deiner Songs gedanklich durchgespielt zu haben – nämlich dann, wenn dir selbst so etwas widerfährt. Ist das eingetreten?
Ich denke schon. In der amerikanischen Kultur ist es so, dass man sich mit dem Altern und dem Tod nicht beschäftigt: Wir lösen uns absichtlich von der einen Sache, die alle Menschen eint. Die Zeit, die ich damit verbracht habe, mich in bestimmte Situationen hineinzuversetzen, um die Songs zu schreiben, hat mich vermutlich etwas tröstlicher damit umgehen lassen, dass der Tod nicht nur für mich selbst, sondern auch für die Menschen in meinem Leben unausweichlich ist. Ich glaube dadurch, dass ich mir eines unvermeidlichen Verlustes in meinem Leben mit 22 Jahren schon so bewusst war, war ich ein bisschen besser gerüstet, als ich dann eine solche Erfahrung machen musste.

Der Tod ist ein zentrales Thema auf “Wildlife”. Gleich der erste Song “Departure” funktioniert wie eine Einleitung, weil die Person in dem Song über den Tod nachdenkt.
Das stimmt, und ist es nicht seltsam für einen 22-Jährigen, so viel über den Tod zu schreiben? Vielleicht ist es aber auch schlau, sich dessen so bewusst zu sein.
Ich denke, es ist ganz normal. Auch Kinder machen sich schon Gedanken über den Tod, vermutlich, weil er nicht greifbar für sie ist.
Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind auch so war. Du hast als Kind nur ein geringes Verständnis vom Tod, aber du weißt, dass er existiert und dass darüber in einem sehr ehrfürchtigen Ton gesprochen wird. Das bringt einen ins Grübeln.
Und irgendwann muss man sowieso darüber nachdenken, warum sollte man es also hinauszögern.
Genau, das ist auf jeden Fall etwas, das wir lernen müssen. Es ist schwierig, sich damit abzufinden, denn der Tod ist unmöglich zu verstehen, aber er ist das, auf das wir alle zusteuern.
VISIONS empfiehlt:
La Dispute “Wildlife 10+2 Anniversary”
26.04.2023 Köln – Live Music Hall
28.04.2023 Hamburg – Uebel & Gefährlich
29.04.2023 Berlin – Astra Kulturhaus
30.04.2023 Dresden – Beatpol
02.05.2023 München – Backstage Werk
03.05.2023 Wiesbaden – Schlachthof Wiesbaden