Der Musik-Kosmos am Beginn eines neuen Jahrzehnts blickt traditionell in zwei Richtungen: Nach vorn in eine neue Dekade, auf fiebrig erwartete Platten, Tourneen, deren Eintrittskarten Fans angesichts immer großzügiger gesteckter Vorverkaufsperioden schon mal ein Jahr vor der Show in der Schublade haben. Auf die nächste Festivalsaison, den Duft weiterer Reunions und Comebacks, auf neue Songs alter Bekannter, Protagonisten in spe, die in diesem Moment noch in irgendwelchen Proberäumen in Osnabrück oder Oslo, Brooklyn oder Bielefeld am nächsten großen Ding schrauben. Und eben zurück auf die just im Böllernebel abgerauchte Dekade, auf etwas mehr als 3.650 Tage, in denen uns Songs um den Schlaf brachten, Trends den Kopf verdrehten, wir von der Revolution träumten, Künstler entdeckten, andere vergaßen, wiederum weitere zurück in die Arme schlossen – und wir uns verabschieden mussten, von einstigen Helden, von denen wir doch annahmen, sie hätten das Gröbste hinter sich: von Scott Weiland und Chester Bennington, von Grant Hart und Chris Cornell, von Kim Shattuck und Keith Flint, von Amy Winehouse und Poly Styrene, Prince, David Bowie – und endgültig auch von Myspace.
Eine schwierige, kaum zu bewältigende Aufgabe, auf nur einer Handvoll Seiten einen Rundumschlag auszubreiten, der auch nur das Wichtigste abdeckt. Gönnen wir uns dennoch einen Drohnenflug über die hinter uns liegende Dekade, blicken wir auf den Beginn der 10er Jahre und halten das Ohr an jene Zeit. Da ist Casper, der mit “XOXO” die Grenze zwischen HipHop und Indie verwischt. Kraftklub nehmen die Stufe zum Major, Marteria ist auf dem Sprung. Da sind Bands wie La Dispute und Touché Amoré, die ihrer Spielart des Hardcore einen literarischen Zwischenboden einziehen, während etwa Rise Against vom Club in die Mehrzweck-Halle wechseln und Baroness längst in ihrer eigenen Umlaufbahn kreisen.
2012 melden sich mit Refused und später auch At The Drive-In zwei der strahlkräftigsten Kollektive des ausgehenden 20. Jahrhunderts zurück, das Phänomen Alternative Rock erlebt eine Renaissance, nicht zuletzt dank der Revitalisierung einstiger Bannerträger wie Soundgarden oder Smashing Pumpkins. Auch der unkaputtbare Indierock verweigert ausgesprochen störrisch den Gang zum Abdecker, kombiniert stattdessen den Klang ewiger Helden wie Dinosaur Jr., Hüsker Dü oder Sonic Youth unter Zuhilfenahme immer ausgefuchsterer Produktionstechnik für jedermann mit scheuklappenfreier Querdenkerei zwischen Neo-Folk, Emo und Americana zu einem neuen Sound, in dem so unterschiedliche Typen wie Ty Segall, Japandroids oder Grizzly Bear ein Zuhause finden. Stichwort Indie: Auch der gute alte Rap entdeckt sein unabhängiges Herz, das für Künstler wie El-P, Aesop Rock oder etwa Earl Sweatshirt schlägt.
Black Metal und die Sache mit den Schuhen
2013 färben sich auch die Seiten von VISIONS partiell schwarz, Black Metal hält Einzug nicht nur in dieses Magazin, sondern auch auf die Seiten des Feuilletons und sogar in Kinosäle, wo sich etwa in der französischen Liebeskomödie “Happy Metal – All We Need Is Love!” alles um eine Black-Metal-Band dreht. Und während die Coffee-Table-Bücher von Peter Beste einen augenschmeichelnden Blick auf die True-Norwegian-Black-Metal-Szene werfen, entsteht auf der anderen Seite des Atlantiks ein neuer Sound namens Blackgaze. Allen voran sind es Deafheaven, deren Album “Sunbather” eindrucksvoll und lautstark belegt, wie gut das Zerren und Dröhnen des dunklen Metal mit der gut wattierten Melodieseligkeit des Shoegaze zusammenpasst. “Ich kann mir auch nicht ganz erklären, warum ausgerechnet wir so viel Aufmerksamkeit bekommen haben”, sagt Deafheaven-Sänger George Clarke einige Jahre später, was weniger Koketterie als die Unsicherheit des Ex-Außenseiters ist: Welcher Nerd glaubt schon einer chronisch ironischen Hipster-Meute, dass er gerade ein Genre revolutioniert hat? Ein Teil des Interesses rührt auch daher, dass Deafheaven-Gitarrist Kerry McCoy in Interviews bereitwillig verkündet, dass Burzum zu seinen musikalischen Vorbildern zählen, auch auf die ukrainischen Drudkh und deren Vorgänger Hate Forest – wegen fragwürdiger Äußerungen dem NS-Black-Metal zugeordnet – steht McCoy. Ein bitterer Beigeschmack in punkto Deafheaven, der lange nachhallt, auch wenn die Band infolge der Kontroverse ihre Interviews dazu nutzt, auf die strikte Trennung von musikalischer Inspiration und politischen Inhalten hinzuweisen. Die Szene aber verteilt ihre Liebe längst auf vielerlei Bands – neben Wolves In The Throne Room, Der Weg einer Freiheit und Liturgy, deren Namen seit längerem kursieren, spielen sich nun auch Acts wie Vattnet (Viskar) aus New Hampshire, die französischen Alcest und Loss Of Self aus Australien in den Vordergrund. Abseits davon haben sich die norwegischen Kvelertak, deren zweites Album “Meir” 2013 erscheint, ein ganz eigenes Plätzchen zwischen Black- und Death-Metal, Schweinerock und Death Punk erspielt.
»Ich kann mir auch nicht ganz erklären, warum ausgerechnet wir so viel Aufmerksamkeit bekommen haben.«
George Clarke, Deafheaven
Zur Mitte der Dekade feiern zahlreiche Klassiker aus der VISIONS-Welt 20-jähriges Jubiläum, darunter The Offsprings “Smash”, Green Days “Dookie”, Becks “Mellow Gold”, Soundgardens “Superunknown”, Nine Inch Nails‘ “The Downward Spiral”, Therapy?s “Troublegum”, Beastie Boys‘ “Ill Communication”, NOFX‘ “Punk In Drublic” und Pearl Jams “Vitalogy”. Doch es ist nicht nur die Retrospektive auf 1994, die nostalgisch stimmt, es melden sich tatsächlich auch andere musikalische Phänomene aus den Tiefen der Vergangenheit immer deutlicher zurück: In Großbritannien werden 2014 über eine Million Schallplatten verkauft, eine magische Grenze, die zum ersten Mal seit 1996 überschritten wird.
Vinyl ist endgültig zurück, auch und wieder auf diesen Seiten. Ein großes Special über das “schwarze Gold” ist eine erste Vorahnung dessen, was sich einige Jahre später mit der Premiere des MINT-Magazins manifestieren wird. Zwar werden die neuen Vinyl-Rekorde etwa durch die 4,4 Millionen Downloader ins Verhältnis gerückt, die sich via BitTorrent Thom Yorkes Soloalbum “Tomorrow’s Modern Boxes” besorgen, aber der Trend ist nicht zu bestreiten und setzt sich weiter fort. So rund wie bei Yorke läuft es in Sachen Downloads für U2 nicht: Die Entscheidung, ihr neues Album “Songs Of Innocence” via Itunes zu verschenken, entpuppt sich als PR-Flop, viele User empfinden jene klingende Post, die Bono ungefragt auf die Festplatten kippt, als übergriffigen Spam. Für einen wie Danko Jones ist das alles eh nur Marketing und Masche, als gälte es, der von Unkenrufen und Schwarzmalerei verunsicherten Posse Mut zuzusprechen, betätigt sich der Kanadier als silbenstarker VISIONS-Kolumnist, dessen Parole im Kern jedoch mit wenigen Worten auskommt: “Rock is not dead!”
Streaming vs. Oldschool
Doch so romantisch gefärbt solche Pamphlete klingen mögen, so retroselig Plattenkäufer die Folien von ihren frisch erstandenen Longplayern lösen, in der Datenwelt hat längst eine neue Ära begonnen, die seit Beginn der Dekade jährlich an Tempo gewinnt. Gab es 2011 in Deutschland gerade mal eine Million Musikstreaming-Nutzer, ist die Zahl um 2015 herum auf stattliche 28 Millionen angewachsen. Am Ende des Jahrzehnts sind diese Größenordnungen bereits pulverisiert, nicht nur hierzulande, sondern vor allem in den USA, wo laut Jahresabschlussbericht über die Musikindustrie, erstellt vom Marktforschungsinstitut Nielsen, erstmals die Billionen-Grenze geknackt wird. Sage und schreibe 1,15 Billionen Audio- und Musik-Streams bedeuten einen Anstieg um über 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Künstler wie Lil Nas X (2,5 Milliarden Streams im Jahr 2019), Post Malone (1,5 Milliarden), Billie Eilish und Ariana Grande belegen die vordersten Plätzen der Abruf-Bilanz. Bei den Streaming-Diensten trägt Spotify längst die Krone, mit über 100 Millionen zahlenden Abonnenten ist es das größte Portal weltweit. Auch hier sind Post Malone & Co. international natürlich vorn, in Deutschland führt kein Weg vorbei an HipHoppern wie Capital Bra, Samra oder RAF Camora. Während CD und Downloads weiter massive Rückgänge verzeichnen, glänzt die Dekaden-Bilanz in Sachen Vinyl vornehmlich mit prähistorischen Zeichen vergangener Epochen. Mit “Abbey Road” von den Beatles, Pink Floyds “The Dark Side Of The Moon”, “Legend” von Bob Marley & The Wailers, “Thriller”, “Rumors” und “Sgt. Pepper’s…” sowie “Kind Of Blue” von Miles Davis sind unter den zehn erfolgreichsten Schallplatten der 10er Jahre sieben unsterbliche Klassiker. Mit Lana Del Rey, Amy Winehouse und dem “Guardians Of The Galaxy”-Mixtape können nur drei zeitgenössische LPs den Dinos Paroli bieten.
»Social Media hat viel geändert, da muss immer was passieren. Für neue Bands tut es mir fast leid.«
Rick McPhail, Tocotronic
So attraktiv Vinyl also scheint, das klassische Album-Format hat seinen Stellenwert als vereinendes Medium, als emotionalisierendes Gesamtkunstwerk im Kontext von Neuerscheinungen und aktuellen Bands weitgehend eingebüßt. “Die unglaubliche Wucht von Platten und Bands und Künstlern, die früher ganze Jugendbewegungen in Schwung gebracht haben, die Weltpolitik und Moralvorstellungen ins Wanken bringen konnten, sind heute undenkbar”, resümiert Arne Gesemann vom Berliner Label Noisolution (Coogans Bluff, Mother Tongue). “Natürlich ist Musik immer noch wichtig, für mich persönlich allgegenwärtig, aber digital ist Scheiße! Jedwedes Geheimnis ist verlorengegangen und oft auch das Gefühl, selbst Teil von etwas zu sein. Man muss nicht mehr in einer Szene sein und Zeichen dechiffrieren, Insiderwissen haben, sich mit Inhalten, Kleidung, Politik und einem Verhaltenskodex auseinandersetzen. Musik ist nur noch ein, zwei Klicks entfernt. Man weiß alles, hat alles, hört alles, sieht alles – und klickt in der Regel genauso schnell weiter. Somit sinkt die Halbwertzeit eines Songs. Man hat alles sofort greifbar und hörbar und kommt kaum noch hinterher. Künstlernamen oder Songtitel sind schneller vergessen, als die Maus klickt.”
Ralph Buchbender vom Vertrieb Cargo Records schlägt in eine ähnliche Kerbe: “Es fehlen identitätsstiftende Bands und Trends. Die Kids hören die Musik ihrer Eltern oder ihrer Großeltern, das ist ein großes Problem in der Musik, auch was die Stile angeht. Alle hören alles, Ariana Grande ebenso wie irgendeine Rockband. Dazu kommen Faktoren wie Spotify, aber das ist halt auch nicht ganz neu. Das ist ein nicht umkehrbarer Prozess, der sich länger angekündigt hat, das kam nicht über Nacht. Wer sich darauf nicht eingestellt hat, für den wird es in der Industrie schwierig.”
Bei allen Ungewissheiten und zunehmend schwieriger Marktlage – welche Gründe gibt es von Label-Seite aus, immer weiterzumachen? Arne Gesemann bleibt dabei, “weil mich persönlich Musik und mein Job weiterhin kicken, meine Euphorie für das alles ist ungebrochen. Und es gibt sie ja auch noch, die Kunstwerke, die Konzeptalben mit aufwändigem Artwork und Linernotes, in den Nischen nämlich, für Sammler und Liebhaber, also genau da, wo ein Label wie Noisolution unterwegs ist. Deswegen geht es uns noch gut, deswegen feiern wir in diesem Jahr 25. Geburtstag.” Auch bei Cargo hat man die Herausforderung nicht nur erahnt, sondern angenommen. “Das soll nicht arrogant klingen, aber wir haben einfach sehr früh begonnen, unser Portfolio breiter zu fächern, vom Verlag bis zur Promo- und Produktionsabteilung. Das steht auf sehr vielen Beinen”, so Buchbender.
Noch nicht komplett im Arsch
Auch auf Band-Seite erlebt man die Veränderungen mal mehr, mal weniger schnell. Tocotronic etwa, einst juvenile Klassenbeste der Hamburger Schule, finden am Vorabend der 20er Jahre längst auch in anderen Hörerkontexten statt. “Bei uns verlief die Sache mit dem Streaming eher schleppend. Erst mit den letzten beiden Platten hat sich das geändert. Zu Anfang haben wir das nicht so gemerkt, das hat ein bisschen gedauert. Unser Publikum ist ja auch ein wenig älter”, erzählt Gitarrist Rick McPhail und lacht. “Das ging in anderen Genres sicher schneller. Und Social Media hat natürlich viel geändert, da muss immer was passieren. Für neue Bands tut es mir fast leid. Die Masse ist ja fast unüberschaubar, und Labels schauen dann als erstes auf Follower und solche Zahlen. Die Bands selbst müssen jetzt schon die ganze Arbeit machen, die früher beim Label lag. Man verdient nicht nur viel weniger, sondern muss auch noch selbst für PR sorgen.”
Während Labels und Vertriebe ihr Business mit aktuellen Künstlern am Laufen halten, rumort es Mitte der Dekade in der Ahnenhalle der VISIONS-Welt, 2015 wird zum Jahr einiger überaus spektakulärer Reunions. Unter den Bands, die zurückkehren und nach Live-Rückmeldungen nun sogar neue Alben herausbringen, sind Größen wie Faith No More, Blur, The Libertines und Refused, auch L7, My Bloody Valentine, Slowdive, Lush (wenn auch nur kurz) und Ride nehmen den Studiobetrieb wieder auf. Doch nicht nur die originären Dickschiffe selbst ziehen ihre Bahnen, auch das Phänomen Supergroups bekommt einen frischen Klang. Sparks und Franz Ferdinand machen gemeinsame Sache, Mutoid Man mit Converge, das Projekt Ten Commandos vereint die Soundgarden-Buddys Matt Cameron und Ben Shepherd, QOTSA-Gelegenheitsmitglied Alain Johannes und Dimitri Coats von Off! mit Gästen wie Mark Lanegan. Einer, vor dem es auch in jenem Jahr kein Entrinnen gibt: Dave Grohl. Selbst mit gebrochenem Bein lässt sich der Mann nicht vom Touren abhalten, tritt fortan mit Gips im Sitzen auf und bringt die Gemeinde damit zum wiederholten Male zur Kernfrage – ist Grohl nun der “nicest guy in rock” oder doch nur eine omnipräsente Nervensäge?
Kein Vertun gibt es dagegen bei einem weiteren politischen Großthema zur Mitte des Jahrzehnts. “Refugees welcome!” ist das Stichwort, Bands wie Love A, Feine Sahne Fischfilet, Die Goldenen Zitronen, Beatsteaks und Tocotronic beziehen – nicht nur auf diesen Seiten – eindeutig Stellung und zeigen sich solidarisch mit Flüchtlingen. Ein Thema, das chronisch aktuell bleibt. Unter den Ausrufezeichen, die in der gesamten Dekade gesetzt werden, sind das Festival Jamel rockt den Förster, bei dem 2016 Die Ärzte auftreten, die Noch nicht komplett im Arsch-Kampagne von Feine Sahne Fischfilet und das Chemnitzer #wirsindmehr-Festival 2018, von Kraftklub ausgerichtet und mit Bands wie K.I.Z., Feine Sahne Fischfilet, Die Toten Hosen und Marteria & Casper auf der Bühne. Auch die Fridays For Future-Demos bekommen durch Größen wie zuletzt Deichkind und Seeed einen musikalischen Unterton, der für Aufsehen und entsprechenden Zulauf sorgt. In den USA üben Bands wie Prophets Of Rage, Public Enemy, Cypress Hill und Green Day den Schulterschluss: Mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten im November 2016 hat die Punk- und Politfraktion in den USA nach den vergleichsweise harmonischen Obama-Jahren wieder ein adäquates Feindbild im Oval Office.
Die Festival-Szene in Bewegung
Im November 2015 schockieren die Terroranschläge von Paris die gesamte Welt. An mehreren Orten der französischen Hauptstadt kommt es zu tödlichen Attacken. Beim Konzert der Eagles Of Death Metal im Pariser Club Bataclan werden 89 Menschen getötet. Eine Tragödie, die auch auf die Zukunft der Konzertszene massiven Einfluss hat; in Deutschland führen Festivals wie Wacken, Taubertal und das idyllische Haldern Pop Taschen- und Rucksack-Verbote ein.
Überhaupt Festivals: Zur Mitte der Dekade wird der Kampf um die Open-Air-Fressnäpfe immer härter, das Ringen um Headliner zwischen Veranstaltungsmanagements wie DEAG, FKP Scorpio und Marek Lieberberg (MLK), Ticketing-Unternehmen wie CTS Eventim oder Live Nation Deutschland mit immer dickerem Portemonnaie geführt. Die Red Hot Chili Peppers werden früh für Rock am Ring und Rock im Park, zudem für das österreichische Novarock gemeldet, Rammstein sollen im Jahr darauf Hurricane und Southside befeuern. Die Gagen, so heißt es bei Insidern, spielen sich in dieser Größenordnung mittlerweile rund um die Millionengrenze ab; ein Umstand, der auch kleinere Festivals mittelfristig betrifft. Nicht nur die Bands mit den größten Namen auf dem Plakat werden zunehmend fürstlich entlohnt, die Gagen-Struktur sickert durch in die mittleren und unteren Bereiche des Festivalrosters – was für Festivals mit vierstelligen Zuschauerzahlen zum Problem wird, da es sich in diesem Kontext um zwar potentielle, bald jedoch nicht mehr zu bezahlende Headliner handelt. Festivals wie Serengeti, Blackfield und das Phonopop geben auf, dafür meldet sich das Reload eindrucksvoll zurück, während das Haldern Pop weiter und weiter seine geschmackvoll gestalteten Kreise dreht. Die Band Kraftklub krempelt selbst die Ärmel hoch, stellt mit dem Kosmonaut-Festival eine eigene Veranstaltung auf die Beine und lockt mit dem ersten Durchgang direkt 15.000 Zuschauer an.
Punk, Protest und Politik
Den Jahreswechel 2015/16 prägt der Abtritt zweier Lichtgestalten. Die Musikwelt hat sich noch nicht vom Tod Lemmy Kilmisters knapp zwei Wochen zuvor erholt, da macht am 10. Januar die Nachricht vom Tode David Bowies die Runde. Der war erst 2013 nach einer überlangen Produktionspause mit dem Album “The Next Day” wieder auf der Bildfläche erschienen, seine schwere Krebserkrankung hatte er vor der Öffentlichkeit geheimgehalten. Sein Album “Blackstar” wird zum selbstreferenziellen Abschiedswerk, das zwei Tage vor seinem Tod erscheint: “Look up here, I’m in heaven/ I’ve got scars that can’t be seen/ I’ve got drama, can’t be stolen/ Everybody knows me now”, heißt es im Song “Lazarus”, und zumindest dieses eine Album lang lässt Bowie uns den Traum vom Sieg der Kunst über den Tod träumen.
Es soll der programmatische Start eines von Abschieden geprägten Jahres werden. Glenn Frey von den Eagles stirbt acht Tage nach Bowie, auch Beatles-Produzent George Martin, Keith Emerson, Prince, Trio-Taktgeber Peter Behrens, Leonard Cohen, Greg Lake und George Michael stehen am Ende auf der Verlustliste 2016. Nick Cave liefert – gezeichnet vom Schmerz über den Tod seines Teenager-Sohns Arthur im Jahr zuvor – mit “Skeleton Tree” den universellen, nachtschwarzen Soundtrack dazu. Einen Raum für die Trauer bieten ausgerechnet die vielgescholtenen Sozialen Medien, die in diesen Tagen und Wochen auch zum Austausch von Erinnerungen und Emotionen genutzt werden und der zunehmenden Spaltung eine wenn auch kurze, aber tröstende virtuelle Zusammenkunft entgegenstellen. Doch nicht nur der Tod schlägt Breschen in die Musikwelt, es sind auch die ganz normalen Sollbruchstellen des Alters, die für Schieflagen sorgen. So müssen AC/DC ihre Tour abbrechen, da Sänger Brian Johnson Gehörverlust droht. Die Band selbst reagiert pragmatisch-spektakulär, setzt Johnson vor die Tür und holt sich mit Axl Rose einen ebenso namhaften wie kontrovers diskutierten Ersatz ins Haus.
2017 steht zunächst ganz im Zeichen des orangefarbenen Tölpels, US-Präsident Trump ist kaum unter den Augen gar nicht mal so vieler Zuschauer ins Amt eingeführt, da startet am Tag danach ein weltweiter Protest. Der Women’s March wird verstärkt durch Künstler wie Jeff Tweedy, Michael Stipe und Adam Granduciel (The War On Drugs), zudem gibt es zahlreiche Benefiz-Compilations, darauf Bands und Künstler wie Nada Surf, Stephen Malkmus, United Nations und viele mehr. Alle Erlöse gehen an gemeinnützige Organisationen, um Menschen zu helfen, die unter Trumps Politik leiden werden. Für die Punks von Anti-Flag ist es nicht damit getan, in ihrer Heimat zu protestieren: Mit einem Akustik-Set beziehen die Amerikaner in Köln gegen die AfD Stellung. Eine Band zieht es in diesen Zeiten nach über zehn Jahren das erste Mal wieder auf die Bühne: Beim von den Prophets Of Rage organisierten “Anti-Inaugural Ball” in Los Angeles spielen Audioslave ein einmaliges Reunion-Konzert. Ihr Sänger sorgt wenige Monate später für erschütternde Schlagzeilen: Mit Chris Cornell stirbt einer der prägendsten Musiker der gesamten VISIONS-Ära, am 18. Mai macht die Nachricht von seinem Tod die Runde. Die Gerichtsmedizin wertet seinen Tod als Suizid, seine Frau Vicky bezweifelt tatsächliche Selbstmordabsichten und gibt die Nebenwirkung des Medikaments Ativan – “paranoide oder suizidale Gedanken” – als möglichen Auslöser für die Tat an. Die Musikwelt ist schockiert, am 26. Mai nehmen Freunde, Familie und zahlreiche Weggefährten auf dem Hollywood Forever Cemetery in Los Angeles Abschied. Chris Cornell wurde 52 Jahre alt und hinterlässt drei Kinder.
Nicht nur fortwährende Abschiede verdunkeln die Popwelt, immer häufiger vermengen sich Tagespolitik, Kontroversen und Terror mit dem Geschehen zwischen Band-Bus, Proberaum und Bühne. In der Manchester Arena zündet ein Selbstmord-Attentäter während eines Konzerts der Sängerin Ariana Grande am 22. Mai eine Bombe, es sterben 22 Menschen, über 500 weitere werden verletzt. Künstler wie Liam Gallagher, Coldplay und Imogen Heap treten zwei Wochen später bei einer großen Benefizveranstaltung zugunsten der Opfer in Manchester auf, der Oasis-Klassiker “Don’t Look Back In Anger” wird zur inoffiziellen Hymne der Gedenkfeier.
Das Thema Israel spaltet weiterhin Teile der Musikwelt. Während etwa Radiohead in Israel auftreten und dort eines ihrer längsten Konzerte spielen, gibt es immer wieder, nicht nur für Yorke & Co., Kritik durch die BDS-Kampagne. Fürsprecher wie Roger Waters und Thurston Moore fordern gemeinsam mit der als antisemitisch kritisierten Organisation einen kulturellen Boykott Israels. Auch Nick Cave wird angegangen, der jedoch bekundet unmissverständlich, “sich nicht zensieren und schikanieren zu lassen.” Gegen das große Politik-Besteck wirken die Demaskierung von Ghost-Vorbeter Tobias Forge wie kurzweilige Morse-Codes aus der Scheibenwelt des Rock-Boulevards. Überhaupt Ghost: Die Band, gestartet als düstere Inkognito-Maskerade, entpuppt sich mittelfristig als mainstreamtaugliches Kombinat, verwebt ABBA-eske Pop-Strukturen mit tiefergelegten Gitarren, verknotet Mummenschanz und Geheimniskrämerei, erratischen Metal und PR-Präzision zum lukrativen Hybriden zwischen Black Metal und Andrew Lloyd Webber.
Frauen an die Gitarren
Das bereits erwähnte, einige Jahre zuvor von Danko Jones proklamierte Erbauungspamphlet in punkto Rock und seiner Standfestigkeit erfährt von 2017 an noch einmal eindrucksvoll Bestätigung, und das quer durch seine verschiedenen Spielarten. Da sind etwa die fast schon pathologisch produktiven King Gizzard & The Lizard Wizard, die kaum noch zu stoppen sind. Fünf Alben in drei Jahren haben sie veröffentlicht, allein 2017 sind es fünf weitere, ihr Stil ein sich stetig entwickelnder Crossover aus Psychedelic, Garage, Fuzz und etwas Prog. Bands wie Protomartyr und Idles bringen den Noise zurück in den Rock, vor allem letztere werden zu Bannerträgern einer neuen Hoffnung in Sachen Rock. Sänger Joe Talbot und sein Kombinat verbinden Post-Punk mit Sozialkritik, irrsinnige Liveshows mit Diversity-Themen, Brexit-Kritik und Poesie – Zeilen wie “My blood brother is an immigrant” und der Titel des überragenden Albums “Joy As An Act Of Resistance” geben die Richtung vor. Zusammen mit dem unterzuckerten Rap der Sleaford Mods aus Nottingham und einer bis dato anhaltenden Welle mit Bands wie Shame, Fontaines D.C. und Fat White Family bilden Idles den Nukleus eines hungrigen UK-Sounds. In völlig eigenen Nischen sind Bands wie Algiers unterwegs, die ein kratzbürstiges Garage-Soul-Update liefern, und natürlich Prog-Erneuerer Steven Wilson, der mit überlegenen Alben wie “The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)” und der Pop-Erweiterung “Hand. Cannot. Erase” einen ebenso vielschichtigen wie faszinierenden Soundkosmos erschafft.
Doch nicht nur haarige Typen tragen das Banner weiter, die Szene wimmelt nur so von hochtalentierten Gitarristinnen. Reba Meyers (Code Orange) und EMA, St. Vincent und Torres, Phoebe Bridgers, Lucy Dacus und Julien Baker, Chelsea Wolfe und natürlich Courtney Barnett starten durch. Mal eklektizistisch, dann wieder betont rockig – oder schlichtweg von allem etwas. Barnett etwa schwingt sich binnen kürzester Zeit zur Alleskönnerin auf, überzeugt solo ebenso wie im Rahmen ihrer wunderbar schluffigen Kooperation mit Kurt Vile, dem Weggefährten des anderen großen Heilsbringers in Sachen emotionaler Retro-Gitarrenarbeit: Adam Granduciel und seiner Band The War On Drugs.
Während sich also die Gitarre in ihren verzerrten Ausgestaltungen als überaus störrisch erweist, schlägt für einen anderen Ideenträger des Pop immer öfter das letzte Stündlein: das gute alte Musik-Magazin. Gegen Ende der Dekade verabschieden sich legendäre Dauerbrenner wie das HipHop-Sprachrohr Juice, das Gratis-Indieblatt Intro und das einstige Vorreiter-Journal, die Spex. “Was mir eher fehlt, ist ein erfolgreicher Blog wie Pitchfork oder Stereogum. In den USA können Indie-Bands durch diese Portale entdeckt werden, deutsche Bands finden dort aber nicht statt”, sagt Rick McPhail. “Das ist schon schwierig. Ich meine: Lesen die Leute überhaupt noch Musikpresse? Klar ist das Ende dieser Magazine tragisch. Ich weiß aber nicht, was die Gründe sind. Es gibt ja auch Magazine in England, das Mojo zum Beispiel, die tolle Storys haben, umfassend und gut recherchiert. Ich gebe dagegen zuweilen Interviews, da denk ich schon mal: ‘Seid ihr überhaupt an Musik interessiert?” Ich habe das Gefühl, in Deutschland fehlen da zuweilen gewisse Grundkenntnisse. Musik ist halt eine nerdige Sache. Die Leute mögen es, wenn sie merken, dass eine Geschichte wirklich rund ist und gut recherchiert. Von Ende der 90er an gab es einen Pop-Journalismus, bei dem es oft mehr um das Ego des Schreibers als um die Musik ging. Das hat mich durchaus genervt.”
Vom Ende des vergangenen Jahrhunderts zum Ende des vergangenen Jahrzehnts – wie lautet McPhails Fazit aus Tocotronic-Sicht? “Künstlerisch war das schon eine gute Dekade. Wir sind mit ‘Schall & Wahn’ mit einem Nummer-1-Album 2010 gestartet. Natürlich sind wir immer noch irgendwie eine Indieband, für die so etwas nicht so sehr zählt, dennoch war das zweifellos cool. Zudem haben wir uns von Platte zu Platte immer etwas Neues vorgenommen und das dann auch geschafft.”
Wut ist eine Energie
Eine andere Stimme, die zum Ausklang des Jahrzehnts kaum zu überhören ist, klingt dagegen etwas abgekämpfter. Zum einen ist das jedoch nicht mehr als eine Momentaufnahme, zum anderen hat sie wie kaum eine andere Sängerin in den letzten Monaten der 10er Jahre für Aufsehen gesorgt. Die Rede ist von Ren Aldridge, Sängerin und Sprachrohr der Petrol Girls, deren “Cut & Stitch” zum Album des Monats im Juni-Heft des vergangenen Jahres wurde. 2012 hatte sie die Band nach einem spontanen Zwei-Song-Set auf einer Party gegründet, kaum ahnend, welch bewegte Zeiten auf sie zukommen würden. “Das war noch nicht besonders gut, was wir da spielten, diese zwei Akustiksongs”, lacht Aldrige ein ansteckendes Lachen. “Aber ich sage den Leuten immer, sie sollen sich das auf Youtube anschauen. Heute gelten wir ja schon mal als Band mit vertrackten Songs, aber das alles hat einmal so simpel angefangen. Ich finde das äußerst motivierend. Kaum eine Band ist gut, wenn sie startet. Aber jeder kann es schaffen.” Die Band spielt in den Folgejahren in alternativen Zentren, in Punk-Clubs, es folgen Festivals, zuletzt tourten die Petrol Girls mit Thrice und Refused durch große Hallen.
“Wenn ich an die letzten sieben, acht Jahre denke, dann auch daran, wie anstrengend politisches Engagement zuweilen ist, wie fordernd und Energie raubend”, resümiert Aldrigde und muss trotz der schwerwiegenden Worte doch direkt wieder lachen. Die Sängerin der Petrol Girls mag es Kraft gekostet haben, zu einer der prägenden Stimmen im Hardcore-Punk der ausgehenden Dekade zu werden. An ein Ende ihres Engagements als Feministin und Aktivistin in Sachen Gender-Themen, Austerität, Repressalien und Gleichberechtigung denkt sie natürlich dennoch nicht. “Manchmal möchte ich aber auch einfach auf einem Konzert stehen, Bier trinken und nicht wütend oder angefressen, sondern einfach nur Zuschauerin und Fan sein”, erklärt sie den Stoßseufzer, und man mag es ihr nachfühlen. Der Blick voraus erfüllt sie bei aller Anstrengung mit jeder Menge Hoffnung und positiver Energie. “Ich schaue mir junge Menschen wie Greta Thunberg an, sie ist eine echte Legende für mich. Überhaupt, all die jungen Kids, die richtig Dampf machen und auf die Straße gehen, um sich für ihre Ziele einzusetzen. Ich schaue da manchmal drauf und denke, dass ich mit bald 30 jetzt schon zu den Älteren gehöre”, sagt Alridge. “Aber das ist eine gute Sache, dass die nächste Generation nachwächst und den Mund aufmacht.”
»Wenn ich an die letzten sieben, acht Jahre denke, dann auch daran, wie anstrengend politisches Engagement ist.«
Ren Aldridge, Petrol Girls
Es ist also auch eine anstrengende Dekade, die da ihren Hut nimmt, nicht nur für eine engagierte Band wie die von Ren Aldridge. Selbst für gestandene Acts ist es zum Ausklang des Jahrzehnts oft nicht mehr möglich, allein von Plattenverkäufen zu leben. Der Konzertmarkt ist 2019 härter umkämpft denn je. Was wenige Jahre zuvor noch ein Festival-Syndrom war, ist nun ein Verdrängungswettkampf in der Breite, an dem unterschiedlichste Plattformen – von regulären Ticketanbietern bis zu dubiosen Börsen wie etwa Viagogo – verdienen wollen. Für letztere stoppt Google schließlich die Werbung, ein symbolträchtiger Schritt, ebenso wie die EU- und Graswurzelinitiativen gegen Schwarzmarkthandel.
Die popkulturellen Erwartungen an die 20er Jahre sind vielschichtig: klimafreundlichere Shows und Festivals, Auswüchse in den Sozialen Medien besser in den Griff bekommen, eine längst überfällige Strukturreform der Künstlervergütung durch Streaming-Plattformen wie Spotify, politisches Engagement in den anstehenden Wahljahren dies- und jenseits des Atlantiks, aber eben auch und immer noch und immer wieder: großartige Platten, sinnstiftende Songs, Konzerte, die uns den Kopf abschrauben und bis ins Mark euphorisieren. Der Herzschlag der besten Musik wird, allen Stromschnellen, Untiefen und Fußangeln zum Trotz, auch in den 20ern unseren Rhythmus bestimmen. Versprochen.
Rückblick: Die 2010er
Es kann nur hundert geben
Inhalt
- Die 2010er: Die Plattenliste – Die 100 besten Alben der 2010er
- Die 2010er: Chronik eines Jahrzehnts – Blick zurück nach vorn