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Das sogenannte Frauenspecial: Finger in die Wunde

Essay: Das sogenannte Frauenspecial

Finger in die Wunde
„What’s it like to be a girl in a band?/ I don’t quite understand“, singt Kim Gordon in „Sacred Trickster“ und gibt damit ihre Antwort auf eine der populärsten Interviewfragen für Musikerinnen. Der gemeine Musikjournalismus scheint seine Antwort auf die Frage von geschlechtergerechter Berichterstattung bereits gefunden zu haben: das sogenannte Frauenspecial. Darf man so etwas noch bringen? Eine Betrachtung von Kat Ott, einer „Woman in Rock“.
L7 und Louise Post von Veruca Salt
L7 und Louise Post von Veruca Salt: Die beiden Bands klingen gleich, oder? Von wegen! (Foto: Collage, Martyn Goodacre/Hulton Archive/Getty Images & Frans Schellekens/Redferns/Getty Images)

„Women in Rock“ prangt in pinken Lettern auf der Titelseite des Musikmagazins in der Auslage der Zeitschriftenhandlung. Darunter: Lita Ford mit perfekt polierter Gitarre um den Hals, in heroischer Pose und mit einem Gesichtsausdruck, der sagt: „Mir kann niemand etwas anhaben.“ Ich arbeite mich durch die Seiten: Kathleen Hanna blickt mit kämpferischem Blick und erhobener Faust ins Publikum, eine schmollende Courtney Love lungert rebellisch in Szene gesetzt auf dem Boden. Auf den letzten Seiten tut man sich schon schwerer mit den weiblichen Rockikonen, deshalb hat es Alanis Morissette auch noch ins Heft geschafft. Was verbindet Alanis Morissette und Lita Ford eigentlich musikalisch, außer dass man beide als Frau liest? Ich bin peinlich berührt. Das Heft wandert zurück auf den Stapel. Ich frage mich: Kann man so etwas wie ein „Frauenspecial“ heutzutage noch verantworten? Ich komme zum Schluss: Kann man. Aber anders.

Viele Musikmagazine verfolgen heute das rühmliche Ziel, die Sichtbarkeit von Frauen in der Musikwelt zu stärken und wählen hierfür häufig schillernde Formate, die sich vom üblichen Heftinhalt abheben. Diese Art der Berichterstattung soll dazu dienen, Musikerinnen – oder weiblich gelesenen Künstler:innen – endlich den prominenten Platz einzuräumen, der in den vergangenen Epochen der Rockmusik von männlich besetzten Bands belegt wurde. Einige Redakteur:innen handeln hier aus purem Idealismus und der Einsicht, dass nun wirklich etwas in puncto Gleichberechtigung geschehen muss, manche hingegen sind smart und wissen, an welchen Themen man 2023 nicht mehr vorbeikommt. Und dann gibt es noch die dritte Kategorie, in der „woken“ community gerne als „alter weißer Cis-Mann“ bezeichnet, die sich durch völliges Desinteresse und Rückbesinnung auf die „gute alte Zeit“ auszeichnet und von all dem „Genderkram“ nichts wissen will.

Dass sich in der Musikwelt aber etwas tun muss, belegen allein schon die Zahlen aktueller Studien: So lag laut einer Erhebung der MaLisa-Stiftung der Anteil der Bands mit Frauenbeteiligung auf deutschen Festivals in den vergangenen Jahren bei unter 20 Prozent. In den deutschen Charts ist der Anteil der Künstlerinnen zwischen 2012 und 2019 sogar zurückgegangen. Laut Zahlen einer großangelegten Erhebung der Gema in Kooperation mit Music Women* Germany, liegt der Frauenanteil in den Bereichen Songwriting, Gema-Mitgliedschaft, Gema-gemeldete Autor:innen und Engagements weit unter 20 Prozent. Dieser Prozentsatz ist seit 2010 sogar rückläufig (mehr zu diesen Zahlen im Beitrag „Es regnet Männer“).

Der „Deutsche Kulturrat – Frauen in Kultur und Medien“ hat in den vergangenen Jahren geschlechtsspezifische Gehaltsgefälle untersucht und verzeichnete einen Unterschied zwischen Männern und Frauen in nahezu allen Bereichen der Musikindustrie bei bis zu 64 Prozent. Sich als weiblich identifizierende Musikkomponistinnen etwa verdienen im Schnitt 35 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Bei Texterinnen sind es 65 Prozent. Frauen sind hier natürlich nicht die einzige marginalisierte Gruppe: Wenn es beispielsweise um den Anteil von BIPoC-Personen oder sich als nicht-binär identifizierende Personen oder Menschen mit Behinderung geht, klafft die Schere nochmal um einiges weiter auf.

Die Zahlen sind eindeutig, und auch subjektiv entsteht der Eindruck, etwa beim Stöbern durch Magazine, dass es schlicht weniger Bands mit Frauenbeteiligung gibt. Diese Behauptung stimmt allerdings nur zum Teil, denn geht man auf die Suche, findet man eine Vielzahl interessanter Musikerinnen, die häufig aber nicht den Weg in ein Heft oder auf eine Plattform finden – oder noch nicht als relevant genug gelten, um platziert zu werden. Das hat unter anderem mit historischen gewachsenen, diskriminierenden Strukturen zu tun, die Frauen den Zugang zu Ressourcen erschweren, wie etwa zu Kontakten in der Musikindustrie. Über die Gründe dafür kann man an anderer Stelle viele Seiten füllen.

Sichtbarkeit auf Dauer

Wenn wir uns die oben genannten Fakten zu Herzen nehmen: Was kann falsch daran sein, Musikerinnen und Bands mit Frauenanteil besonders hervorheben zu wollen, um dieser Ungerechtigkeit etwas entgegenzusetzen? Die Lösung scheint naheliegend: Wenn wenige Frauen in den Magazinen vertreten sind, müssen wir doppelt auf den Putz hauen und ihnen eigene Rubriken widmen, damit das Gleichgewicht wieder hergestellt und mehr Sichtbarkeit auf Dauer erreicht werden kann. Leider geht der Plan in der klassischen Umsetzung nicht auf. Durch das Einräumen eines Sonderstatus werden Frauen als das „Andere“ dargestellt. Sie sind also nicht mehr reine Punkbands, Stonerbands, Metalbands, Indierockbands und so weiter, sondern vor allem „Frauenbands“. Diese Einteilung vorzunehmen ist gefährlich, da der Eindruck entsteht, Frauen wären eine homogene Masse und „Frauenbands“ eine eigene Kategorie, während sie im Wesentlichen dazu beiträgt, die Diskriminierung noch weiter zu verstärken. Kathleen Hanna, Frontsängerin der Riot-Grrrl-Band Bikini Kill, hat das einmal treffend formuliert: „Nur weil ich eine Frau bin, heißt das nicht, dass ich wie jede andere Sängerin bin.“ (siehe hierzu auch den Beitrag „Female fronted is over“.)

Besonders die gängige Sprache vieler Sonderformate oder der journalistische Umgang mit Musikerinnen im Allgemeinen spielt eine große Rolle, wenn es darum geht, Ungleichheiten entweder abzubauen oder zu verstärken. So werden im (Musik-)Journalismus gern Bezeichnungen wie „Powerfrauen“ oder „Girlpower“ verwendet, die schon im Wort selbst beinhalten, dass ein bestimmter Zusatz hermuss, um frau damit sprachlich aufzuwerten. Mit solchen Begrifflichkeiten spricht man Frauen aber implizit ab, dass sie nicht schon per se „power“ hätten. Gleiches gilt für Begriffe wie „Girlboss“ – warum sollte ein Boss nicht einfach ein Boss ein? Bei männlichen Kollegen würde man nicht auf die Idee kommen, sie als „Boyboss“ oder „Power-Bros“ zu bezeichnen, da man insgeheim schon davon ausgeht, dass sie diese Eigenschaften innehaben. Bezeichnungen wie „Popsternchen“ hingegen dienen in ihrer herablassend-verniedlichenden Form eher dazu, Musikerinnen lächerlich zu machen und sie zu demütigen.

Corin Tucker by Theo Wargo
Foto: Theo Wargo/WireImage/Getty Images

»Es kommt so oft vor, dass einem als Frau in der Musikindustrie Fragen gestellt werden, die keinem männlichen Musiker jemals gestellt würden.«
Corin Tucker

In Rezensionen werden Musikerinnen häufig ausschließlich mit anderen Musikerinnen verglichen. Statt dass man Bands des gleichen Genres – ungeachtet des Geschlechts – als Vergleich heranzieht, misst man Hole lieber an L7 und wirft im selben Atemzug direkt noch Veruca Salt und The Breeders in den Ring. Jede:r versierte Leser:in wird mir hier sicher zustimmen: L7 klingen nicht im Geringsten wie Veruca Salt. Und doch wird auch hier wieder eine Trennung vorgenommen zwischen Bands, die aus Frauen bestehen und eben dem „normalen“ Rest: Nirvana, Soundgarden, Pearl Jam & Co., um mal in den 90ern zu bleiben. In derselben Kategorie finden wir übrigens auch fragwürdige Aussagen wie diese: „Die neuen weiblichen Ramones„, was auch immer das bedeuten soll. Im „Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung“ von Ruth Becker und Beate Kortendiek, das einen umfassenden und fundierten Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der deutschsprachigen und internationalen Frauen- und Geschlechterforschung gibt, wird zusammengefasst, dass Sprache dann sexistisch ist, wenn sie Frauen und ihre Leistung ignoriert, sie nur in Abhängigkeit von und Unterordnung zu Männern beschreibt, in stereotypen Rollen zeigt (und ihnen so über das Stereotyp hinausgehende Interessen und Fähigkeiten abspräche) und Frauen durch herablassende Sprache demütigt und lächerlich macht. Wenn wir uns nun also die übliche Berichterstattung in vielen Musikmagazinen anschauen und diese Erkenntnisse als Indikator für Sexismus nutzen, dann sieht es düster aus – um es mal sanft zu formulieren.

Keine Rolle

So scheint das übliche „Frauenspecial“ eher kontraproduktiv zu sein, als dass es konstruktiv dazu beiträgt, Musikerinnen den Platz einzuräumen, den sie verdient haben. Was nun? Können wir einfach die Tatsache ignorieren, dass immer noch zu wenige Bands mit Frauenanteil im Musikjournalismus vertreten sind? Können wir das Problem lediglich durch nicht-sexistische Sprache lösen? Wird sich das Ungleichgewicht in Luft auflösen und damit die Probleme, mit denen Musikerinnen tagtäglich zu kämpfen haben, nur dadurch, dass wir nicht mehr darüber sprechen? Die Antwort lautet: nein.

Wenn wir verstehen wollen, wo genau die Ursachen liegen, warum auch 2023 immer noch ein verschwindend geringer Anteil von Musikerinnen sich traut, eine professionelle Bandkarriere einzuschlagen, müssen wir eben jene befragen, die es betrifft: die Frauen selbst. Durch das Eintauchen in ihre Lebenswelt werden kollektive Erfahrungen sichtbar gemacht, können dahinterstehende diskriminierende Strukturen aufgedeckt und benannt werden. Viele Musikfans denken, es gäbe diese Ungleichheit nicht und dementsprechend kein Problem, da sie niemals einen umfassenden Einblick in den Alltag einer Musikerin erhalten oder selbst keine diskriminierenden Erfahrungen machen. „Es kommt so oft vor, dass einem als Frau in der Musikindustrie Fragen gestellt werden, die keinem männlichen Musiker jemals gestellt würden“, sagte Corin Tucker von Sleater-Kinney einmal.

Selbst einige Frauen – Musikerin oder nicht – sind der Ansicht, dass sie gleichwertig behandelt werden und dass Sexismus in der Musikindustrie ein Märchen von „jammernden Feministinnen“ sei. Es ist mehr als wünschenswert, wenn es Frauen gibt, die überhaupt keine diskriminierenden Erfahrungen machen (auch wenn ich das persönlich stark bezweifle, da Zahlen und Forschung ein ganz anderes Bild zeichnen), das heißt aber nicht, dass es deshalb grundsätzlich kein Problem gäbe.

Was kann der Musikjournalismus also tun, um Frauen in der Musik sichtbarer zu machen? Wie kann es gelingen, Ungleichverhältnisse zu thematisieren, ohne die Frauen zu stigmatisieren und somit sexistische und diskriminierende Muster zu reproduzieren? Meine Antwort lautet: Soll es um Musik und die Einordnung dieser gehen, darf das Geschlecht keine Rolle spielen. Geht es um ein politisches Thema, wie die jenes der Gleichberechtigung, dann darf, soll und muss ein „Special“ her. Eines, in dem FLINTA*s, die darüber berichten möchten, ihre Erfahrungen teilen und zu Wort kommen dürfen. In dem Zahlen präsentiert, Fragen gestellt und historische Hintergründe beleuchtet werden. Es braucht Specials, die sich dem spezifischen Problem widmen, und keine „Women in Rock“-Formate, in denen es eigentlich um Musik gehen soll, die Musikerinnen dabei aber so darstellen, als wäre „Frauenband“ eine eigene Kategorie.

Es muss wehtun

Bands, egal welchem Gender sich ihre Mitglieder zugehörig fühlen, sollten gleichberechtigt in der regulären Berichterstattung vorkommen, rezensiert und besprochen werden. Und das ohne Zusätze oder sexistische Beschreibungen wie „Powerfrau“. Wir müssen aufhören, Musikerinnen als „charmant“ oder „girls“ zu bezeichnen, wenn sie erwachsene Frauen sind, und müssen aufhören zu glauben, dass jede von ihnen über die Vereinbarkeit von Familie und Musik, diskriminierende Erfahrungen oder ihr äußeres Erscheinungsbild reden möchte. Nicht jede möchte und muss Aufklärungsarbeit leisten, viele sind es einfach leid – und das zurecht. Diejenigen, die darüber sprechen möchten, sollen das unbedingt tun, allerdings niemals ungefragt und ohne ihr Einverständnis. Entsprechende Fragen hierzu dürfen Journalist:innen getrost aus ihrem Standardrepertoire streichen, wenn es lediglich um Musik gehen soll.

Glaubt uns, auch wir Musikerinnen haben es gehörig satt, immer wieder alles von vorne zu erzählen, die gleichen Geschichten Interview für Interview erneut durchzukauen. Uns zu rechtfertigen und dabei das Gefühl zu bekommen, irgendwie nicht ganz dazuzugehören. Den darauffolgenden Shitstorm auszuhalten und uns sagen zu lassen, wir sollten uns lieber um die „wirklich wichtigen Dinge“ kümmern. Wir wollen lieber darüber reden, wie wir das neueste Album produziert haben, was uns beim Schreiben inspiriert oder warum genau wir diesen oder jenen Gitarreneffekt benutzen.

Erklärtes Ziel ist es, dass es irgendwann kein Thema mehr ist, ob Musiker:in sich als Frau, Mann, nicht-binär oder agender definiert. Gleiches gilt für Herkunft, kulturelle Hintergründe oder Sexualität. Irgendwann, hoffe ich, muss es keine Specials mehr geben, die genau das zum Thema machen. Aber hier sind wir leider noch lange nicht. Jule Detlefsen, Gründerin des feministischen Musikmagazins Flutwelle, hat einmal in einem Interview gesagt: „Klar, es ist auch nervig, als Frau ständig Aufklärungsarbeit leisten zu müssen. Für jede Minderheit ist es nervig, für die Aufklärungsarbeit verantwortlich sein zu müssen. Aber es ist wichtig, dass Männer, die es noch nicht verstanden haben, diese Dinge hören.“ Ich stimme Detlefsen zu und sage: Auch wenn allen die Ohren bluten, wir am liebsten von all dem nichts mehr wissen wollen und uns das Thema zum Hals heraushängt – solange sich die Verhältnisse nicht ändern, müssen wir den Finger in die Wunde legen. Und ja, eines ist gewiss: Es muss wehtun.

 


Dossier: Women To The Front
Weiblich gelesen

Inhalt

  1. The Breeders: 30 Jahre "Last Splash" – Cheerleader aus der Hölle
  2. Essay: Das sogenannte Frauenspecial – Finger in die Wunde
  3. Im Porträt: Johanna Bauhus – Optimismus als Katalysator
  4. Essay: Das Pseudo-Genre – Female fronted is over
  5. Interview: Miki Berenyi – Die Nettigkeitsfalle
  6. Im Porträt: Linda Dağ – »Technik-Talk langweilt mich«
  7. Geschlechtergleichheit bei Musikevents – Es regnet Männer
  8. Im Porträt: Marga Glanz – »Wir spalten uns auf«
  9. Interview: Bush Tetras – Nicht beirren lassen
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