Sufjan Stevens
Javelin
So muss auch “Javelin” ohne Interviews und Auftritte auskommen wie seine direkteren Vorgänger: Sufjan Stevens ist am Guillian-Barre Syndrome erkrankt und liegt im Krankenhaus. Seine zehnte reguläre Platte, die er weitgehend allein eingespielt hat, klingt trotzdem, als wäre ein halber Hofstaat daran beteiligt gewesen. Auch die dem Album beigefügte Sammlung hochkomplexer Essays voller Wortspiele und Verklausulierungen, biografischen Andeutungen in schwer dechiffrierbarer Sprache wirft leider eher Fragen auf, als Antworten zu geben. Immer wieder ist darin von Liebe zu lesen. Von erster und vierter Liebe, pränataler oder posthumer Liebe. Und vor allem von bedingungsloser Liebe.
Ihr widmet Sufjan Stevens den Song “Will Anybody Ever Love Me?” und trifft im Refrain mit plötzlich gar nicht mehr so verstiegener Syntax die Mitte zwischen Resignation und Optimismus: “Will anybody ever love me?/ For good reasons/ Without grievance, not for sport?” Sufjan Stevens steigt am Klavier in das Stück ein, singt mit über die Jahre schwerer gewordener Stimme darüber und führt es dann in ein elektronisches Crescendo über – ein Trick, zu dem er auf dem Album mehrfach greift.
Das Klangdesign von “Javelin” prägen auch seine drei Sängerinnen Adrienne Maree Brown, Megan Lui und Hannah Cohen, die Stevens’ Eigenbrötlerei im Studio zuletzt mit der dunklen Kunst eines Alchemisten verglich. Doch “Javelin” ist eine helle, geradezu leichtfüßige Platte geworden: Das schnelle Fingerpicking auf der Akustikgitarre in schlichten Folk-Songs wie “Genuflecting Ghost” und “There’s A World” – im Original von Neil Young eine pompöse Orchesterproduktion irgendwo zwischen Ennio Morricone und dem “Zauberer von Oz” – schlägt den Bogen direkt zu “Carrie & Lowell”, Sufjan Stevens’ bislang letztem ganz großem Album von 2015.
Im von The National-Gitarrist Bryce Dessner begleiteten “Shit Talk” zieht es Sufjan Stevens dann kurz zurück zu seinem Faible für Freiform und Ambient, insgesamt aber siegt der Song, siegt die Struktur auf “Javelin”, zumal in entwaffnenden Balladen wie “So You Are Tired” oder “Everything That Rises”. So verbindet das Album in letzter Konsequenz die Intimität von “Seven Swans” (2004) mit dem formvollendeten Songwriting auf “Carrie & Lowell” und wäre doch ohne die elektronische Expertise durch “The Age Of Adz” (2010) kaum denkbar. So gesehen ist Sufjan Stevens beim ersten Best-of-Album seiner Karriere angekommen.
Das steckt drin: Joni Mitchell, Elliott Smith, Neil Young
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