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Nachruf von Ingo Neumayer: "Dirk Siepe war dort, wo ich hinwollte"

Nachruf von Ingo Neumayer: „Dirk Siepe war dort, wo ich hinwollte“
Unser früherer Chefredakteur Ingo Neumayer erinnert sich an Dirk Siepe.

Ich stehe auf einem riesigen Parkplatz in Tinley Park, einem Vorort von Chicago. Es ist Juni 1997 und ich soll über die Ozzfests berichten. Mein erster großer Auftrag für VISIONS, mein erstes Mal in den USA. Blass und nervös schleiche ich zwischen den Nightlinern herum auf der Suche nach Geschichten und Gesprächspartnern, bis mir John Garcia über den Weg läuft. Der Ex-Sänger von Kyuss, der mit seiner neuen Band Slo Burn gerade seinen Auftritt hinter sich hat, ist verschwitzt und auf dem Weg in seinen Bus. Ein spontanes Interview mit einem stammelnden Grünschnabel ist bestimmt nicht das, was er sich gerade vorstellt. Doch als ich sage, wer ich bin und woher ich komme, hellt sich seine Miene auf: „Du bist von VISIONS? Cool. Wie geht es Dirk? “ Fünf Minuten später sitzen wir hinten in der Lounge des Slo-Burn-Nightliners, trinken Bier und machen das Interview. Türöffner Siepe sei Dank.

Ich glaube, Dirk und ich kannten uns damals noch gar nicht persönlich. Beziehungsweise: Ich kannte ihn natürlich aus dem Heft. Er war dort, wo ich hinwollte. Musikjournalismus war ein Traum, und er lebte ihn. Damals, vor dem Stream- und Online-Zeitalter, lief fast alles über Vertrauen. Man suchte sich sein Magazin, und in diesem Magazin suchte man sich seine Autoren. Was die schrieben, wurde gelesen, was die empfahlen, wurde gehört, ja manchmal sogar blind gekauft. Dirk Siepe war einer von diesen Autoren. Wobei: „einer“ stimmt nicht. Dirk war eine Zeitlang der VISIONS-Autor schlechthin, wahrscheinlich der einflussreichste und wichtigste, den es in diesem Heft je gab. Ein Typ, fast so groß wie die Bands, über die er schrieb.

Klar: Bands wie Kyuss, Queens Of The Stone Age, Monster Magnet, Turbonegro, The Hellacopters, Mother Tongue oder Gluecifer waren einzigartig, ihr Talent stach ins Auge. Aber manchmal reicht es eben nicht, wenn man „nur“ eine tolle Band ist. Manchmal braucht es einen Botschafter, einen Übersetzer. Dirk hielt mit seinem Enthusiasmus, seinem Schreibstil und seinem Wissen über die Rock’n’Roll-Geschichte einen fetten Hebel in der Hand, von dem er gut und gerne Gebrauch machte. Der Einfluss eines einzelnen Journalisten lässt sich schwer messen, aber deutlich fühlen: Ohne Dirk wäre die Karriere von einigen Bands anders, unspektakulärer verlaufen. Fragt nach bei Josh Homme.

Auch die persönliche Ebene stimmte bei Dirk – ein nicht unwichtiger Teil in diesem Geschäft. Denn für gute Storys braucht man gute Interviews, und für gute Interviews muss man gut rüberkommen. Gerade in einem Bereich, in dem es viel Gepose, Attitüden und Eitelkeiten gibt. Dirk hatte immer einen dicken Draht zu den Bands. Er machte sich nicht klein – wieso auch? Er hatte schließlich selbst mal in einer Band gespielt, Schlagzeug bei den (zumindest in Dortmund) sagenumwobenen Spanish Flies. Und dafür, dass die nie groß rausgekommen sind, konnte er ja wohl nichts.

Ein halbes Jahr nach dem Treffen mit John Garcia wurde ich festes Mitglied der Redaktion und sah Dirk jeden Tag. Wir waren jetzt offiziell Kollegen. Ich hörte CDs und Tapes von Nachwuchsbands an und sortierte sie. Er war mein Chef und ständig am Telefon, mit Managements, Promotern, Bands. Geschenkt gab es für mich damals nichts. Dirks Respekt musste ich mir erarbeiten, an meinen Texten hatte er – so empfand ich das – immer besonders viel zu bemängeln. Damals nervte es, heute weiß ich: Das war eine gute Schule.

Dirk war ein großer Kommunikator. Er kannte alle, alle kannten ihn. Wenn man mit ihm unterwegs war, wurde es nie langweilig. Die Nächte waren oft sehr feucht, fröhlich und kurz, und sie endeten gerne mal in seiner Wohnung, wo er auch nachts um vier nicht aus seiner Missionarshaut konnte und sich über seine imposante Plattensammlung beugte: Was, du kennst das Nomads-Debüt nicht? Und hier, hör mal, das Original von „Godzilla“, das Fu Manchu neulich gecovert haben.

Wer Dirk näher kennenlernte, merkte schnell, dass da noch mehr war als nur Rock’n’Roll und Party. Dirk konnte sehr emotional und sensibel sein. Anfangs überraschte mich das, weil ich ein so großes und weiches Herz nicht vermutet hätte unter der verranzten Lederjacke und dem bis zum Bauchnabel aufgeknöpften Hemd. Später freute ich mich, weil es immer jemanden gab, mit dem man reden konnte über die großen und die kleinen Dinge des Lebens. Auch wenn wir es viel zu selten gemacht haben.

Sechs Jahre lang waren wir irgendwas zwischen Kollegen und Freunden, auf jeden Fall aber Weggefährten. In der Rückschau blitzen sofort unzählige Momente auf, die für immer bleiben. Wie wir an Karneval bei Tom Angelripper in Bochum auf die Bühne gestürmt sind. Wie Dirk Tickets für einen exklusiven Manowar-Showcase besorgt hat und wir hinterher die Deko klauen wollten. Ein gemeinsames Campino-Interview, das ziemlich misslang und für das wir uns hinterher beide ein bisschen schämten. Euphorie und Wahnsinn, Konzerte und Festivals, endlose Redaktionssitzungen und noch längere Nachtschichten, wenn der Drucktermin näher rückte.

Ja, wir hatten auch Stress miteinander. Dirk konnte aufbrausend sein und cholerisch, und wenn sein geliebter BVB verloren hatte, sprach man ihn montags am besten erst mal nicht an. Aber meist war er genauso schnell wieder vom Baum runter, wie er ihn hochgestürmt war. Einmal haben wir uns nach einem heftigen Streit abends zum Bier getroffen, in einer Kneipe auf der Brückstraße. Er brachte mir zur Versöhnung eine Turbonegro-Platte mit, die „Scandinavian Leather“ in der Deluxe-Version. Die habe ich lange nicht mehr aufgelegt, genauso wie ich Dirk lange nicht mehr gesehen habe.

Das eine kann ich nachholen. Das andere nicht mehr. Denn Dirk ist gestorben und ich traue mich nicht, in meinen Mails zu suchen, wann wir das letzte Mal Kontakt hatten. Weil ich weiß: Es ist viel zu lange her. Nach der VISIONS-Zeit haben wir uns aus den Augen verloren. Wie das eben so läuft: andere Städte, andere Vereine, andere Leben.

In der Trauer regiert der Konjunktiv, getrieben vom Wunsch nach einer Zeitmaschine. Was man alles hätte machen können, machen sollen, ja machen müssen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine ganz besondere Zeit und einen ganz besonderen Menschen. Dirk hat einen Teil der deutschen, sogar der internationalen Musikszene geprägt. Und VISIONS sowieso. Davor muss man den Hut ziehen. Dirk hat aber auch mich geprägt – auf seine seltsame Art, die gleichzeitig liebevoll und schroff, auf jeden Fall aber immer geradeheraus war.

Die Idee vom Rock’n’Roll-Himmel, wo Cobain mit Hendrix jammt und Chris Cornell mit Dimebag Darrell, hat mich immer befremdet. Eine heile Welt im Jenseits, wo man seine irdischen Exzesse einfach hinter sich lässt, kam mir verlogen und kitschig vor. Jetzt, wo Dirk tot ist und das Unbegreifliche langsam einsickert, gefällt mir die Vorstellung. Vielleicht gibt es diesen mythischen Ort ja doch. Einen Ort, wo all die Stars zusammen abhängen, Musik machen und feiern. Einen Ort, an dem es keinen Unterschied macht, ob du bei den Beatles warst oder bei den Spanish Flies. Vielleicht geht es dort nicht darum, was du darstellst, sondern darum, was du bist. Ich bin mir sicher, Dirk würde sich dort wohlfühlen. Er wäre unter seinesgleichen.

Farewell, mein Lieber!