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Michael Gira von Swans im Interview über das neue Album und sein ausgeprägtes Todesbewusstsein

Swans im Interview (Uncut)

Gott frisst Gesicht
Das neue Swans-Album „The Beggar“ geht wie gewohnt in Verlängerung und Elfmeterschießen. Wer trotzdem genügend Geduld mitbringt, dem verspricht Michael Gira eine Reise aus der Ursuppe zu den kosmischen Clustern und dem Pulsschlag des Universums. Weil er gerade mit seiner Band auf US-Tournee ist, hatte Gira gebeten, unsere Fragen an ihn schriftlich zu stellen, per E-Mail. Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten und waren analog zum raumgreifenden neuen Album ebenfalls lang und gründlich.
Michael Gira (Foto: Miguel Campos Barbosa)
Michael Gira (Foto: Miguel Campos Barbosa)

Michael, du scheinst eine besondere Beziehung zu Berlin zu haben, der Stadt, in der „The Beggar“ jetzt auch wieder aufgenommen wurde. Was fasziniert dich so an der Stadt?

Mein Interesse, so gerne in Berlin aufzunehmen, ist vor allem dem unvergleichlichen Ingo Krauss zu verdanken. Er ist der Betreiber des Candy Bomber Studios, das sich in der imposanten faschistischen Architektur des Tempelhofer Flughafens befindet. Das ganze Gebäude ist voller Geschichte, und Ingo ist ein Toningenieur, der mit einem sehr feinen Gespür für die Bedürfnisse der Musik und der Musiker, mit denen er zusammenarbeitet, aufnimmt. Außerdem lebt Kristof Hahn in der Stadt, genau wie die Swans-Mitglieder Larry Mullins und Dana Schechter daher ergibt es Sinn, in Berlin zu arbeiten. Aber auch jenseits des Studios ist die Stadt reich an Geschichte. Die Menschen, die dort leben, denken natürlich nicht viel darüber nach, weil sie vor allem ihrem Alltag nachgehen und nicht immer den Blick dafür haben. Das geht mir teilweise anders. Ganz in der Nähe des Flughafens steht zum Beispiel ein altes Kasernengebäude, vermutlich aus dem späten 19. Jahrhundert. Auf dem Weg zur Arbeit im Studio laufe ich an modernen Cafés und Boutiquen vorbei und dann plötzlich an diesem besonderen Gebäude. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies das Gebäude ist, von dem ich gelesen habe, dass es ein berüchtigtes SS-Gefängnis war, und man kann sich die Schrecken vorstellen, die sich darin abspielten. Es ist ein seltsames Gefühl. Als ob sich der Kopf von den Schultern löst und in die Vergangenheit schwebt. Ich bin natürlich auch vom Berlin der Weimarer Ära fasziniert und kann über den Glamour, die Dekadenz und die Lasterhaftigkeit von damals nur staunen. Dazu kommt, dass Otto Dix einer meiner Lieblingsmaler ist; ich liebe sein Porträt von Anita Berber, und ich habe mich gefreut, als ich kürzlich sah, dass es in Neukölln einen Park gibt, der nach ihr benannt worden ist.

Ich habe das Gefühl, dass das neue Album viel damit zu tun hat, dass Dinge zu Ende gehen und andere erst beginnen. Ist das ein Thema für dich?

In gewisser Weise ist das Nachdenken über den Tod so etwas wie ein mentaler Streich, den ich mir selbst spiele, um mich zu zwingen, endlich gute Arbeit zu leisten. Kein Bullshit mehr. Gott schaut herab und wird mir demnächst das Gesicht abfressen. Aber ein ausgeprägtes Todesbewusstsein, das Gefühl, dass der Tod quasi mit jedem Atemzug in meine Lunge eindringt, ist meiner Meinung nach gleichzeitig die gesündeste Art zu leben. Natürlich vermeide ich dieses Thema im täglichen Leben so gut wie möglich, aber wenn ich still sitze, aufmerksam in die Luft starre und zulasse, dass alles Unwesentliche von mir abfällt, enthüllt sich mir manchmal die wahre Natur der Dinge. Nur an diesem Punkt kann ich ehrliche Arbeit leisten. Wie alle anderen Menschen auch bin ich vermutlich ein eher passiver und hilfloser Beobachter meines eigenen Untergangs, aber das macht genau diesen Moment umso dringlicher und ergreifender. Manchmal bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob ich letzten Endes tatsächlich existiere. Wenn ich mich komplett konzentriere, verschwinden die Schichten der Erinnerung und der Identität vollständig, und ich sehe, wie sich endlose Cluster aus brodelnden Sternen und kosmischem Staub bilden und neu formieren, und wenn ich persönlich irgendwo in dieser Suppe zu finden bin, ist das irrelevant. Alles, was jemals passiert ist, passieren wird oder auch jetzt in diesem Augenblick geschieht, geschieht schließlich in unzähligen, unendlichen Variationen und Widersprüchen gleichzeitig. Jetzt und für immer in der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart.

Lars von Trier hat mal gesagt, dass die Natur in Wahrheit „die Kirche Satans“ sei – was sich auch in der teilweise drastischen Bildsprache der neuen Songtexte widerspiegelt. War Mensch vs. Natur eines der philosophischen Themen, die dich bei der Aufnahme der neuen Platte interessiert hat?

Das klingt ganz ähnlich wie Werner Herzogs berühmtes Zitat über den Dschungel und die Natur als böse, räuberische Kraft. Und nicht als Ort, an dem man über die Schönheit der Schöpfung und so weiter nachdenken kann. Interessant, dass Sie Lars von Trier erwähnen, denn er ist neben Herzog einer meiner Lieblingsregisseure. Und zufälligerweise habe ich für die Platte einen Song geschrieben, der sozusagen die Geschichte der Schöpfung enthält, „Paradise Is Mine“. Darin geht es um die Entwicklung der menschlichen Bestie vom Urschlamm des Ozeans bis zur Entstehung von Sprache und Bewusstsein. Natürlich geht es dabei auch immer darum, dieses Bewusstsein infrage zu stellen – wie es manche Leute tun. Und es stellt die für mich vielleicht wichtigste Frage von allen: Bin ich bereit zu sterben?

Apropos Texte: Lässt du dich da immer auch von bestimmten Büchern oder Romanen inspirieren, mal abgesehen von der Bibel wahrscheinlich?

Ich habe mich natürlich oft von Büchern inspirieren lassen, ja. Auf diesem Album ist es beispielsweise „The Memorious“, das sich auf eine Erzählung von Jorge Luis Borges bezieht – vielleicht mein Lieblingsautor. Die Geschichte heißt „Das unerbittliche Gedächtnis“ und erzählt von einem jungen Mann, der nach einem Sturz vom Pferd eine unendlich detaillierte Erinnerung besitzt. Er erinnert sich an jedes einzelne Detail, jeden Gedanken, jede Empfindung, jeden Wunsch, jedes Verlangen, jede Beobachtung und an jede Erfahrung, die er jemals gemacht hat. Worüber er letzten Endes natürlich den Verstand verliert. Ich bin glücklicherweise das genaue Gegenteil, ich vergesse alles. Mein Geist ist wie ein Tonband, das sich permanent selbst löscht. Aber ja, ich habe mich schon von Anfang an in meiner gesamten Arbeit auf Bücher bezogen oder mich von ihnen inspirieren lassen, angefangen bei Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus, das 1984 den Anstoß für den Song „I Crawled“ gab. Das Album „Love Of Life“ war damals von Jack Londons Kurzgeschichten beeinflusst und „Bring the Sun/Touissant l’ouverture“ von „To Be Kind“ aus dem Jahr 2014 hatte mit Madison Smartt Bells Büchern über die Geschichte Haitis zu tun. Es gibt noch viele weitere Beispiele, aber die sind insgesamt zu zahlreich, um sie hier alle zu erwähnen.

„The Beggar“ ist wieder einmal ein ziemlich umfangreiches Werk geworden, die 44 Minuten zusätzlicher Musik auf der CD-Version noch nicht einmal mit eingerechnet. Hat es für dich einen fassbaren Vorteil, die Aufmerksamkeit deines Publikums länger in Anspruch zu nehmen als es mit einem traditionellen Album der Fall wäre?

Ich folge einfach, wohin die Musik mich führt. Mein Ziel ist es, die Musik zu einem ganzheitlichen Sinneserlebnis zu machen, zu einem Ort der Freude im tiefsten Sinne. Wenn das Publikum da mitgehen möchte, ist das wunderbar, und ich bin dankbar, wenn sich jemand für die Arbeit interessiert und hoffentlich etwas Sinnvolles daraus mitnimmt. Meine Aufgabe ist es, gute Arbeit zu leisten. Was sich darüber hinaus daraus ergibt, liegt außerhalb meiner Kontrolle und ist daher nicht der Sorge wert.

Das neue Album von Swans „The Beggar“ ist am 23. Juni via Mute erschienen.

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