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Green Day im Interview über ihr neues Album

Green Day - Armstrong im Interview

Wyoming ist überall
25 Minuten mit Green Day in Madrid. Was sich liest wie der willkommene Anlass, in südeuropäischem Ambiente noch mal mit drei alten Bekannten durch Vergangenheit und Gegenwart zu reisen, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als kleingedruckt. Denn hält man erst mal die Lupe an den Satz, entfalten die Worte ihre wahre Bedeutung: zu wenig Zeit mit einer überambitionierten Band in der nächsten Stadt voller ätzender E-Scooter. Aber wie heißt es doch so schön: Man trifft sich immer zweimal. Notfalls halt am Telefon.
Green Day (Foto: Warner Music)
Green Day (Foto: Warner Music)

Es ist kalt in Wyoming. Schon Ende Oktober fällt die Temperatur oft unter null Grad, meist dann, wenn polare Luftmassen aus dem Norden die Rocky Mountains entlang gen Süden kriechen und den Interstate 80des bevölkerungsärmsten US-Bundesstaates in eine fiese Eispiste verwandeln. Auch drei Highschool-Freunde aus dem nordkalifornischen Piedmont wurden kürzlich Opferd er Witterungsverhältnisse, als ihr Van nahe der Kleinstadt Rawlins plötzlich von der Straße abkam und sich mehrfach über-schlug. Einer der Insassen, Swmrs-Sänger Max Becker, wurde dabei aus dem Fahrzeuggeschleudert, Swmrs-Soundmann Josh Berl konnte erst mit Hilfe der örtlichen Feuerwehr dem Wrack entsteigen, Fotografin Nathalie Somekh kam mir leichten Blessuren davon. Sie waren auf dem Weg nach Denver, Colorado, um dort das erste von insgesamt vier Konzerten des Indie-Elektro-Duos Matt & Kim zu eröffnen. Daraus wird wohl erst mal nichts.

25 Jahre vs. 25 Minuten

Auch im spanischen Madrid ist es eiskalt, allerdings nicht wegen irgendwelcher Polarströme, sondern wegen der defekten Klimaanlage in Zimmer 402. Hier warten die trotz grassierender Flugscham aus ganz Europa eingeflogenen Journalisten auf ihr Interview mit Green Day, eine der erfolgreichsten Rockbands der vergangenen 25 Jahre. Es ist ein großer Moment für den schreibenden, filmenden und podcastenden Nachwuchs, schließlich sind viele dieser Gruppe kaum älter als „Dookie“ und kennen Green Day demnach vor allem aus der Blitzlichtgewitter-Perspektive, als stadionfüllende Rote-Teppich-Rocker mit einem Regal voller Grammys. Da werden Freunde, Familie und Follower sicher Augen machen, wenn man kurz nach Interview-Ende ein Foto mit dem frisch signierten Promo-Vinyl von „American Idiot“ postet. Oder noch cooler: ein Selfie mit den Superstars! Wer braucht schon journalistische Distanz, wenn er eine Kelle viralen Applaus mit nach Hause nehmen und mit ein paar smart gesetzten Hashtags (#father, #all, #motherfucker) das eigene Profil boosten kann?

Hätte man sich vor dem Interview mit ein paar Oxazepam und Citalopram zugeballert und zur Verdauung noch einen Sechserträger San Miguel und ein paar Veterano nachgekippt, dann wäre man im Angesicht der zugestandenen Gesprächszeit von 25 Minuten vielleicht auch so durchgedreht wie Billie Joe Armstrong sieben Jahre zuvor, als er beim iHeart-Radio-Festival in Las Vegas zunächst hackenstramm auf die Bühne und 30Minuten später wutentbrannt wieder her-unterstürmte – nicht ohne dabei zu erwähnen, wie blasphemisch es sei, seiner Band die Spielzeit zu kürzen. Und das auch noch Usher zuliebe! Hätte man sich also am Green-Day-Sänger ein Beispiel genommen und sich nach dem Hinweis, unsere noch verbleibende Gesprächszeit mit der Bandbetrüge fünf Minuten, ähnlich verhalten, hätte das wahrscheinlich so geklungen: „Noch fünf Minuten? Was soll die Scheiße? Fünf scheiß Minuten! Ist es das, was ihr mir noch gebt? Ich sage euch eins: Ich bin seit fucking 1995 dabei! Ihr macht wohl Witze, fünf Minuten! Moment – jetzt sind es nur noch vier! Ich zeige euch, was vier Minuten heißen!“ Danach hätte man sein Aufnahmegerät zerschmettert, den Mittelfinger gezückt und wäre Richtung Fahrstuhl gestürmt. Oha. Da wäre was losgewesen im Green-Day-Camp.

Natürlich sind 25 Minuten Interviewzeit total in Ordnung. Eine halbe Ewigkeit sozusagen. Und ganz ehrlich: Dank seines verifizierten Promi-Accounts braucht ein Musiker heutzutage niemanden mehr, der zwischen ihm und den Fans vermittelt. Keiner hat Bedarf an einem menschlichen Medium, das den Anhängern versucht zu erklären, was ihr Held gerade macht oder eben auch nicht. Früher dagegen, als man eine Band nicht per Algorithmus zugespielt bekam, sondern sie sich kompliziert über Musikmagazine, Mixtapes oder Videos erarbeiten musste, da bekam ein Schreiber noch die Zeit eingeräumt, die es braucht, um links und rechts der Musik nach interessanten Infos zu fahnden. Da hatte man die Möglichkeit, stundenlang über Familie, Kindererziehung oder Religion zu reden. Oder einfach nur übers Saufen. All das – oder wenigstens letzteres – in nur 25 Minuten Interview einzubauen: eine Herausforderung. Also ran an die Zitate, schließlich haben die Herren nicht nur keine Zeit, sondern zu-nächst noch ein paar andere Sorgenkinder. Und gleich drei davon in Wyoming.

Green Day: Billie Joe Armstrong, Mike Dirnt, Tré Cool (Foto: Warner Music )

Hey, wie geht’s denn so?
Billie Joe Armstrong: Gerade nicht so gut. Die Band meines Sohns hatte einen Autounfall. Zwei von ihnen sind in einem kritischen Zustand.

Oh. Tut mir leid, das zu hören.
Armstrong: Meinen Söhnen geht es gut, sie waren nicht mit im Wagen, aber eben ihre Bandkollegen.

Armstrong: Ich bin mit dem Kopf also gerade ganz woanders.
Dirnt: Er war die ganze Nacht wach, das beschäftigt ihn sehr.

Armstrong: Sie waren in einem Mercedes-Van unterwegs und schleuderten wegen Blitzeises von der Straße. Sorry, dass ich das hier zum Thema mache. Vielleicht ist es besser, wenn ihr das Interview ohne mich bestreitet. Ich versuche unterdessen, mehr von Adrienne zu erfahren.

Dirnt: Mach das mal. Du bist mit deinen Gedanken eh woanders.

Armstrong: Entschuldige, tut mir echt leid.

Alles klar, kein Ding. Familie geht immer vor, und Freunde der Familie natürlich auch. Auf jeden Fall alles Gute für die drei, gute Besserung und so.

Kurz nach seinem Abgang repostet Armstrong ein Update mit Details zum Unfallgeschehen und den Verletzungen der Insassen, bevor auch ihn wieder die Pflicht ruft und er sich geistig und körperlich einnorden muss auf seinen Job als Frontmann, der beim morgigen Clubkonzert in Madrid alle Songs des ’94er Durchbruchsalbums „Dookie“ abzuliefern hat. Für die Fans, die bereits heute in Trauben den Eingang zum Hotelbelagern, sicher ein Fest, für die Band nicht viel mehr als ein Warmspielen der eingerosteten Muskeln. Schließlich fordert sie das frühe Material weder körperlich noch geistig zu Hochleistungen heraus – so virtuos und mit allen stilistischen Wassern gewaschen, wie das Trio mittlerweile ist.

Wenn man sich die Karriere von Green Day im Zeitraffer ansieht, kann man die rund 30 Jahre seit Gründung in drei Epochen zusammenfassen. Da wäre zunächst der holprige Anfang, als Armstrong und Dirnt ihre 1987 gegründete Highschool-Band Sweet Children 1989 in Green Day umbenennen und im Folgejahr ihren Drummer John Kiffmeyer durch einen in Frankfurt geborenen Typen namens Frank Edwin Wright III ersetzen. Wright war zuvor Schlagzeuger der Lookouts, der Band um Lookout-Records-Inhaber Larry Livermore, und er hieß dort auch nicht mehr Frank Edwin Wright III, sondern Tré Cool – was natürlich viel, nun ja, cooler klingt als Wright. Mit ihm im Rücken nehmen auch die frühen Kompositionen von Green Day mehr Form und Durchschlagskraft an, spürbar vor allem auf dem zweiten Album „Kerplunk!“, das im Dezember 1991 erscheint, mitten hinein in die erste Übersee-Tour der Band. Zwei Monate durchkreuzen Green Day seinerzeit die AJZs und JUZs des nasskalten Europas. Stets in ihrem Nacken: die Band Starvation Army, mit der sie erst um die raren Auftrittsmöglichkeiten konkurrieren, sich aber nacheinigen Wochen mit ihnen verbünden und immer wieder Tisch und Bett des lokalen Veranstalters teilen. Lektionen in Demut.

Auch zu Hause in Berkeley, Kalifornien spielt sich das Leben der Bandmitglieder abseits des nordamerikanischen Wohlstands ab. Cool und Armstrong teilen sich gemeinsam mit den Mitgliedern einer Band namens East Bay Weed ein altes Haus an der Ashby Avenue. Dirnt wohnt ein paar Türen weiter und kommt täglich zum Proben vorbei, als Vorbereitung für die regelmäßigen Konzerte im 924 Gilman St., einer von „Maximumrocknroll“-Herausgeber Tim Yohannan gegründeten Non-Profit-Einrichtung mit dem Fokus auf Kunst und Musik, einer linksalternativen Oase mit Alkoholverbot, in der Rassismus, Homophobie, Xenophobie und Fleischkonsum schon verpönt waren, als das Kantinenessen in US-Highschools noch von McDonald’s kam. Gilman St. ist der Ort, an dem Bands wie Green Day oder Operation Ivy öffentlich proben dürfen, meist vor ihren Freunden und den Mitgliedern der anderen Bay-Area-Bands, und hier entwickeln sie sich zu jenem „Act“, um den bereits ein paar Monate nach der Veröffentlichung von „Kerplunk!“ sämtliche MTV- und Majorlabel-Verantwortliche kreisen wie Roulettekugeln um den Kessel. Jeder von ihnen weiß: Wer jetzt auf die richtige Zahl setzt, kann richtig Kasse machen.

Kaum mehr als zwei Wochen dauerten die Aufnahmen sowohl für das Debüt „39/Smooth“ als auch für „Kerplunk!“. Für ihr drittes Werk, das erste unter der Flagge des Majorlabels Reprise, ist nach sieben Tagen im Studio gerade mal das Schlagzeug mikrofoniert. Das Label zückt fürs neue Album der sympathisch kaputten Punkband das große Besteck, die Erwartungen sind hoch. Alternative Rockmusik ist Dank des Erfolgs von Nirvana, Pearl Jam, Soundgarden und Alice In Chains das Ding der Stunde, und Reprise sind überzeugt davon, mit Green Day den nächsten Hype an Land gezogen zu haben. Tatsächlich spricht alles dafür: Die Band hat eine stattliche Fan-Basis und ihre Songs sind nicht nur kurz, mitreißend und für die Bühne gemacht, sondern obendrein noch mit smarten Texten versehen. Kurzum: Wenn das hier nicht funktioniert, hat sich eine ganze Branche verrechnet.

Als „Dookie“ Ende Januar 1994 erscheint, werden die Crust-Punks Billie, Mike und Tré über Nacht zu leicht verbeulten Posterboys des Mainstreams, mitsamt den damit ein-hergehenden Nebenwirkungen. Mit Hymnen wie „Basket Case“ und „Longview“ und den dazugehörigen, in psychiatrischen Anstalten und Kellern gefilmten Videos dauertes nicht lange, bis MTV die ersten Nominierungen ausspricht. Als Katalysator zum Durchbruch gilt dabei der Green-Day-Auftritt beim neu aufgelegten Woodstock-Festival 1994, als sich Armstrong und Dirnt eine gut halbstündige Schlammschlacht mit dem Publikum liefern und zwar schwer gezeichnet, aber als Sieger den Platz verlassen. Wer Green Day bis dahin noch nicht auf dem Schirm hatte, war spätestens jetzt überzeugter Fan. Es sind Auftritte wie diese, aber auch Textzeilen wie „When masturbation’s lost its fun you’re fucking lonely“, die dem von Nirvana musikalisch und textlich vorformulierten, nihilistischen Zeitgeist zwei entscheidende Faktoren hinzufügen: Ironie und Humor. Scheitern als Chance, verkörpert von drei Typen, auf die man vor ein paar Jahren noch mit dem Finger gezeigt hat, weil sie zu klein oder ihre Nasen zu groß waren, ihre Gesichter verpickelt und die Zähne nicht so neu, schön und weiß wie heute, sondern hilflos ineinander verkeilt. Nun stehen sie auf den großen Bühnen, die „Sellouts“, argwöhnisch beobachtet von der Punk-Szene und bejubelt von einer Klientel, die ein paar Monatezuvor noch vor Schreck die Straßenseite gewechselt oder ihnen aus Mitleid ein paar Cents in die Hand gedrückt hätte. Es ist schon eine komische Mischpoke, der Mainstream und seine Protagonisten.

 

Der Zwilling von Egon Krenz

All das ist lange her. Und Green Day haben sich vor der Szene, der sie vor mehr als 30 Jahren entsprungen und anschließend in atemberaubender Geschwindigkeit entwachsen sind, für nichts mehr zu entschuldigen. Machte sich Armstrong nach der Veröffentlichung von „Insomniac“ (1995) noch Gedanken, ob man es ihm übel nehmen würde, dass er während eines Konzerts die Massen zum Mitklatschen animiert, oder ob es ihm das musikalische Gerüst seiner Band verbietet, eine Ballade wie „Good Riddance“ zwar schreiben, aber keinesfalls auf einem Album verankern zu dürfen („Nimrod“, 1998), so machten Green Day wenig später mit dem halbakustischen „Warning“ (2000) deutlich, dass ihre Definition von Punk weit über den obligatorischen Einsatz von Distortion-Pedalen und drei Akkorden hinausgeht.

Dass der Stern von Green Day trotz der musikalischen Experimentierfreude und textlicher Finesse zur Jahrtausendwende rasant zu Boden rauscht, liegt nicht nur an aufstrebenden Pop-Punk-Bands wie den frech-frivolen Blink-182, sondern auch dar-an, dass man dem Trio die Strapazen der vergangenen Jahre im Gesicht ablesen kann. Vor allem bei Armstrong haben der chronische Schlafmangel in Kombination mit doppeltem Kindersegen und sedierendem Alkohol ihre Spuren hinterlassen. Mit reichlich Kilos auf den Hüften und mehr Rändern als Augen sieht er mit 28 aus wie der kleine Zwilling von Egon Krenz.

Seit den 90ern eine Institution in Sachen Pop-Punk: Green Day (Foto: Warner Music )

Es sind keine guten Voraussetzungen, um sich gegen die neue Konkurrenz zu behaupten. Was die Band braucht, ist ein kompletter Imagewechsel. Ein Neustart quer durch alle Bereiche. Einzige Voraussetzung dafür: die nötige Ambition und jemanden oder etwas, das diese aus ihnen herauskitzelt. Als am 11. September 2001 Terroristen Flugzeuge ins Herz der US-amerikanischen Identität lenken, ist das nicht nur das Ende der Welt, wie wir sie kannten, sondern auch der Auftrag an die Gesellschaft, die Ursachen zu analysieren, das große Ganze in den Fokus zu nehmen und seine Konsequenzen daraus zu ziehen. Wie immer das für den einzelnen auch aussieht.

Für Green Day münden die Ereignisse in Kombination mit dem erfolgreich ausgelösten Reset-Knopf in ihr 2004er Werk „American Idiot“. Ein Konzeptalbum, radikal in Text und Ton, glasklar positioniert und dargeboten von drei entschlossenen, optisch über-arbeiteten Band-Mitgliedern. Als VISIONS Green Day 2004 in Los Angeles trifft, residiert die Band im edel-verruchten Chateau Marmont, der berühmt-berüchtigten Celebrity-Absteige am Sunset Boulevard von Los Angeles, in der sich John Belushi einst zu Tode gekokst und Helmut Newton seine letzte Autofahrt angetreten hat. In einem vierstündigen Interview erläutern die Bandmitglieder seinerzeit die Motivation hinter ihrem politisch geprägten und musikalisch hochexplosiven Konzeptalbum, jener „Punk Oper“, die die Band nicht nur zurück auf Platz eins der Charts befördert, sondern ihnen eine komplett neuen Generation Fans in die Arenen spült.

Mit ihrem auf die Farben schwarz, weiß und rot beschränkten Look und den Kajal-Augen von Armstrong werden Green Day zum gemeinsamen Nenner sämtlicher gitarrenaffinen Genres, von Emo und Goth über Punk zu Hard- und Stadion-Rock. Dass das Album später auch als Musical am Broadway Premiere feiern wird, zeigt nicht nur, wie relevant und zeitgemäß der Inhalt und Sound des Albums sind, sondern auch, wie sehr ein in sich geschlossenes Werk auch in Zeiten von Compilations und Playlisten als Format seine Daseinsberechtigung hat. Was danach mit Green Day passiert, welchen Effekt dieser zweite, in seinem Ausmaß auch für die Band überraschende Erfolg auf die Mitglieder hat, wird man erst fünf Jahre später erfahren, als der Nachfolger „21st Century Breakdown“ erscheint. Erneut ein Konzeptalbum, wenn auch mit weniger stringentem Faden geknüpft als „American Idiot“, mit offensiven Flirts gen Bombast und Größenwahn.

Produziert von Butch Vig ist „21st Century Breakdown“ das erste Green-Day-Album seit „Dookie“, das nicht unter der Obhut von Rob Cavallo entsteht und damit ein weiteres Indiz dafür, in welche Richtung Armstrong & Co. auch zukünftig zu gehen gedenken: in die großen Arenen. Die Interviews zum Album finden seinerzeit im bandeigenen Studio in der Jingle Town von Oakland statt, und hier wird der Quantensprung, der Green Day mit „American Idiot“ gelungen ist, auch für uns deutlich spürbar. Vorbei die Zeiten, als man aus Armstrong auch abseits der ausgetrampelten Interviewpfade interessante Geschichten und Persönliches entlocken konnte, diesmal erstickt der Medienprofi jeden Ausflug auf thematisches Terrain abseits der Musik mit einem charmanten, aber deutlichen: „Interessante Frage, aber darüber möchte ich lieber nicht reden.“

Der Eklat von Las Vegas

Diesem Motto bleibt Armstrong auch dann treu, als Fans und Medien nach einer Erklärung für seinen Blackout im Rahmendes iHeart-Radio-Festivals suchen. Außereinem offiziellen Statement, in dem sich der Sänger bei Veranstaltern und Anhängern für seinen Kontrollverlust entschuldigt, gibt es keine weitere Äußerung seitens Band oder Management – weder vor, während noch nach Armstrongs Klinikaufenthalt. Wäre er ähnlich schmerzfrei gestrickt wie sein Bay-Area-Kollege Fat Mike, hätte er aus dem Entzugsprogramm ein digitales Tagebuch bauen können, einsehbar für jeden, der sich interessiert, mit allen Fortschritten, Rückfällen und körperlichen und seelischen Strapazen.

Für derlei Aktionen ist Armstrong aber weder narzisstisch genug, noch hat er wie der NOFX-Frontmann nichts mehr zu verlieren. Im Gegenteil. Für ihn steht nach dem Blackout mehr auf dem Spiel als nur sein Ruf: seine Gesundheit, seine Freundschaft zu den Bandkollegen, die Beziehung zu seiner Frau Adrienne und nicht zuletzt seine Zuverlässigkeit als Boss, immerhin sorgte der Eklat von Las Vegas auch dafür, dass Green Day ihre geplante Welttournee zu den Alben „Uno“, „Dos“ und „Tré“ um ein paar Monate verschieben mussten. So etwas kostet nicht nur die Nerven aller Beteiligten, sondern Geld. Und zwar richtig.

Die Frage, ob der Entzug für Armstrong am Ende Fluch oder Segen ist, lässt sich zumindest in kreativer Hinsicht mit einem deutlichen Jein beantworten. Urteilt man nach den Songs, die Armstrong für die Trilogie noch „unter Einfluss“ verfasste, leidet der heute 48-Jährige seinerzeit quantitativ definitiv nicht unter Ladehemmungen. Qualitativ hingegen liegt die Latte offensichtlich nicht mehr ganz so hoch, zumindest in Bezug auf die Texte. Statt seinen zeitlos-genialen Zeilen, die Songs wie „Walking Alone“, „Minority“ oder „Walking Contradiction“ durchzogen wie ein engmaschiges Spinnennetz, verliert Armstrong in Liedern wie „Fuck Time“ oder „Wow! That’s Loud“ so sehr sein bis dato halbwegs sicheres Gespür für relevante Themen, dass ein Großteil der“frühen Fans vor Fremdscham im Boden versinkt. Und sich bis heute auch nicht mehr nach oben traut.

Vielleicht haben die drei aber auch nur ihren Standort verändert. Sind weitergezogen in eine Straße, in der es weniger anstrengend und abgefuckt zugeht als damals in der Ashby Avenue: das Grundstück stattlich, was Nettes vor der Zwillingsgarage, Gespräche mit den Nachbarn über ETFs und Private Equity, mittwochs kommt die Müllabfuhr. Gewissermaßen sind Green Day heute gutbürgerlicher Teil des Rock’n’Roll-Establishments. Nicht mehr wegzudenken, sowie U2, die Foo Fighters oder die Toten Hosen. Sie sind globale Player mit einem Netz aus verschiedenen Firmen, ein Unternehmen, mit Beratern und Angestellten, vielleicht nicht so hierarchisch geprägt wie ein Dax-Konzern, aber mit ähnlichem Expansionsbestreben. Da ist es völlig normal und vielleicht auch legitim, wenn die Band ihren Einflussbereich auf Genres ausdehnt, die man einst für unvereinbar mit sowohl ihrer Philosophie als auch ihrem Sound bezeichnet hätte. Mag sein, dass Armstrong vor ein paar Jahren noch ein Problem mit Usher oder Justin Bieber hatte, heute kann man sich ihn problemlos im Duett mit Lana Del Rey oder in der Sendung Carpool Karaoke vorstellen,wie er die Lieder von Billie Eilish singt. No offense, schließlich hat die Dame Talent – und darüber hinaus das Glück, keinem gefallen oder sich für irgendwas entschuldigen zu müssen. Vielleicht ist das der Unterschied. Süßer Vogel Jugend.

Vielleicht sollte jemand Green Day endlich mal reinen Wein einschenken. Mal sagen, dass ihnen nichts geblieben ist außer den Hits der Vergangenheit. Dass viele ihrer Post-„American Idiot“-Songs kaum mehr haben außer einen guten Groove, der aber so seelenlos durch die Songs mäandert, dass man nach einer gewissen Zeit tatsächlich auf dem Dancefloor landet – obwohl man eigentlich auf eine Demo wollte. Green Day ziehen sich heute, da der einstige Konflikt zwischen George W. Bush und der von ihm geächteten „Achse des Bösen“ kaum mehr war als ein harmloser Schwanzvergleich und der komplette Laden hier in so ziemlich jeder Hinsicht brennt wie der australische Kontinent, lieber zurück auf ihren Wohlfühl-Planeten. Von dort oben erklären sie, Trump ist wie Durchfall und deswegen eher nicht so cool, nun seien eben andere dran, um Stellung zu beziehen zu den drängenden Fragen unser Zeit, und außerdem haben sie schon genug Arbeit damit, Gevatter Rock die Krücken zu halten. Also experimentiert Armstrong ein wenig mit Falsettgesang, entlockt seinem Chor ein paar „Uh“s und „Oh“s, paart die Retro-Party mit runtergerifften Selbstzitaten und niedlichen Handclaps – fertig ist der „Father Of All Motherfuckers“, den man schon wegen seines Titels gleich neben „Revolution Radio“ im Regal stehen lassen sollte.

Das ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Scrollt man sich durch die vergangenen Wochen von Armstrongs Instagram-Account, bekommt man die andere Seite gezeigt. Dort hört und sieht man junge Green-Day-Fans aus allen Himmelsrichtungen, wie sie auf selbstgebauten, zurechtimprovisierten oder geliehenen Instrumenten die Lieder ihrer Idole nachspielen, alleine im Kinderzimmer oder als Band auf der Bühne. Es sieht ganz so aus, als motivierten Green Day trotz aller Veränderungen noch immer abertausende 13-Jährige, einen ersten wackeligen Schritt zu wagen in die aufregende Welt der Musik, und allein dafür gebührt ihnen größter Respekt.

Auch ihre Arbeitsmoral scheint trotz des durchwachsenen Erfolgs ihrer jüngsten Alben nicht gelitten zuhaben, im Gegenteil. Glaubt man den Worten von Dirnt und Cool, dann wollten Green Day trotz der Tatsache, dass „Father Of All Motherfuckers“ das vorerst letzte im Auftrag ihrer langjährigen Labelpartner Reprise sein wird, noch mal allen „an die Gurgel“, statt sich zurückzulehnen und „das Album per Post einzureichen“, wie Cool es nennt. Motto: Schön verpacken, Briefmarke drauf, fertig. Nein: Stolz seien sie auf ihr neues Werk, und überhaupt sei für Außenstehende gar nicht zu erkennen, wieviel „Blut, Schweiß und Tränen“ in diesem Album stecken. Wie oft Armstrong seinen „Schädel gegen die Wand gehämmert hat auf der Suche nach textlicher und musikalischer Inspiration, nach dem Sound, der das neue Album ausmachen soll“. Man könne sich gar nicht ausmalen, „mit wie vielen neuen Elementen der Typ experimentiert hat, vor allem in Bezug auf seine Stimme“.

„Wenn du mich fragst, ist das neue Album ein ähnlich definierender Moment in unserer Karriere, wie es ‚Dookie‘ oder ‚American Idiot‘ waren.“

Mike Dirnt

Kann man tatsächlich nicht. Vielleicht ist das aber auch besser so. Vor allem wenn Dirnt kurz umreißt, welche anderen Klangexperimente die Mitglieder in ihrem Sound-Labor bisher so gezüchtet haben, nur um sie danach schnell wieder in ihrem „digitalen schwarzen Loch“ verschwinden zu lassen: HipHop, Funk, Polka, Techno, Klassik, Latin, Jazz. Bei derlei schaurigen Optionen kann man schon fast von Glück reden, dass Armstrong auf dem neuen Album lediglich die letzte fehlende Oktave in den Stimmen von David Bowie, Smokey Robinson und Prince sucht – und manchmal sogar findet. Dirnt ist noch immer so entzückt vom Talent seines singenden Kameraden, dass er seinen Rumpf für den nächsten Satz zunächst theatralisch nach vorne schiebt, um dann langsam, deutlich und mit sehr ernster Miene einen Satz zusagen, den man sowohl als Offenbarung als auch als Drohung verstehen kann – abhängig von der Perspektive: „Wenn du mich fragst, ist das neue Album ein ähnlich definierender Moment in unserer Karriere, wie es ‚Dookie‘ oder ‚American Idiot‘ waren. Ich bin noch immer voller Bewunderung für Billie und den Weg, den er für uns eingeschlagen hat. Man spürt, wie sehr wir Rock’n’Roll lieben und wie sehr wir die Geschichte des Rock’n’Rolls in unseren Songs zelebrieren. Ich will nicht arrogant klingen, aber wahrscheinlich wird dieser Sound das sein, was uns über die nächsten zehn Jahre definiert.“

Schöne Aussicht. Und danach? Zurück zu den Wurzeln? Kleiner Scherz. Dass hinter der durch und durch professionellen Fassade von Green Day noch immer ein kleines Punkerherz tapfer vor sich hin pocht, wurde jüngst deutlich, als die Band ihre Fans via Instagram dazu aufrief, sich um ein Hauskonzert mit ihren Stars zu bewerben – eine Release-Party im eigenen Wohnzimmer, ein Scheunen- oder Hinterhof-Barbecue mit Livemusik, den besten Freunden und den größten Hits aus 30 Jahren Green Day. Klingt gut? Hier kommen die Haken: drei Pennplätze für die Band, Root Beer für Armstrong und ganz wichtig: keinerlei Zeitlimit. Na, die haben vielleicht Humor!

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Green Day 2019 (Foto: Warner Music )

„Wir Wissen, wann es genug ist“

So kann es gehen. Da schreibt man eine Story über eine Band ohne ein einziges echtes Zitat des Sängers, und kaum schlägt es fünf vor zwölf heißt es plötzlich: Billie Joe Armstrong hat doch noch Lust und Zeit, mit VISIONS zu plaudern – via Schalte nach Übersee. So können wir dem Mann nicht nur ein paar Sätze zum neuen Album und Status seiner Band entlocken, sondern ihn auch kurz ins Röhrchen pusten lassen.

Schön, dass es doch noch klappt mit uns!

Billie Joe Armstrong: Ja, sorry noch mal für die Sache in Madrid. An dem Tag war echt einiges los. Aber jetzt erwischst du mich bei bester Laune.

Wie geht es denn den beiden Swmrs-Jungs Max und Josh? Alle wieder gesund?

Josh ist schon wieder komplett genesen. Max erlitt bei dem Unfall eine Verletzung am Kopf. Es dauert noch bis Ende des Jahres, aber auch dann wird er wieder bei 100 Prozent sein. Er schreibt schon wieder Songs mit der Band und freut sich aufs Leben, das vor ihm liegt.

Ich hatte so ganz ohne Zitat von dir die Möglichkeit, mir in punkto Green Day mal über ein paar grundlegendere Dinge Gedanken zu machen, zum Beispiel das hier: Ich glaube, dass der Anteil derer, die einem so erfolgreichen Sänger und Songwriter wie dir mal ehrlich die Meinung sagen, im Vergleich zu den Schulterklopfern und Alles-total-geil-Findern verschwindend gering ist. Siehst du das auch so?

Mein größter Kritiker bin immer noch ich selbst. Danach kommen Mike und Tré. Bei ihnen teste ich erst mal vor, wie ein Song so ankommt. Manchmal reden wir aber auch aneinander vorbei, und sie machen mir später Vorwürfe, dass ich eine Geste oder ein Statement von ihnen falsch interpretiert und einen Song über Bord geworfen habe. Oder ich mache mir selbst zu viele Gedanken. Ein Beispiel: Den Song „Time Of Your Life“ hatte ich einige Jahre vor seiner Veröffentlichung geschrieben, damals als wir an „Dookie“ arbeiteten. Alle mochten den Song, aber ich hatte Bedenken, dass nur ich für ihn gebraucht werde und die anderen beiden nutzlos daneben stehen. Also habe ich ihn erst mal vertagt.

Verstehe. Aber gab es jemanden, der dir beim Hören der Songs von „Father Of All Motherfuckers“ gesagt hat: Billie, das ist zu krass, zu seltsam, zu weit draußen für Green Day?

Nein, niemand. Unser Anspruch an uns selbst ist immer, Musik zu machen, die anders ist, neu, interessant. Ich finde, das ist elementar, wenn man so lange in einer Band spielt wie wir. Es macht uns Spaß, unsere Songs spannend und unvorhersehbar zu gestalten. Aber wir wissen auch, wann es genug ist. Fürs neue Album hatten wir 16 Lieder, aber mir kam partout keine Idee, wie ich sie sinnvoll strukturieren sollte. Also habe ich sechs davon geopfert und nur die zehn behalten, die ich am besten fand.

Gab es jemanden, der dir bei der Auswahlgeholfen hat?

Ich war gerade mit meiner Frau Adrienne auf dem Weg zum Coachella-Festival, als ich ihr sagte, dass das Album meiner Meinung nach nur diese zehn Songs haben sollte. Sie hat mir nicht gesagt, was sie davon hält, aber sie war bestimmt froh, dass das Thema damit endlich vorbei ist. Nach dem Motto: „Prima, dann können wir uns jetzt ja in Ruhe ein paar Bands anschauen!“ Fragst du dich manchmal, vielleicht gerade beim Anblick all der Stars und Sternchen beim Coachella, wo und wie Green Day hierher passen würden?

Wo in der Musikwelt würdest du euch verorten, welchen Status habt ihr?

Das ist schwer zu sagen. Wir haben auf jeden Fall schon einiges erreicht. Green Day gelten zweifellos als eine der besten Bands in der Geschichte des Rock’n’Roll. Aber dann gibt es diese andere Seite an uns, die uns stets das Gefühl gibt, wir müssen das auch immer noch allen beweisen. Wir fordern uns immer wieder selbst heraus und versuchen, neue Territorien zu erobern, auch wenn wir damit Gefahr laufen, im Schatten unserer bisherigen Erfolge zustehen. Niemand soll das Gefühl haben, wir würden uns auf unseren Lorbeeren ausruhen.

Wünschst du dich manchmal zurück in eine Zeit, als alles noch neu, aufregend und frisch war?

Als es noch keine Erwartungshaltung gab und ihr völlig zwanglos zu Werke gegangen seid, naiv vielleicht, so wie etwa Billie Eilish gerade? Die macht gute Sachen, genau wie Tyler, The Creator oder andere junge Künstler mit einem ausgeprägten DIY-Spirit. Das zu beobachten, inspiriert und ermutigt auch uns, gewohnte oder lieb gewonnene Strukturen aufzubrechen. Schließlich wollen wir nicht eines Tages als Nostalgie-Act durch die Welt gondeln.

Sprechen wir noch kurz über dich als Privatperson. Mein Eindruck ist, dass man mit dir vor dem Quantensprung mit „American Idiot“ auch mal über Themen links und rechts der Musik reden konnte, danach dagegen kaum. Fast schien es, als würdest du das bewusst abblocken. Wo also ziehst du für dich die Trennlinie? Wann muss bei dir Öffentlichkeit draußen bleiben, während sie alte Weggefährten wie Fat Mike oder Lars Frederiksen sogar mit am heimischen Tisch sitzenlassen? Worüber wird denn da geredet? Drogen und Alkoholismus?

Durchaus. Aber auch übers Radfahren oder einen Ausflug nach Disney World. Ich habe kein Problem damit zu erzählen, dass ich so gut wie jeden Morgen meine Jogging-Runden drehe und hoffe, eines Tages einen Marathon zu laufen. Oder dass ich am liebsten mit meinen Freunden in meinem Gitarrenladen rumhänge. Ich lebe nicht völlig, aber schon viel in meiner eigenen Blase, in der sich im Grunde alles um Musik dreht. Das ist vielleicht öde oder uninteressant, aber das mache ich eben am liebsten. [überlegt] Darüber hinaus habe ich einen unterbewussten Zwang, alles dokumentieren zu müssen. Deshalb schreibe ich Songs, male oder mache Fotos mit meiner Polaroid-Kamera. Vielleicht hat das damit etwas zu tun, dass mein Vater starb, als ich noch Kind war, und ich seitdem das Gefühl habe, einen Geist an meiner Seite zu haben.

[Die Mitarbeiterin der Plattenfirma schaltet sich ein: „Du darfst Billie noch eine letzte Frage stellen.“]

Schon wieder rum, die Zeit. Nur noch zwei kurze Fragen: Billie, hast du eine Münze der Anonymen Alkoholiker in der Tasche, und wenn ja, wie viele abstinente Tage sind darauf eingraviert?

Meine letzte Münze bekam ich nach fünf Jahren ohne einen Tropfen Alkohol, danach habe ich wieder angefangen, ab und zu etwas zu trinken. Einen Wein oder ein paar Bier mit Freunden. Ich lebe also nicht mehr komplett enthaltsam – was Alkohol angeht. Und die anderen Dinge? Mike ist der Unternehmer in unserer Band. Er steckt sein Geld in alles Mögliche: Wein, Kaffee oder diese Cannabisfarm. Ich habe leider überhaupt kein Faible für so etwas, bin ihm aber dankbar dafür, dass er manchmal richtig gutes Gras mitbringt.

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