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Der letzte Ritt: Die große Reportage vom letzten Maifeld Derby

Reportage: Das letzte Maifeld Derby

Der letzte Ritt
“Der schönste Moment ist genau jetzt. Von Trauerbekundungen bitte ich ausdrücklich abzusehen”, schreibt Veranstalter Timo Kumpf zur 14. und letzten Ausgabe des Maifeld Derby. Mit rund 15.000 Besuchern an drei Tagen feiern die Macher einen bittersüßen Rekord: Zum ersten und zum letzten Mal ist das Mannheimer Indie-Festival ausverkauft – und plötzlich ist “vielleicht nächstes Jahr” keine Option mehr für die Besucher. juliane kehr war vor Ort und erzählt, wie das laut European Festival Award “beste kleine Festival Europas” sein Ende feierte und was danach kommen kann.
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Das letzte Derby ist gelaufen: gefallene Hindernisse am "Parcours d'amour". Im Hintergrund das Palastzelt (Foto: Florian Trykowski)

“Mai-feld-Der-by!”, jauchzt Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst zwischen anschwellenden Gitarren und Stroboskop-Lichtern am Sonntagabend dem Publikum im Palastzelt entgegen – jede einzelne Silbe ein Versprechen, dass das hier so glorreich und phänomenal enden wird, wie es Fans und Festivalmacher verdienen. Für die Wiener Indierocker ist es bereits der vierte Auftritt in der vierzehnjährigen Maifeld-­Derby-Geschichte. 2014 sind sie das erste Mal da, ein Jahr be­vor sie mit ihrem Album “Schick Schock” ihren Durchbruch feiern. Damit zählen sie zu den zahlreichen Nachwuchsbands mit Erfolgsgeschichte, für die Festivalmacher Timo Kumpf schon den richtigen Riecher hatte, bevor sie durch die Decke gingen.

Bilderbuch sind längst nicht die einzigen, egal ob vor, auf oder hinter der Bühne, die ihre eigenen, zahlreichen Festival-Erinnerungsschätze zu diesem letzten Subkultur-Ritt mitbringen: Paare, die sich 2013 beim Set von The Notwist das erste Mal tief in die Augen schauten, tanzen 2025 mit dem Nachwuchs zur selben Band. Eine Freundesgruppe, die kein Derby verpasst hat, trägt T-Shirts mit der Aufschrift “Danke, Timo!”, Volontäre erinnern sich selig lächelnd, wie bei Mogwais 105 Dezibel lautem Konzert 2015 “die Kniehaut flatterte”, und das Set von Lightning Bolt 2022 klang wie “Schamanengetrommel auf Kokain”, das die Leute durchdrehen ließ. Und auch ein Großteil der Künstler:innen schwärmt vom Backstagebereich mit seinen einzigartigen Pferdeboxen-Dressingrooms und den Publikumschören und Moshpits vergangener Auftritte.

Ab in die Prärie

Das erste Maifeld Derby findet 2011 statt, im Reitstadion auf dem Maimarktgelände vor den Toren Mannheims. Organisiert vom Bassisten von Get Well Soon und damaligem Student der Popakademie Mannheim: Timo Kumpf. Der kommt aus dem beschaulichen Weinheim an der Bergstraße: “Ich habe damals schon bei mir auf dem Dorf im Odenwald ein Festival gemacht, zwölf Jahre lang. Long Distance Calling haben da ihren zweiten Auftritt überhaupt gespielt.” Beim ersten eigenen Festival ist der heute 43-Jährige gerade 17. Tickets gibt es damals für 10 D-Mark in der örtlichen Sparkasse oder der Metzgerei der Eltern.

Mit zwei Tagen und 3.000 Besuchern steckt das Maifeld Derby 2011 noch in seinen Kinderschuhen, mit Get Well Soon, Slut, The Hirsch Effekt oder Wallis Bird ist das Line-up aber bereits damals erlesen, und auch die Bühnenstruktur mit der Hauptbühne im Palastzelt, einer Open-Air-Bühne und der kleinen Bühne “Parcours d’amour” für die feingeistigeren Themen und ruhigeren Klänge steht schon. Dass es der Standort Reitstadion werden würde, der dann zum nicht-musikalischen Überbau mit Steckenpferd-Dressur und Derby-Dollar-Währung inspiriert, ist ganz zu Beginn überhaupt nicht der Plan, so Kumpf: “Ich bin damals, als klar war, dass ich in Mannheim ein Festival machen will, mit einem städtischen Vertreter überall rumgefahren. In meinem Kopf war da ein idyllischer Ort. Es gibt zum Beispiel ein wunderschönes Seebad in der Umgebung, sowas habe ich natürlich gesucht.”

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Foto: Florian Trykowski

»Wieso habe ich mich dafür komplett verbiegen müssen, während andere das quasi vom Staat getragen bekommen?«
Timo Kumpf

Schnell zeigt sich jedoch, dass die Voraussetzungen dieser Festival-Sehnsuchtsorte in der Realität nicht ideal sind. Das Maimarktgelände mit seiner flachen Weite, von den freiwilligen Helfern des Festivals liebevoll “Die Prärie” genannt, punktet an anderer Stelle: “Ich habe die Potenziale erkannt, die uns in den zurückliegenden zehn Jahren immer wieder den Arsch gerettet haben: Es ist vorhandene Infrastruktur, es wurden dann irgendwann auch Drainagen verlegt. Im vergangenen Jahr hat es durchgeregnet und wir hatten ohne Probleme ein Festival.” Wie prophetisch dieser Satz auch für die 14. Ausgabe sein wird, wird sich am Festivalsamstag noch zeigen.

Ein Reitstadion als den praktischen und richtigen Ort für sein Festival auszumachen, ist die eine Sache. Den Reiterverein zu überzeugen, das Gelände für mehrere tausend Leute, Bühnen und Bands herzugeben, eine andere. Doch Kumpf hat einen Vorteil: “Ich komme aus einer Reiterfamilie. Dem Kopf hinter dem Reiterverein, der das Ganze betreut, war mein Familienname ein Begriff”, erinnert er sich und beschreibt den Vereinsvorsitzenden als “inspirierende Person und Macher”, Merkmale, die der wiederum in Kumpf wiedererkennt, der scherzt: “Ich konnte natürlich mit meinem Bronze-Reitabzeichen beeindrucken, das ich mit 9,0 bestanden habe, aber ich weiß vor allem, dass der Reitboden heilig ist. Und so wurde uns da großes Vertrauen geschenkt.”

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Zum vierten und letzten Mal zu Gast beim Maifeld Derby: Bilderbuch (Foto: Florian Trykowski)

Von da an wächst das Maifeld Derby mit jedem Jahr ein bisschen weiter, 2014 überschreitet die Besucherzahl erstmals die 10.000, und mit The National steht ein echtes Indie-Schwergewicht auf der Bühne. Diese Kombination aus großen Namen der alter­nativen Musiklandschaft und handverlesenen Nach­wuchsbands wird schnell zum Markenzeichen des Maifeld Derby.

Unübertroffen ist das Line-up der siebten Ausgabe 2017: Für viele ist das Begeisterungsfunken sprühende Set der Australier Parcels eine Offenbarung unter den Neuentdeckungen in diesem Jahr, während deren Landsmänner King Gizzard & The Lizard Wizard die mikrotonale “Rattlesnake” bei weit über 30 Grad und Wasserschlaucheinsatz auf ein komplett begeistertes Publikum loslassen. Slowdive tauchen anlässlich ihres ersten Albums seit 22 Jahren das Palastzelt in eine Shoegaze-Soundwall, während Bilderbuchs zweiter Maifeld-Derby-Auftritt so tight daherkommt, dass zwischen Ernsts Hüftschwung und die springende Menge keine Schweißperle mehr passt. Und da sind die Sets der Emo-Legenden American Football, von Thurston Moore oder der rare Festivalauftritt der Berliner Moderat noch nicht mal erwähnt. Arte Concert ist mit Kameras vor Ort, um ausgewählte Shows im Live­stream zu zeigen, und auch in der Publikumsdynamik tut sich etwas, das Kumpf als “Knick nach oben” beschreibt: “Das Maifeld Derby ist ein besonderer Ort mit besonderen Leuten. Eine arschlochfreie Zone, die es immer seltener gibt. Das hat in mir nochmal den Blinkwinkel verändert und mich noch stolzer gemacht”, zieht er in der Pressekonferenz am letzten Festival-Sonntag Resümee.

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Abschiedsfoto: Timo Kumpf (1. Reihe, 8.v.r.) mit der letzten Maifeld-Derby-Crew (Foto: Florian Trykowski)

Kumpf reitet diese Erfolgswelle mit vollem Einsatz noch zwei weitere Jahre. Eels, Nils Frahm und The Streets geben sich unter anderem die Ehre. Wo einst Parcels’ zuckersüßer Pop-Rock regierte, gibt es 2019 die wilden Amyl & The Sniffers zu entdecken. Schon im Programmheft 2019 gibt Kumpf bekannt, 2020 eine Pause einlegen zu wollen. Es ist Zeit, all die Maifeld-Liebe auch mal ins bis dato zwischen der eigenen Konzertagentur Delta Konzerte, dem Zelt­festival Rhein-Neckar und dem Derby, sehr kurz gekommene Privatleben zu stecken. Dass die ganze Welt in diesem Folgejahr eine Pause einlegen wird, ahnt da noch niemand.

14 Jahre Indie-Liebe

2021 ist Kumpf einer der wenigen Veranstalter, der sich zu Pandemiezeiten ins Ungewisse stürzt und versucht, eine ausnahmsweise im September stattfindende zehnte Ausgabe des Maifeld Derby auf die Beine zu stellen. Die Euphorie ist groß, der Preis für die strukturelle Zukunft des Festivals aber auch. Das wird Kumpf erst später bewusst, wie er in der Pressekonferenz erklärt: “Als wir hier Baden-Württembergs größte Corona-gerechte Veranstaltung gemacht haben, haben ganz viele Agenturen nur ihre Strukturen aufgebessert und keine Konzerte veranstaltet. Die kleinen [Veranstalter], die es jetzt schwer haben, die jetzt unter diesen aufgebesserten Strukturen leiden, haben während der Pandemie das ganze Ding am Laufen gehalten mithilfe von Fördergeldern, denn da gab es wirklich gute Programme.”

Ob das auf rund 2.000 Besucher limitierte, zehnte Maifeld Derby würde starten können, steht dabei bis zuletzt nicht fest, ständig ändern sich Bestimmungen, Lockerungen werden beschlossen, aber wo und für wen gilt dann was? Die Vorabplanung ist mühselig, mehrere mögliche Szenarien müssen bedacht werden und als die Bühnenaufbauten beginnen, ist immer noch nicht final geklärt, ob das Festival nun stattfinden darf oder nicht. Am Ende wird das zehnte Maifeld Derby unter den gegebenen Umständen ein Triumph: Efterklang und The Notwist sorgen nach der langen Livepause für Gänsehaut, und Drangsal (siehe Kasten) lassen endlich wieder eine Festivalmenge tanzen. Ein befreiendes Gefühl und eine Art Essenz dessen, was dieses Festival ausmacht.

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Haben die Arena2 im Griff: BigSpecial (Foto: Florian Trykowski)

Ende 2024 trifft Kumpf dann die aus mentaler und auch körperlicher Sicht eigentlich längst überfällige Entscheidung, das Maifeld Derby nicht länger als Ein-Personen-Kraftakt mit vollem finanziellem Risiko auf den Schultern tragen zu können und zu wollen. Kumpf ist einziger Geschäftsführer der gemeinnützigen GmbH. Im April 2025, als der Entschluss schon etwas gesackt ist, nimmt sich der Veranstalter in seinem Berliner Büro Zeit für ein ausführliches Gespräch, die er knapp fünf Wochen vor Festivalbeginn eigentlich nicht hat, und fasst den nun durchbrochenen Hamsterrad-Status zusammen: “Du kommst vom Platz und bist drei Monate vollkommen hirntot und dann geht es eigentlich auch schon wieder los. Es gibt keine Zeit, zu reflektieren. Ich konnte noch nie eine Abrechnung machen, ohne das nächste Jahr schon angefangen zu haben.” 2016 gründet Kumpf zusätzlich noch das Zeltfestival Rhein-Neckar, um sein Liebhaberprojekt Maifeld Derby mit einem Mainstream-konformeren Line-up querzufinanzieren.

Der Schlussstrich im vergangenen Jahr folgt schließlich als Reaktion auf die Absage eines Förderbetrags durch die Stadt Mannheim, von Kumpf so knapp formuliert, dass so manche Hochkultureinrichtung für diesen Betrag vermutlich nicht mal aufstehen würde: “Wir dachten, als amtierendes Best Small Festival Europas haben wir bei der Unesco City Of Music Mannheim endlich eine Chance auf einen absolut bescheidenen Mindestbedarf, um das Maifeld Derby in der gewohnt ambitionierten und kuratierten Form weiterführen zu können”, heißt es in einem Statement auf der Webseite des Festivals. Zunächst 100.000 Euro und ab 2026 300.000 Euro pro Jahr stehen im Raum, um weitere benötigte Drittmittel akquirieren zu können, doch die Förderung kommt nicht zustande und Kumpf zieht enttäuscht die notwendigen Schlüsse aus dieser Absage: “Die lokale Konzertlandschaft mit kleinen Konzerten mit unter 1.000 Besucher:innen wurde massiv aufgewertet durchs Maifeld Derby in den vergangenen zehn Jahren. In den Clubs der Umgebung wurde deutlich mehr bespielt als vorher, das sind aber alles nur inhalt­liche Argumente, damit kann ich bei der Stadt keinen erreichen. Da bin ich vielleicht auch ein zu schlechter Lobbyist.”

E und U

Denkt man darüber nach, wie stetig sich die Kultur- und Musiklandschaft wandelt, mutet es umso absurder an, dass die Förderlandschaft immer noch zwischen E-Musik (ernster Musik) und U-Musik (Unterhaltungsmusik) unterscheidet und erstere als förderwürdiger einstuft. Eine Aufteilung, die irgendwo zwischen Richard Strauss und Arthur Schopenhauer erstmals ihre Begrifflichkeiten fand und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor über 120 Jahren, von den ersten musikalischen Verwertungsgesellschaften zur Unterteilung genutzt wurde, sorgt heute dafür, dass kleine Festivals wegen fehlenden 300.000 Euro aussterben, während Nationaltheater Renovierungskosten in Millionenhöhen bewilligt bekommen: “In Deutschland ist E-Musik förderwürdige Kultur, und U-Musik, das ist Wirtschaft, diese Musik muss sich selbst tragen. Ich glaube, das ist so der Grunddenkfehler in Deutschland, der auch einfach niemals angepasst wurde. Lieber pumpt man weiter Geld in bestehende Institutionen”, erklärt Kumpf müde, bricht aber bei aller Resignation zumindest eine Lanze für den amtierenden Mannheimer Kulturbürgermeister Thorsten Riehle: “Es gibt einen Kulturbürgermeister, der bemüht ist, aber im Grunde ist vor Ort noch diese Schwarzweiß-Denke zwischen förderwürdiger Hochkultur und sich selbst tragender Popkultur tief verwurzelt.”

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Herzig: Besucher:innen hinterlassen Abschiedsbotschaften (Foto: Florian Trykowski)

Als wäre das nicht Hindernis genug: Große Stars wie Coldplay oder Taylor Swift melden Tourumsätze in Rekordhöhe, und auch die Big Player der deutschen Rock-Festivallandschaft gehen mit Gewinnen aus ihren Veranstaltungen und erwecken so genau den Eindruck sich selbst tragenden Popkultur, der Nachwuchskünstler:innen und kleinen Festivals das Genick bricht: Sie können durch ihren im Vergleich bescheideneren Bekanntheitsgrad keine dreistelligen Ticketpreise rechtfertigen. Die wären aber nötig, um die Kosten ohne Förderung zu decken. Speziell im Fall von Nachwuchskünstler:innen ist das Touren essenziell, um die Bekanntheit zu erhöhen. Eine Veranstaltung wie das Maifeld Derby (siehe Bilderbuch als eines von unzähligen Beispielen) ist neben Liveclubs eine wichtige Plattform für Bands, um vom Publikum entdeckt zu werden – ein Teufelskreis.

Während in Deutschland vorsichtige Ansätze zur Förderung populärer Musik sprießen, sind viele Nachbarländer schon ein ganzes Stück weiter (siehe Kasten). In den Niederlanden veröffentlicht der unabhängige Kulturrat 2017 die 123 Seiten lange Abhandlung Die Balance, die Notwendigkeit: Plädoyer für eine integrale, inklusive Musikpolitik. Die kommt neben vielen weiteren Aspekten zu dem Ergebnis, dass genreübergreifend gefördert werden müsse und der “Flickenteppich” aus Maßnahmen einer ganzheitlichen Unterstützung weichen solle. Auch ende der Bildungsauftrag nicht am Rand klassischer Musik. Die soziale und gesellschaftliche Komponente aller Musikgenres müsse in Zukunft von Seiten der Regierung besser mitgedacht werden.

Die Frage, weshalb populärer Musik so viel seltener ein Bildungsauftrag anerkannt wird, treibt auch Kumpf über die Jahre um, der angetriebenen von der eigenen Leidenschaft nicht versteht, weshalb ihm Freunde und Bekannte Selbstausbeutung unterstellen. Rückblickend sieht er die Dinge klarer: “Ich habe das lange nicht so gesehen, denn ich habe mir das ja selbst ausgesucht. Diesen Selbstausbeutungsaspekt sehe ich erst jetzt im Vergleich zu anderen Kulturinstitutionen: Letzten Endes, wenn ich so zurückblicke und die Stimmen von außen noch dazu nehme, leiste ich mit dieser Veranstaltung kulturelle Bildung und komme diesem Kulturauftrag nach. Wieso habe ich mich dafür also komplett verbiegen müssen, während andere das quasi vom Staat getragen bekommen?”

Eisenbahn

Einen Kulturauftrag haben als Überraschungsheadliner am Freitag auch Kraftklub aufs letzte Maifeld Derby mitgebracht. Genau genommen, um ein ebenfalls letztes Mal die eingestaubte Kategorisierung zur Hand zu nehmen, ist es mindestens diskussionswürdig, ob nicht Kraftklubs U-Musik einen sehr viel wertvolleren Bildungsauftrag in der Gegenwart erfüllt als etwa Richard Wagners E-Musik. “Wir haben uns hier mal reingezeckt”, sagt Frontmann Felix Kummer und lässt zwischen Abrisssongs wie Schüsse in die Luft, Randale und dem neuen “Schief in jedem Chor” auch verbale Anerkennung für den Festivalmacher da. Schließlich haben sich Kraftklub mit dem Kosmonaut-Festival selbst mal an einer Indie-Veranstaltung versucht, wissen also nur zu gut, was für einen Organisationswahnsinn es zu stemmen gilt. Ein britischer Besucher kann derweil nicht fassen, was diese fünf Typen in ihren weißen Trainingsanzügen da abliefern, und raunt seiner Begleitung staunend zu: “Fuck, they’re really good!”

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Really good: Kraftklub (Foto: Florian Trykowski)

Am Samstag mogelt sich noch ein zweiter Überraschungsheadliner uneingeladen ins Programm: das Wetter. Bereits zu Tagesbeginn steht die Leitung des Maifeld Derby mit dem Deutschen Wetterdienst in Kontakt. Nach Temperaturen von über 30 Grad könnten sich Wärmegewitter über dem Gelände entladen. Am frühen Abend geht es dann ganz schnell: Noch während des laufenden Programms werden sämtliche Besucher je nach aktuellem Aufenthaltsort auf die überdachte Tribüne des Reitstadions oder ins Palastzelt evakuiert. Kurz darauf reißen heftige Sturmböen Stoffverkleidungen, Bauzäune und Banner nieder. Während im Zelt die Singer/Songwriterin Sophia Kennedy mit einem extralangen Set die Leute bei Laune hält, bejubelt die Tribünengruppe jeden Blitz des Himmelsschauspiels von ihren Premiumplätzen aus. Kleinkinder werden auf den Tribünen-Stufen in den Schlaf gewippt oder im Zelt auf Picknickdecken bespaßt, während der Starkregen an den weißen Planen herunterrauscht.

Kumpf widmet sich dem durcheinandergeratenen Show-Zeitplan. Sein in Rekordzeit bei Instagram geposteter Schmierzettel informiert die Besucher, zu welchen neuen Zeiten Strongboi, King Hannah und etwas, das sich mit viel Fantasie schließlich als das Wort “Eisenbahn” entpuppt und für Die Höchste Eisenbahn steht, spielen. “Bist du Arzt? Danke fürs Planen”, kommentiert jemand augenzwinkernd unter diesen ausschließlich funktionalen Post. Das Sponsorenhändeschütteln mag nicht Seins sein, aber hier liegt Kumpfs Stärke: Hauptsache, die Musik spielt wieder, da kann man auf Anmut keine Rücksicht nehmen. Das unermüdliche Team aus Freiwilligen richtet währenddessen das Gelände wieder her. Bei der Pressekonferenz einen Tag später fasst Kumpf zufrieden zusammen: “Gestern diese Evakuierung: Besser hätte es kaum laufen können!”

Team Rotnacken

Dass eine heikle Unwettersituation, die die Sicherheit der Gäste zu gefährden droht, souverän gemeistert wurde, liegt an freiwilligen Helfern, das weiß auch Kumpf nur zu genau: “Hier sind am Wochenende 250 Leute, die sich den Arsch aufreißen, die ausstrahlen, was man für kein Geld der Welt kaufen kann.” Zwei der über 200 Freiwilligen, Achim Hoock und Valentin Braun, haben sich stellvertretend für ein über die Jahre immer weiter gewachsenes Team an Volontären zum Interview am Parcours d’amour eingefunden. Beide sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten zuerst als Besucher zum Maifeld Derby gekommen, Hoock bereits 2013: “Damals gab es eine kleine Open-Air-Bühne, auf der We Were Promised Jetpacks gespielt haben. Die habe ich da kennen gelernt. Das Festival hatte insgesamt sehr gute Bands gebucht, war aber noch nicht so ausgereift organisiert, und ich kann ganz gut organisieren. Dann habe ich Timo solange Nachrichten geschrieben, bis er gesagt hat, “Okay, wir treffen uns mal bei einem Konzert in der Alten Feuerwache. Ab dann war ich dabei und bin es bis heute.” Elf Mal ist Achim seit diesem Kennenlerntreffen in dem Mannheimer Kulturzentrum, wo Kumpf Konzerte organisiert, ein wichtiger Teil hinter den Kulissen des Maifeld Derby.

Etwas später kommt auch Braun an Bord und steigt mit seinen Kommilitonen aus der Darmstädter Architekturfakultät ins Volontärteam ein: “Das hat angefangen mit fünf Stunden Einsatz für das Ticket pro Tag, einem T-Shirt und etwas zu essen, denn als Student war das Geld immer knapp. Irgendwann sind wir bei Achim im Team gelandet und es wurde immer mehr. In den vergangenen Jahren ging es dann eher ums Organisieren, Installationen bauen und darum, die Schnittstelle zwischen dem Freiwilligenteam, Timo und den Profis hier auf dem Platz zu sein.” Über die Jahre entwickeln sich Freundschaften aus der Zusammenarbeit, Braun besucht Hoock jenseits des Festivalstaubs an Weihnachten, wenn er auf dem Weg in die Heimat durch dessen Region fährt, es bildet sich eine feste Gang, trotz oder gerade wegen der unterschiedlichen Typen, die in so einem freiwilligen Team auf­einanderprallen.

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Sprechen für Team Rotnacken: Valentin Braun (l.) und Achim Hoock (Foto: Florian Trykowski)

»Wir wollen eigentlich nicht aufhören, jetzt wo wir eingespielte Strukturen haben.«
Valentin Braun, Freiwilliger

Einer der Profis, von denen Braun spricht, ist der Zeltverleiher, der unter anderem den Aufbau des Palastzeltes übernimmt, das dann auch baulich abgenommen wird, um im Zweifel so zuverlässig wie in diesem Jahr Wind und Wetter zu trotzen. Diese beteiligten Gewerke stellen jedoch den kleinen Teil der Organisationskrake dar, weiß Hoock: “Der Rest wird gestemmt durch Leute, die crazy sind und richtig Bock und Antriebskraft haben, etwas umzusetzen. Egal ob sie ein Flatterband anbringen oder Holzbauten zusammenhämmern oder Gabelstapler fahren.” Braun ergänzt: “Wir wollen eigentlich nicht aufhören, jetzt wo wir eingespielte Strukturen haben.”

Im Team von Hoock und Braun, das seit einem Aufbau unter besonders gnadenloser Sonne als “Team Rotnacken” bekannt ist, beginnt die Geländeplanung etwa ein halbes Jahr vor dem Festival, und neun Tage bevor sich die Tore für die Besucher öffnen, startet der Aufbau vor Ort. Die Aufbauperiode ist von Jahr zu Jahr länger geworden: “Mehr Besucher, mehr Gelände, mehr Projekte”, zählt Braun die Gründe auf. In diesem Jahr hat er die Installation der Arena²-Bühne übernommen, auf der am Ende des Tages die Kopfhörer-Disco stattfindet, und vorher das Post-Punk-Duo Big Special eine dieser Bands ist, über die man in ein, zwei Jahren sagen wird, man habe sie beim Maifeld Derby gesehen, als sie noch kaum jemand gekannt habe. Andere Bands derselben Kategorie sind in diesem Jahr Library Card aus den Niederlanden und Soapbox aus Schottland, die sich zufällig ihren Bandnamen mit Kumpfs erster eigener Band teilen.

Es verwundert daher nicht, dass sich Kumpf pünktlich zum Set von Soapbox im Publikum vor der Arena² einfindet. Das hat Tradition: Zu jedem einzelnen Maifeld Derby findet man Kumpf, soweit es die Zeit erlaubt, in der Menge, schwatzend oder mitwippend, wie es sich gehört für einen Veranstalter, der seine Bands der Qualität und Liebe zur Musik wegen bucht. Hoock erinnert sich an so einen Moment: “Als The National gespielt haben, war ich mit Timo dort, und er hat sich wie ein kleiner Junge gefreut und war wahnsinnig stolz.” Die US-Band reitet damals ein Karrierehoch, spielt auf dem Maifeld Derby aber für einen Bruchteil ihrer üblichen Gage – ein großer Moment für das Standing des Festivals.

…und Freunde

Eine andere liebgewonnene Tradition ist der Auftritt von Get Well Soon. Das Indie-Projekt von Kumpfs altem Popakademie-Kumpel Konstantin Gropper, bei dem Kumpf Bassist war, spielte bereits auf dem ersten Maifeld Derby. Gropper wird im Programm liebevoll als “Dauergast vor und auf den Bühnen” des Festivals beschrieben. Nur folgerichtig stehen dieses Jahr “Konstantin Gropper & Friends” für ein nostalgisches Set bereit, und nur folgerichtig greift Kumpf dabei noch einmal für ein paar Songs zum Bass. “Wir haben das hier Konstantin Gropper & Friends genannt, um zu beweisen, dass ich wirklich Freunde habe. Toll, zwei gehen schon”, scherzt Gropper noch, als die Rhythmusgruppe für den Akustikteil die Bühne verlässt, dann wird es doch schnell sehr emotional. So viel Rührseligkeit muss sein, auch wenn einer der Sprüche auf der Rückseite der Festivalwährung Derby Dollar in diesem Jahr lautet: “Weine nicht, weil es endet, lache, weil es schön war.” Besonders wenn Singer/Songwriterin Alex Mayr kurz zuvor einen eigens für das Maifeld Derby geschriebenen Song zum Besten gibt.

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Die Derby-Stammgäste Efterklang beim Publikumskontakt (Foto: Florian Trykowski)

Ganz viel positive Energie bringen Efterklang mit. Auch das macht das letzte Maifeld Derby aus: dass neben den Debüts von Kraftklub oder Franz Ferdinand viele der Bands langjährige Weggefährten des Festivals sind. So zieht es die Dänen direkt mit Akustikgitarre und “Things We Have In Common”-Flagge ins Publikum, während zwei riesige Störche seelenruhig über dem Gelände kreisen, als wäre hier nicht gerade ein Festival zugange.

Am Ende steht neben der Erkenntnis, dass die positiven Erinnerungen bleiben, auch wenn gute Dinge enden, die Frage, ob und wo kleine Liebhaberfestivals in Zukunft ihren Platz in der deutschen Kulturlandschaft finden können. Unter den aktuell herrschenden Strukturen scheint das schwieriger denn je. Selbstausbeutung und Lobbyarbeit können nicht die Grundpfeiler einer bunten und lebhaften Subkultur sein. Kumpf fasst es im Vorwort des Programmhefts zum 14. und verdammt noch mal leider letzten Maifeld Derby zusammen: “Reset war die einzig richtige Taste, die es zu drücken galt. Im Galopp ist es einfach zu schwer, wieder zurück in den Sattel zu kommen.” Bleibt zu hoffen, dass aus der Derby-Asche ein Nährboden für Neues wird. Das schließt auch Kumpf unter den richtigen Bedingungen nicht aus – dann aber nicht als One-Man-Show, sondern mit ausreichender Finanzierung.

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