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    Musa Dagh
    No Future

    VÖ: 14.04.2023 | Label: Hayk/Cargo
    Text: | Erschienen in: VISIONS Nr. 361
    Platte des Monats
    Musa Dagh - No Future

    Von den Teilen zur Summe: Das Debüt war überambitioniert. Doch auf ihrer zweiten Platte finden sich Musa Dagh selbst. Kopfüber im schwarzen Loch, barfuß durch fiesen Scheißdreck – und weil das alles ziemlich super ist, sind Musa Dagh nun tatsächlich eine Supergroup.

    Ja, Thomas Götz von den Beatsteaks ist nicht mehr mit dabei. Doch in Sascha Madsen haben Aren Emirze (Harmful, Emirsian, Taskete) und Aydo Abay (Ex-Blackmail, Abay, Ken, Freindz) den passenden Irren gefunden, dieses Wunderwerk aus Kauzigkeit, Melodie und wunderschöner Boshaftigkeit nach vorne zu kloppen. Musa Dagh umarmen ihren Kauz und packen ihn an der Hüfte. Einen Bass haben sie nach wie vor keinen und trotzdem drückt das hier wie bescheuert, wenn sie im sensationellen „No Future“ mal eben alles reinwerfen, und das auch noch von allen Seiten: unverschämt schmissigen Pop, die schwitzigen Cowboystiefel von Jesus Lizard und den Wahnsinn von Killing Joke – alles drin. Ein bisschen sexy ist auch der angedeutete „We Didn’t Start The Fire„-Vibe des fantastischen „VU“, besonders wenn die Geschichte unvermittelt durch orientalische Melodien aufgelöst wird. Und dann auch noch das: „Death, Work, School, Birth“, singt Abay im irren „Congaah“ und dreht das olle Ding einfach um, das normalerweise bei der Geburt beginnt und mit dem Tod endet.

    Doch genau da ist der Noiserock vom Musa Dagh am verführerischsten: Wenn sie Erwartungen andicken, um sie dann mutwillig einzureißen, oder fiebriges Chaos anzetteln und es durch großes Kino auflösen. Manchmal werfen sie einem die Unordnung des Lebens vor die Füße – Stück für Stück, Nervenzusammenbruch um Nervenzusammenbruch. Mitten in der Sauerei liegt eben doch der Quatsch, der das alles hier lebenswert macht. Ein bisschen Make-up auflegen, um durch den Tag zu kommen, singt Abay im ergreifenden „0200 Hours„. „Have a little faith, when the stars forget to shine“. Ja, kurz an „Disarm“ von den Smashing Pumpkins denken – ohne Kitsch, Gloria und die Glocken. Ehrenwert auch, wie sich Musa Dagh der Geschichte des Noiserock annehmen: Jeder Depp weiß, dass ein Backstein im Gesicht wehtut. Das Feld ist längst erforscht. Musa Dagh wählen Chaos, Zersetzung und Zucker als Waffen. Die Wehmut, der Kitsch und die Brachialromantik in „Rhythm Pigs (A.F.M.D.)“ klingen, als würde man mit einem Kuscheltier verprügelt, dass – nun ja – einen Backstein verschluckt hat. Dann eben doch Gewalt als Lösung, aber eben bitte unerwartet.

    Und immer wieder Abay, denn eines ist mittlerweile klar: Den könnte man auch neben einen Laubbläser stellen und ihm würde eine fantastische Gesangsmelodie einfallen. Völlig verständlich, dass er mit Madsen und Emirze über sich hinauswächst. Im sensationellen „Your Garden“ opfern sie mal eben den besten Refrain der Welt für die große Kunst. Nachdem Thomas Götz von den Beatsteaks nun nicht mehr am Schlagzeug sitzt, wird Abay im hysterischen „Weekend Warrior“ zumindest von deren Gitarrist Bernd Kurtzke angebrüllt. „Me Two“ schießt dieser Abfahrt dann vollends den Hut vom Hintern. Bitte mal kurz Blackmail, Harmful und Madsen vergessen. Denn so sehr Musa Dagh auch in den 90ern verwurzelt sein mögen, das hier sind die Abgründe von heute. „No Future“ ist jetzt.

    Das steckt drin:

    SoulwaxMuch Against Everyone’s Advice“ (PIAS, 1998)

    Die Belgier haben es damals einfach getan: Lust auf einen Refrain für die Ewigkeit, Lust auf spröden Noiserock, etwas Zerstörung und ein bisschen tanzen wäre auch super? Kunst ist dazu da, sich diese Freiheit zu nehmen. Immer dem Hintern hinterher und Hits raushauen, die auch 25 Jahre später keinen Staub ansetzen werden. Darunter fangen auch Musa Dagh gar nicht erst an.

    Girls Against BoysHouse Of GvsB (Touch And Go, 1996)

    Als Noiserock die erste Krise hat, kommen Girls Against Boys aus Washington D.C. um die Ecke. Ihre Musik ist von fast lächerlicher Urgewalt, aber eben mit dem Wissen, dass Unsane & Co. schon alles Blut der Welt verschüttet haben. Sie setzen nicht auf den Vorschlaghammer, sondern wählen Hüfte, Boshaftigkeit und fiese kleine Nadeln. Die tun auch weh.

    MotorpsychoTimothy’s Monster“ (Stickman, 1994)

    Dickschädel mit Herz, Prog mit versiffter Jeansjacke – Mastodon haben es perfektioniert, doch Motorpsycho liefen einst vorneweg. Anspruch ohne Käsigkeit, wahnwitzige Musikalität und trotzdem haufenweise Dreck, Herz, Nervenzusammenbruch und Gitarrensounds aus einer Welt, in der man sich nicht um des Nachbars Garten schert. Freigeist nennt man das.

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    Musa Dagh

    VÖ: 26.11.2021