Kendrick Lamar
Mr. Morale & The Big Steppers
Text: Sebastian Berlich
Über 73 Minuten entfaltet der Rapper aus Compton sein Seelenleben, bis es weit über ihn hinausreicht. Man hört dem Album Lamars Therapie an, es geht durch Anekdoten, Gefühlslagen, Gedankenspiralen, Biografien im Modus einer Familienaufstellung. Der Vater (“Father Time”) ist dominant, gibt die toxische Männlichkeit weiter, das Trauma der Mutter (“Mother I Sober”) ist versteckt, setzt sich womöglich im eigenen gestörten Verhältnis zur Sexualität fort. Genau diese oft mit Gewalt verbundenen Linien verfolgt Lamar durch Generationen und gesellschaftliche Gruppen, gebunden immer an eigene Erfahrungen. Wenn sich “Auntie Diaries” um Transpersonen dreht, geht es um Familienmitglieder und um Kritik an der eigenen Sprache, selbst wenn der Song dabei gegen Codes der Trans-Community verstößt. “Mr. Morale & The Big Steppers” ist nicht nur kathartische Bewegung, durch Therapie zur Erlösung, wie es der mehrfach auf dem Album gefeaturte, spirituelle Lifecoach Eckhart Tolle predigt. Das Album ist auch widersprüchlich, jongliert nicht immer ganz eindeutig mit Rollen, nimmt Fäden auf, verknotet sie, schneidet Debatten an, führt sie nicht zu Ende, lässt Provokationen wie das Engagement des gewalttätigen, von Donald Trump begnadigten Rappers Kodak Black in mehreren Tracks einfach stehen. Wo das ähnlich ausladende “To Pimp A Butterfly” 2015 als geschlossenes Meisterwerk erschlug, fühlt man sich hier eher zur Diskussion, zum Widerspruch aufgefordert. Auch der Sound ist anders, erkundet nicht die afroamerikanische Pop-Geschichte, sondern Stimmungen, subtil, aber elaboriert: “Crown” steigert sich in synthetischen Gospel, “Rich Spirit” schneidet zu luxuriöser Electronica auf, im trotzigen “Count Me Out” zerschlägt Trap eine entspannte Gitarre und durch das ganze Album schleift sich ein schweres Klavier, das spätestens in “Mother I Sober” mit Beth Gibbons’ gespenstischem Schmerzensgesang voll zur Geltung kommt. Momente von derart schlichter Schönheit gibt es auf “Mr. Morale & The Big Steppers” wenige, am ehesten noch dann, wenn in “Purple Hearts” der Beat hinter Ghostface Killah verstummt und der Wu-Tang-Clan-Veteran in reinem Wohlklang schwelgen darf. Alles andere ist dem Konzept unterworfen, Diskursen, die Lamar hier dezidiert nicht in der Rolle des Retters kundtut. In “Savior” verwirft er das gesamte Erlöser-Konzept. Für ihn ist es Teil seiner therapeutischen Lösung, für das Publikum eine Ermächtigung.
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