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Tegan And Sara - vs. Tyler The Creator

Tegan And Sara – vs. Tyler The Creator
Gegenwind für den Rapstar der Stunde: Tegan And Saras Sara Quin legt sich in einem offenen Brief mit Tyler The Creator an – und der Industrie, die ihn hofiert. Ein Bericht und Kommentar zur Lage.

Vor anderthalb Wochen ist ‚Goblin‘, das zweite Album von Odd-Future-Anführer Tyler The Creator erschienen; es kletterte zwischenzeitlich bis auf den zweiten Platz der iTunes-Charts und steht noch immer unter den Top 50 der meistverkauften Platten bei amazon.com. Außerdem gewinnt Tyler täglich mehrere tausend Twitter-Follower hinzu, und das Video zur Single ‚Yonkers‘ wird in Kürze seinen zehnmillionsten You-Tube-Anklicker erleben. Tyler ist also mit Sicherheit die größte HipHop-Entdeckung des Jahres und wahrscheinlich sogar das bisher weitreichendste 2011er Phänomen in der unabhängigen Musik.

Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen ist Tyler ein geborener Star für das digitale Zeitalter – jung, unverschämt und mitteilungsbedürftig; ein talentierter Selbstdarsteller, der immer wieder mit schauspielerischem und komödiantischem Talent überrascht. Seine Musik ist auch ziemlich gut: Kompromissloser, düsterer HipHop, der mit Hardcore-Energie und Black-Metal-Ästhetik hantiert und außerdem voller Eigenarten und Selbstentblößungen steckt, die so schonungslos seit Eminem keiner mehr durchgezogen hat.

Vor allem ist Tyler aber ein unfassbares Schwein, und da gehen die Probleme los. Auf ‚Goblin‘ (und auch schon auf dessen Vorgänger ‚Bastard‘ und all den anderen Platten, die Odd Future bisher gratis veröffentlicht haben) wird in unschöner Regelmäßigkeit gemordet, vergewaltigt und an den ermordeten Vergewaltigen rumgefingert. Die Einzigen, die es auf Tyler The Creators Platten noch schwerer haben als Schwule, sind Frauen. Wie immer, wenn ein Künstler nicht nur schocken will, sondern es tatsächlich hinkriegt, gucken die Leute besonders genau zu; auch das ist sicherlich ein Teil der Odd-Future-Erfolgsgeschichte. Die Leute hören allerdings nicht genau genug zu. Findet Sara Quin von Tegan And Sara.

In einem offenen Brief auf der Website ihrer Band beschwert sie sich darüber, dass frauen- und schwulenfeindliche Phrasendrescherei in der Unterhaltungsindustrie noch immer nicht die gleichen Folgen nach sich zögen wie Rassismus und Antisemitismus. Desweiteren schreibt sie: ‚Warum sollte ich mich für die vermeintliche Genialität von Tylers Musik interessieren, wenn ihre Botschaft so abstoßend und verantwortungslos ist? […] Gibt es irgendeine andere Industrie, in der von mir erwartet würde, seine widerliche Rhetorik zu tolerieren, darüber hinwegzusehen und eine tiefere Bedeutung darin zu suchen?‘

Quin weitet ihre Kritik also auf die Plattenfirmen aus, die so etwas veröffentlichen – und auf die Medien, die seit Monaten einen beträchtlichen Hype um Tyler The Creator und Odd Future veranstalten (auch VISIONS hat bereits mehrmals online und im Heft berichtet). Außerdem richtet sie sich gegen andere Künstler, die den Rapper abfeiern oder in Schutz nehmen. Zu den Hintergründen dieser in Quins Augen universellen Verehrung stellt sie einige rhetorische Fragen: ‚Wird Tyler von jeder Kritik ausgenommen, weil die Leute Angst vor dem Backlash haben? Den unvermeidlichen Rassismusanschuldigungen oder dem Vorwurf, dass man zu 'alt' (oder zu schwul) sei, um ihn zu verstehen? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr erscheint es mir, als wolle sich niemand gegen den Typen wenden, weil er gerade populär ist. Wer aber setzt sich dann für Frauen und Homosexuelle ein? Das scheint in der Indierock-Welt komplett uncool zu sein.‘ Quins Statement lässt sich hier in voller Länge nachlesen.

Tyler The Creator hat den etwas pathetischen Punker-Ton von Quins Brief längst als Steilvorlage genutzt, um Tegan And Sara via Twitter ’some hard dick‘ anzubieten; es ist die erwartungsgemäße und wahrscheinlich auch geschäftstüchtige Antwort eines Künstlers, der gerade eine ganze Pressereise durch Europa hinter sich gebracht hat, ohne ein einziges substanzielles Interview zu geben. Dass Quin diskussionswürdige Dinge anspricht und die Rollen von Frauen, Lesben und Schwulen nicht nur im Rap, sondern auch in der Rockmusik weiterhin genauso hinterfragt werden müssen wie ihre Behandlung durch die Unterhaltungsindustrie, könnte dabei leicht übersehen werden – ebenso wie der Umstand, dass sie sich mit Tyler das falsche Ziel für ihren Frust ausgesucht hat.

Wenn das Album ‚Goblin‘ überhaupt eine Botschaft hat, dann höchstens die, dass es Teenager noch immer geil fänden, wenn jemand ihre Schule abfackeln würde. In erster Linie stellt Tyler aber die Welt einer Kunstfigur dar, die sich ohne Zweifel an einige Elemente der klassischen Gangsta-Rap-Ästhetik klammert (andere aber auch völlig ignoriert) und dabei wie ein kaputtes, armseliges Würstchen rüberkommt – ein Mamakind ohne intakte Familie, das seine Neurosen auch nicht durch mehr Geld oder regelmäßige Blowjob-Behandlung überwinden wird.

Das Bild, das dabei von Tyler entsteht, ist trotz aller Übersteigerungen ins Absurde und Surreale unheimlich narzisstisch und egozentrisch. Anders als Kollegen wie 50 Cent und DMX, die vor Ernsthaftigkeit kaum laufen können, glorifiziert er aber nicht den Gangsta-Rap-Lifestyle mit seiner Frauen- und Schwulenfeindlichkeit, sondern zeigt ihn als hohle Nicht-Alternative für einen sexuell frustrierten Halbstarken, der zu viel Zeit im Internet verbringt. Ein Lebensentwurf, den die eben erwähnten Erbsenhirne behalten können.