“Wenn man 22 ist und nicht wütend und unsicher und frustriert, dann ist das doch komisch”, sagt Ned Russin, der es wissen muss. “Ich liebe Musik, und ich bin wahnsinnig gerne auf Tour, das macht mich glücklich. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich nicht auch traurig und unzufrieden macht. Ich kann gar nicht immer genau sagen, woher das kommt. Ich versuche nur, so unverblümt wie möglich darüber zu schreiben.” Neun Jahre ist es her, dass der Bassist und Sänger zusammen mit seinem Zwillingsbruder Ben am Schlagzeug und dem noch kleineren Jamie Rhoden als Gitarrist und Sänger Title Fight gründete; zwei Jahre später holten sie Shane Moran für die zweite Gitarre dazu. Zunächst ging es sanft bergauf, von einer Seven-Inch zur nächsten, die Schule nebenbei und im letzten Jahr dann als Belohnung fürs Dranbleiben endlich das erste richtige Album.
Dann ging es schneller: “Shed” durch die Decke, die Hardcore-Szene steil darauf, dass Title Fight nicht nur nach Schwung, Geschrei und Hot Water Music klangen, sondern auch nach der alten Flauschigkeit von The Promise Ring und Small Brown Bike, und die immer noch sehr junge Band aus Pennsylvania auf Tour bis nach Japan und Australien. Wer das nicht selbst erlebt hat, glaubt kaum, wie viel Platz dabei für große Leere bleibt. “Das klingt alles immer so spannend”, sagt Russin, “aber letztlich sitzen wir acht Stunden am Tag im Bus, fahren durch die Gegend und hören dabei Musik. Oder wir hängen vier Stunden in einem Laden herum, um dann eine halbe Stunde zu spielen. Und dann fahren wir wieder nach Hause, wo es auch nichts zu tun gibt, weil wir alle keine Jobs haben. Wir haben viel Zeit zum Nachdenken.”
Vier Monate standen nach der letzten Europatour mit Balance And Composure Ende des Jahres blank im Kalender und Title Fight vor der Wahl: jetzt erst mal wieder ankommen oder sich flott das zweite Album aus den Rippen schneiden. “Wir haben dann entschieden, uns zum ersten Mal selbst ein bisschen anzutreiben, statt noch ein Jahr zu warten.” Den Startschuss gab “Sympathy”, ein typisch unvermittelter Song mit Trotz in der Stimme, Schwung und kratziger Melodie, die aber immer wieder die Tonart wechseln muss. “Wir haben ganz bewusst neue Sachen ausprobiert”, sagt Russin. “Auch wenn uns die erst mal ein bisschen nervös gemacht haben. Aber von da an lief es ganz einfach.”
Zeit, die neuen Songs zu proben, blieb ihnen nicht. Kaum war alles halbwegs fertig geschrieben, stand die nächste US-Tour mit Rise Against an. “Die fiel genau in die Zeit, in der wir eigentlich die Arbeit am Album abschließen wollten. Stattdessen hatten wir vier Wochen lang nur die 20 Minuten Soundcheck pro Tag, um mit den Songs voranzukommen.” Also nahmen sie, was sie hatten, direkt mit ins Studio zu ihrem Freund Will Yip, der schon immer irgendwie dabei war und auch Walter Schreifels bei der Produktion von “Shed” auf die Finger geschaut hatte. Sie ließen Yip alles einmal vorproduzieren und dann eine Idee vortragen.
“Der Gedanke dahinter, jeweils nur an einem Song pro Tag zu arbeiten, ist, dass die Platte zwar gedanklich zusammenhängt, aber jedes Stück eine eigene Persönlichkeit haben sollte. Statt die Spuren je parallel aufzunehmen, haben wir uns immer nur auf einen Song auf einmal konzentriert. Das hat es einfacher gemacht, gleichzeitig sehr fokussiert zu arbeiten, aber auch kreativer zu sein. Ich glaube, dem Album hat es viel gebracht.” Und der Band wenigstens ein kleines bisschen Orientierung im öden Studioalltag. “Wir sind nach wie vor jeden Tag um zehn aufgestanden, haben um elf angefangen und mittags fast immer im selben Restaurant gegessen. Aber wir haben jeden Morgen etwas ein bisschen umgestellt. Eine andere Snare angeschraubt. Ein paar Regler anders eingestellt oder andere Pedale benutzt. Ich kann dir nicht mehr sagen, was es an welchem Tag zu essen gab, aber ich verbinde mit jedem Tag und jedem Song ganz bestimmte kleine Eigenheiten im Klang.”
Ob das nur schön für ihn ist oder dem fertigen Album tatsächlich anzuhören? “Ich glaube schon. Klar, wenn man nur so drüberhört, ist es einfach ein Album, das nach uns klingt. Aber wenn man sich Kopfhörer aufsetzt und wirklich zuhört, dann fallen einem die verschiedenen Gitarrensounds und vielleicht sogar die unterschiedlichen Snaredrums auf. Das ist meine Lieblingssache überhaupt an Musik: das Augenmerk auf Details. Das wollen wir vermitteln. Und ich glaube wirklich, dass man das hören kann. Wenn man nicht darauf achtet, stört es nicht weiter. Aber es gibt diese feinen Unterschiede, und darauf sind wir sehr stolz.”
Was nun nicht heißt, dass “Floral Green” ein sperriges, unzugängliches Album wäre. Im Gegenteil: Secret Society ist der grölende Ohrwurm, der alles von Jawbreaker und Samiam schön grüßend auf Eis legt. “Head In The Ceiling Fan” könnte mit dem schleppenden Gitarrenrauschen auch bei Shores für Ruhe sorgen. Viel mehr noch als Genres oder Referenzen versammeln Title Fight auf ihrem zweiten Album aber genau die treppenstürzenden Melodien, die sich gegenseitig aufhelfenden Gesänge, das Voranschreien und die ganze fassungslos glückliche Dringlichkeit von vier Menschen an Gitarren, Bass und Schlagzeug, die schon “Shed” ziemlich aufregend gemacht haben. Umso besser, wenn das Bewährte noch ein paar neue Nuancen bekommt, ob sie nun ziemlich eingängig, ziemlich leise oder – wie im Abschlussstück “In-Between” – ziemlich grungig klingen.
“Wir hören ungefähr alles von Nirvana bis Thursday“, erklärt Russin. “Wir picken uns jeweils die Teile heraus, die uns am besten gefallen, und versuchen uns dann selbst daran. So haben wir gelernt, Songs zu schreiben.” Dass eine Title-Fight-Platte sich dabei auf eine rau-melodiöse halbe Stunde beschränkt, ist für ihn trotzdem klar. “Wir kommen eben aus dem Hardcore. Das hält bei uns alles zusammen. Schnelle, kurze, aggressive Songs. Selbst wenn wir mal einen längeren, ruhigeren Song schreiben, steckt die gleiche Idee dahinter. ‘Head In The Ceiling Fan’ klingt natürlich kein bisschen wie ein Hardcore-Song, aber er hat die Mentalität eines Hardcore-Songs. Wir könnten kein Album machen, das eine Stunde dauert. Unsere Aufmerksamkeitsspanne reicht für 30 Minuten.“
Was man “Floral Green” auch höchstens mit Kopfhörern anhört, sind seine drei Texter. So wie beim Musikmachen alle vier Bandmitglieder gleichberechtigt Ideen einbringen, sich reinreden und im Kollektiv das Beste draus machen, so teilen sie sich anschließend auch das Texteschreiben. “Was ich singe, stammt schon meist von mir”, so Russin, “aber Shane und Jamie teilen sich seine Sachen ungefähr gleich auf. Jeder von uns kann schreiben, wenn er will.” Nur sein Bruder will nicht so richtig. Dafür sind die anderen drei wunderbar auf Linie.
Wo “Shed” noch von Abschied und Wandlung erzählte, ist “Floral Green” wie gelähmt von seiner eigenen Antriebslosigkeit. “I made promises that I can’t keep/ I fell asleep.” Wüsste man es nicht, man müsste automatisch glauben, dass unter den elf Songs ein einziger unsicherer Teenager liegt, der sich seine Sorgen auf die Seele schreibt – was damit zusammenhängt, dass alle in Title Fight ihre Teenagerjahre zusammen verbracht haben. “Wir haben zwar drei verschiedene Perspektiven, aber wir kommen meist zu denselben Schlüssen”, sagt Russin. “Unsere Leben sind sich eben sehr ähnlich. Wir sind jung und versuchen, unseren Platz in der Welt zu finden. Wir beobachten die Menschen um uns herum und wie sie leben. Und wir sind manchmal verwirrt und wütend und können das selbst nicht richtig einordnen.”
Russin kann nicht genau sagen, was es mit seiner Jugend gemacht hat, dass er sie komplett mit denselben drei Menschen erlebt und verarbeitet hat, von denen offiziell nur einer sein Bruder ist und deren Musik so lange erst nach der Schule zählte und dann erst nach Jahren für ein Album. “Ich kenne es ja gar nicht anders.” Nähert man sich aber von der anderen Seite des Zauns, dann erinnert dieses merkwürdig mühelos ineinander verwischte Gemeinschaftswerk mehr als flüchtig an Jeffrey Eugenides’ “Virgin Suicides”, die sich, eingesperrt in ihr Haus und ihr Leben, der schönen Apathie hingeben. Nicht mal reden müssen und wollen sie über das, was sie tun. “Meist schreibe ich die Texte in meinem Zimmer und bringe sie zur Probe mit, wenn sie fertig sind”, sagt Russin. “Wir diskutieren nicht, was wir schreiben, das ist zu persönlich. Ich glaube, die Texte sprechen auch für sich selbst.”
“Floral Green” ist schlicht und direkt. Eigentlich handelt es nur davon, rumzuliegen und sich nutzlos zu fühlen. “I’d rather sleep than have to say, I feel lost. I feel boring.” Aber manchmal hat es auch Lust auf blutiges Kopfkino: “Head In The Ceiling Fan”. Und immer behält es sich eine unwohle Vagheit vor, die nicht unterscheiden kann und will zwischen trägen Schulnachmittagen, echter Depression und Gedanken, die jeden deprimieren würden. “And all the things that make you cry – remembering you’ll watch your parents die.” Wer versinkt da nicht in Teenage Angst?
“Ich versuche wirklich, so direkt und ehrlich wie möglich zu sein”, sagt Russin, “aber das ist mir ehrlich gesagt auch sehr unangenehm. Mich macht es nervös, darüber nachzudenken, wie die Leute aufnehmen, was ich von mir und meinen Gefühlen preisgebe. Die Songs sind ja auch das Einzige, was ihnen überhaupt einen Eindruck von mir vermittelt. Die meisten Leute, die uns hören, haben ja nie mit mir persönlich gesprochen. Das Einzige, was sie von mir kennen, sind meine Texte. Also halten sie mich wahrscheinlich für einen ziemlich merkwürdigen depressiven Typen. Dabei schreibe ich eigentlich nur über Gefühle, die jeder hat. Darüber, wie ich sie überwinde oder einfach erlebe. Und das halte ich dann doch gerne etwas offen.” Jetzt muss er doch kurz schlucken. “Wenn dann jemand das so interpretiert, dass ich einfach nur faul bin statt traurig und ziemlich überfordert – dann soll er das eben denken.”
Title Fight zerbrechen nicht, sie trotzen. Nicht nur der langweiligen alten Idee, dass nur ehrenwerte Gefühle (Liebe, Wut, Trennungstrauer) es wert sind, besungen zu werden – sie widmen sich gerade den vernachlässigten Alltagsbefindlichkeiten, die so unangenehm zwischen Sich-selbst-im-Weg-Stehen und Phantomschmerz hängen und von denen Russin sagt, dass sie weitaus schwieriger zu beschreiben sind als ihre großen Geschwister. Mehr noch: Sie verpacken diese ganze unerträgliche Melancholie in Musik, die dafür viel zu selbstbewusst ist. Hätte man keine Ahnung, wovon die Texte auf “Floral Green” handeln, wäre es einfach ein tolles Emo-Hardcore-Album über Aufbruch, Wärme und Zusammenhalt. Am Ende ist wichtig, dass man “Secret Society” zu Hause mit Kopfhörern studiert, versteht und sich darin wiederfindet. Und danach ist wichtig, dass man sich vor der Bühne wiederfindet und weder auf Tonartwechsel oder Snaresounds noch auf Depressionen achtgibt und sich den Song einfach so zusammengrölt, wie man ihn braucht. “I’ll be you and you’ll be me/ My secret society.”