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"Punk-Professorin" Vivien Goldman im Interview

Punk, weit gefasst
Ihrem Buch „Die Rache der She-Punks“ lässt Vivien Goldman eine gleichnamige Compilation folgen, die 28 programmatische Songs von Musikpionierinnen enthält. Zugeschaltet aus ihrer Wahlheimat Jamaika, spricht die „Punk-Professorin“ über die Vielfalt des Genrebegriffes und politische Künstlerinnen der Gegenwart.
Vivien Goldman (Foto: Alexesie Pinnock)
"Niemand ist mehr Punk als Grace Jones" - Vivien Goldman (Foto: Alexesie Pinnock)

Vivien, was war dein Anliegen mit „Die Rache der She-Punks“?
Vivien Goldman: Ich wollte mit dem Buch explizit etwas ins Leben rufen, das mir als junger Frau geholfen hätte. Und das Mädchen und Frauen auch heute noch helfen soll. Und ich glaube auch, das ist mir gelungen, wenn ich mir das bisherige Feedback anschaue. Im Grunde ist es die Geschichte vom Überleben als Künstlerin gegen alle Widerstände. Und sie erzählt davon, dass man Opfer bringen muss, um so leben zu können, wie man das möchte.

War die Compilation zum Buch von vornherein mit eingeplant?
Nein, der Verlag ist auf mich zugekommen, weil ich eine Playlist bei Spotify erstellt hatte und die offenbar gut ankam. Ich konnte für „Revenge Of The She-Punks“, die Platte, zwar nicht alle Songs verwenden, die ich verwenden wollte. „Upside Down“ von Sandra Isidore zum Beispiel wäre mit einer Spieldauer von 15 Minuten zu unhandlich gewesen. Insgesamt war die Zusammenstellung aber ein großes Vergnügen.

Du hast die Punk-Bewegung selbst miterlebt. Was war das Ungewöhnliche daran?
The Clash zum Beispiel waren toll, außerdem meine Nachbarn und Freunde. Aber im Grunde waren auch sie nur eine weitere Band in den Fußstapfen der Beatles und der Rolling Stones. Was Punk als Bewegung für mich einzigartig machte, war die weibliche Komponente. Zum ersten Mal öffnete sich eine Tür, und die Frauen sind durchgestürmt, um sich auf vielfältigste Weise auszudrücken. Plötzlich schienen die Möglichkeiten endlos zu sein.

Ende der 80er gab es dann aber einen Rückschlag.
Man konnte förmlich hören, wie die Musikindustrie aufseufzte. Als wären starke Frauen im Punkrock oder überhaupt in der Musik nur eine Modeerscheinung gewesen. In den 90ern kamen dann die Riot Grrls. Das war auch aufregend, aber es gab keine Brücke zwischen den beiden Bewegungen – außer vielleicht in Form von Tobi Vail, die bekanntlich Kurt Cobain mit den Raincoats vertraut gemacht hat.

Was erwartet einen auf der Platte zu Revenge Of The She-Punks?
Zunächst einmal eine atemberaubende Vielfalt. Man kann sich die Platte so vorstellen wie einen einzigen großen revolutionären Choral von Frauen. Eine Stimme, die aus so vielen verschiedenen Kehlen kommt, und die kraftvoll, markant und originell ist. Und politisch, wie ich jetzt wieder merke, wenn ich mir die Tracklist ansehe. Es ist die Musik von Aktivistinnen.

Wo du die Vielfalt erwähnst: Nicht alle Songs klingen nach Rock, geschweige denn nach Punkrock.
Ich wollte eine Bandbreite von Stimmen aus unterschiedlichen Kulturen abbilden und habe deshalb auch den Punk-Begriff musikalisch eher weit gefasst. So kam es, dass „The Boiler“ auf der Compilation enthalten ist, der schockierende Ska-Song von Rhoda With The Special AKA über eine Vergewaltigung, aber auch Blondie mit „Rip It To Shreds“. Es gibt Tanya Stephens, die womöglich unverblümteste Person in ganz Jamaika. Die Au-Pairs, deren Sängerin heute Anwältin im Migrationsrecht ist. Es gibt Poly Styrene von X-Ray Spex als erste schwarze Punkerin, die ihren Song schon „Identity“ nannte, bevor das an den Universitäten zum Thema wurde. Es gibt „Babylonian Gorgon“ von The Bags, in dem es darum geht, das eine Prozent der Menschheit zu stoppen, die den Rest von uns davon abhalten, ein erfülltes Leben führen zu können. Und es gibt Grace Jones. Niemand ist mehr Punk als Grace Jones. Sie hat ihre eigenen Regeln aufgestellt. Das alles sind Beispiele, wie die She-Punks die Mächte angreifen, die Frauen klein halten wollen. Und Männer übrigens auch. Da bin ich keine Separatistin, denn ich sehe den Kampf um die Freiheit als eine gemeinschaftliche Aufgabe an.

Was soll eine 15-Jährige von dieser Platte mitnehmen, die vielleicht eher Billie Eilish oder Beyoncé hört?
Nichts gegen Beyoncé. Beyoncé ist für mich aktuell vielleicht die größte politische Künstlerin. Sie gibt nicht mal Interviews, aber man muss sich nur mal den Einfluss ansehen, den sie auf Jugendliche ausübt. Meinen Studierenden hier in Jamaika zum Beispiel gibt sie viel Energie und Hoffnung. Sie legt ihre ganze Botschaft in ihre Musik und in ihre Optik, und sie hat wahrscheinlich einen Grund, weshalb sie dabei so geheimnisvoll bleibt. Für mich beweist sie übrigens auch: Nicht jeder, der erfolgreich ist, ist nutzlos.

Das heißt, du glaubst auch, dass Beyoncé im Bilde über ihre Vorgängerinnen ist?
Auf jeden Fall. Erinnerst du dich an ihr Punk-Alter-Ego Sasha Fierce? Das hatte eindeutig einen Effekt, auch auf Künstlerinnen wie Nicki Minaj. Ganz allgemein sehen wir heute viel weniger Rigidität, auch was Körperformen angeht. Kaum jemand redet darüber, dass Lizzo nicht gerade dünn ist. Das war früher anders. Nichts gegen die brillante Joni Mitchell, aber sie sah eben auch so aus, wie man in den 60ern auszusehen hatte. Cass Elliot von The Mamas And The Papas dagegen profitierte noch nicht vom Feminismus. Janis Joplin hat ebenfalls darunter gelitten, dass die patriarchale Struktur nur eine sehr enge Auffassung davon zuließ, was als sexy gilt. Dabei kann man auf so viele Arten sexy sein.

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