Als der 24-jährige Robb Flynn 1991 Machine Head im kalifornischen Oakland gründet, hat er schon sieben Jahre lang Lehrgeld in der umtriebigen Metal-Szene der Bay Area um San Francisco gezahlt. Als Gitarrist spielte er 1985 und 1986 drei Demos mit Forbidden Evil ein, ehe diese das “Evil” in ihrem Namen streichen und bis 1990 zwei heute als Thrash-Klassiker geltende Alben aufnehmen. Bei Vio-Lence beteiligt er sich an den Alben “Eternal Nightmare” (1988), “Oppressing The Masses” (1990) und “Nothing To Gain” (1993, bereits 1990 aufgenommen), doch die Unterordnung in ein Bandgefüge scheint ihm von jeher schwerzufallen.
“Ich gründete Machine Head zunächst als Nebenprojekt, weil ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen und ein Bandleader sein wollte. Adam Duce, der den Bass übernahm, und Gitarrist Logan Mader waren Mitbewohner und Freunde von mir, die noch nie live mit einer Band gespielt hatten. Wir verstanden uns aber hervorragend, was reichte, um mit ihnen loszulegen.” Gemeinsam mit Schlagzeuger Tony Constanza entstehen Demoaufnahmen, bevor er durch Chris Kontos ersetzt wird, der zuvor bei den lokalen Hardcore-Bands Grinch und Attitude Adjustment gespielt hat.
Von Null auf Durchbruch
Hardcore ist seinerzeit neben Rap und Industrial der Marke Godflesh und Ministry (bei denen sich Flynn 1992 übrigens vergeblich als Live-Gitarrist bewirbt) die Lieblingsmusik des frischgebackenen Frontmanns, obwohl die Gründung von Machine Head von Metallica inspiriert wird, die Flynn und Duce am 12. Oktober 1991 beim Festival A Day On The Green im Oakland-Alameda County Coliseum tief beeindrucken. Dennoch sind die beiden auch vom musikalischen Vermächtnis ihrer Heimatregion geprägt. “Ich kannte die Hippie-Szene, Sachen wie The Grateful Dead, Santana oder Jefferson Airplane, und eine meiner früheren Freundinnen war ein Deadhead. Ich begleitete sie zu Konzerten und konnte zwar nichts mit der Musik anfangen, weil sie so soft war, doch die Atmosphäre gefiel mir. Eine Show zur chinesischen Neujahrsfeier ist mir besonders in Erinnerung geblieben, weil alle auf Acid waren und vögelten, während ein Drache durchs Publikum lief und die Band wie verrückt jammte. Das hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, und ich wusste schon damals, dass Machine Head nie Single-Hits landen oder im Radio laufen würden. Darum war mir klar, dass wir auf andere Weise von uns reden machen mussten.”
Damit meint Flynn unentwegtes Touren und behauptet, die Gruppe sei in all den Jahren immer mindestens 20 Monate lang unterwegs gewesen, wobei sie bis heute allein in Nordamerika ungefähr 1.800 Konzerte gegeben habe. Ihr allererstes findet weniger als ein Jahr nach ihrer Gründung am 15. August 1992 statt. Ihrem Kumpel Mike Scum wird der Mietvertrag gekündigt, also wird das Haus im Rahmen einer wilden Party buchstäblich auseinandergenommen, sodass die Polizei aufkreuzt. Hier stellen sie die Weichen für die von Destruktivität und Exzessen geprägte Frühphase der Band, die ihren ersten drei Songs “Death Church”, “Blood For Blood” und “Fuck It All” (der einzige, der nicht auf dem Debütalbum landen wird) rasch weitere folgen lässt. Flynn: “Ich habe nicht fürs Radio oder MTV geschrieben und tue das immer noch nicht. Auch nicht für die Spotify Top-50 noch Youtube oder den Instagram-Algorithmus. Ich schreibe nur für mich und Menschen, die Musik wie unsere in ihrem Leben brauchen.”
Als Joey Huston ihr Manager wird und Roadrunner Records ein Demo-Tape zukommen lässt, erhalten Machine Head prompt ein Vertragsangebot von dem Label, das den Metal-Zeitgeist der frühen 90er mit Gruppen wie Fear Factory, Sepultura, Life Of Agony, Biohazard, Obituary und Type O Negative stark prägt. Gemeinsam mit dem britischen Produzenten Colin Richardson (u.a. Carcass) spielt die Band in den Fantasy Studios in Berkeley ihren Album-Einstand “Burn My Eyes” ein. “Wir wollten so heavy, intensiv, angepisst, experimentell und wild wie möglich klingen”, sagt Flynn heute über die elf Songs, die der althergebrachten Thrash-Formel mit viel Groove, Sprechgesang und durchgängigem Realitätsbezug ein Update verpassen. “Bis dahin gab es eine Menge Fantasy-Kram im Metal, womit ich nichts anfangen konnte.”
Stattdessen schreibt er über die LA Riots von 1992 (“Block”), Drogenabhängigkeit (“I’m Your God Now”) oder die in einer tödlichen Feuersbrunst endende Belagerung der Siedlung der Waco-Sekte in Texas durch das FBI 1993. Das entsprechende Stück “Davidian” wird mit seiner Schlüsselzeile “Let freedom ring with a shotgun blast” zu einer der Szenehymnen jener Zeit. “Burn My Eyes” erweist sich nach seiner Veröffentlichung Anfang August 1994 als Roadrunners bis dato bestverkauftes Banddebüt (1999 übertroffen von Slipknots Debüt), eine Tournee im Vorprogramm von Slayer macht Machine Head in Europa zum Newcomer schlechthin, während ihre Shows in den Staaten bis auf weiteres nur spärlich besucht sind.
Das Gleiche, bloß anders
Bis 1996 ist die Band jeweils für sieben bis acht Wochen auf Achse und gönnt sich dann eine 14-tägige Auszeit. “Die Tour wollte nicht aufhören, und als es endlich so weit war, fingen wir gleich mit dem Songwriting fürs nächste Album an.” Flynn sieht sich nicht nur in kreativer Hinsicht unter Druck gesetzt, sondern hadert auch mit dem plötzlichen Erfolg. “Wir verkauften auf Anhieb eine halbe Million Platten, ich moderierte ‘MTV Headbangers Ball’ und kam mir vor wie unterm Mikroskop, als würde mich die ganze Welt beobachten.” Im Zuge des hohen Arbeitspensums der Band bekommt Chris Kontos gesundheitliche Probleme und muss den seine Position nach mehreren krankheitsbedingten Absagen zwangsweise für Dave McClain räumen, der dafür die zu jener Zeit schwächelnden Arizona-Thrasher Sacred Reich verlässt. Das zweite Album “The More Things Change…” wird ebenfalls von Colin Richardson produziert und mit einiger Verzögerung (McClain verletzt sich, Aufnahmespuren verschwinden auf mysteriöse Weise, Equipment wird gestohlen) im März 1997 veröffentlicht. Dass die Platte mit der heißen Nadel gestrickt ist, hört man ihr nicht an, sie ist im Gegenteil objektiv betrachtet stärker und abwechslungsreicher als das Debüt, machen Machine Head in den USA erstmals zu einem Chart-Thema und enthält mit dem prägnanten “Ten Ton Hammer” mindestens einen weiteren künftigen Signature-Track der Band.
Während der anschließenden Welttour steht erstmals auch das prestigeträchtige Ozzfest auf dem Programm, doch durchs personelle Gefüge ziehen sich weitere Risse: Gitarrist Logan Mader verabschiedet sich schließlich nach einem Streit im Drogenrausch, an seine Stelle tritt das weitgehend unbeschriebene Blatt Ahrue Luster. Auf ihn und den Produzenten Ross Robinson (Korn, Limp Bizkit – McClain spielte mit ihm bei Murdercar) führen Kritiker das Mehr an Raps und die vordergründig melodischen Momenten auf “The Burning Red” (1999) zurück, doch Flynn lässt nichts an sein drittes Album kommen: “Ich verbinde nur positive Erinnerungen damit, obwohl ich damals eine schwere Zeit durchmachte. Von allen unseren Platten kann ich mir diese am wenigsten anhören, weil sie für mich sehr persönlich und schmerzhaft war. Ich habe darauf eine Menge Scheiße verarbeitet.” Dies geschieht im Rahmen einer Therapie, die ihn zu einer Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und der Drogensucht zwingt. Flynn kennt seine leiblichen Eltern nicht, wurde mit fünf Jahren von einem Nachbarn seiner Adoptivfamilie sexuell missbraucht, setzt sich noch vor “Burn My Eyes” eine beinahe tödliche Dosis Heroin und leidet eine Zeitlang unter einer Essstörung.

»Ich habe nicht fürs Radio oder FÜR MTV geschrieben. Ich schreibe nur für mich und Menschen, die Musik wie unsere in ihrem Leben brauchen.«
Robb Flynn
Trotz allem wird die LP zum zweitgrößten Bestseller der Band nach ihrem Debüt und enthält mehrere Songs, die Flynn zufolge Favoriten insbesondere US-amerikanischer Fans geworden sind. Während Europa hingegen kein gutes Haar an dem Album lässt, was umso mehr gilt für den 2001er Nachfolger “Supercharger” (Produktion: Johnny K, der auch mit Disturbed und 3 Doors Down arbeitet), der sich als kommerzieller Flop herausstellt und Machine Head ihren Plattenvertrag in Nordamerika kostet. Den Nu-Metal-kompatiblen Look, mit dem die Musiker ihre Hörerschaft vor den Kopf stoßen, relativiert der Frontmann heute mit dem Argument, das sei damals eben der Modetrend gewesen, genauso wie die HipHop-Ghetto-Ästhetik des “Davidian”-Videos zuvor dem Geist der frühen 90er entsprochen habe. “Außerdem sind die Songs dieses Albums immer Highlights bei unseren Shows. Gerade bei ‘Bulldozer’ rasten die Leute aus, das ist mittlerweile ein Klassiker von uns, genauso wie der Titeltrack und ‘Crashing Around You’. Wenn man eine Platte nur daran misst, wie die Fans sie zur Zeit ihrer Veröffentlichung bewerten, gibt das einen leicht verzerrten Eindruck wieder, denn Musik hat einen Schmetterlingseffekt; im jeweiligen Moment finden Songs vielleicht keinen Anklang, aber fünf oder zehn Jahre später können die Leute plötzlich etwas damit anfangen. Außerdem durchlaufen Bands Hoch- und Tiefphasen, gelten als uncool und sind dann doch wieder schwer angesagt. Das war eben unsere uncoole Zeit.”
Erschwerend hinzu kommt, dass “Supercharger” weniger als einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erscheint. “Wir sind nur ein paar Tage Tage später zu unserer nächsten Tour aufgebrochen, die uns durch alle möglichen Kleinstädte führte, von Fargo in North Dakota über Green Bay in Wisconsin zurück nach Fresno in Kalifornien. Ich werde die Stimmung bei den Shows nie vergessen, den Ausdruck in den Gesichtern der Fans, die zu erwarten schienen, dass wir ihnen Zuversicht geben. Ich selbst zweifelte an mir und fragte mich, was wir da überhaupt machen. Nach einer Weile wurde mir wieder bewusst, dass es um Musik ging – damit gaben wir den Leuten Zuversicht.” Das Video zu “Crashing Around You” wird wegen des Songtitels nirgendwo ausgestrahlt, doch live nutzt Flynn den Song, um die Fans direkt anzusprechen und zu ermutigen. Machine Head sind dann auch eine der wenigen US-Bands, die ihre geplante Europatournee nicht absagen. “Wir dachten, dass die Menschen genau das brauchten, und die Shows waren der Hammer. Darum blicke ich gerne auf diese Zeit zurück, auch wenn sie krass war und trotz der schlechten Resonanzen auf die Platte. Unseren Auftritt in New York im Januar 2002 werde ich in diesem Zusammenhang auch nie vergessen.”
Phönix aus der Asche
So gerne sich Flynn diese Phase heute schönredet: 2002 stehen Machine Head an einem Scheideweg. Da ein neuer Plattenvertrag in Nordamerika nach wie vor auf sich warten lässt und Ahrue Luster wegen der berühmten kreativen Differenzen aussteigt, bleibt nur noch die Flucht nach vorne, die in diesem Fall einen Schritt zurück bedeutet. Die Band schreibt als Trio neues Material, erhält aber Dutzende Label-Absagen und produziert ihr fünftes Album “Through The Ashes Of Empires” selbst, weil Colin Richardson verhindert ist und nur den Mix sowie das Mastering übernehmen kann. Dass der Brite ihr neuerlicher Wunschproduzent ist, kommt nicht von ungefähr, denn musikalisch geht es back to the roots. Die Veröffentlichung im Oktober 2003 in Europa und Australien wird ein solcher Erfolg, dass Roadrunner US der Gruppe rasch einen neuen Deal anbieten und die Veröffentlichung in Nordamerika für April 2004 ansetzen. “Wir glaubten hundertprozentig an die Songs, wohingegen die Öffentlichkeit nach den beiden vorigen Alben an uns zweifelte, doch als die Platte herauskam, explodierte sie förmlich. Wir erhielten verdammt gute Festival-Slots in Europa und gingen ganze drei Mal als Headliner auf US-Tour.” Der Videomitschnitt eines Auftritts in der Brixton Academy London im Dezember 2004 wird knapp ein Jahr später unter dem Titel “Elegies” auf DVD veröffentlicht.
Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ist Livegitarrist Phil Demmel, mit dem Flynn einst bei Vio-lence spielte, zu einem vollwertigen Bandmitglied aufgestiegen. Mit ihm tritt die Gruppe in ihre goldene Ära ein, wenn man so will; in seinen Grundzügen zeigt “Through The Ashes Of Empires” sie so, wie man sie heute kennt – mit vielen traditionellen Metal-Elementen, druckvoll modernem Hochglanzsound (die Produktion liegt abermals in den Händen der Band), bestechenden Bühnenqualitäten und episch angelegten Songs wie “Imperium”, dessen Videoclip im langsam aussterbenden Musikfernsehen zu einem Dauerbrenner wird. Roadrunners wiedergefundene Begeisterung geht so weit, dass der Bandleader zu einem von vier “Teamkapitänen” auserkoren wird, um die Arbeit an dem Projektalbum “Roadrunner United: The All-Star Sessions” zum 25-jährigen Jubiläum des Labels zu koordinieren. Unterdessen haben Machine Head schon zwei Dutzend neuer Ideen gesichtet, die schließlich zu acht größtenteils überlangen Songs kondensiert werden, was mit Flynns und McClains neuerlicher Beschäftigung mit den Frühwerken der kanadischen Progrock-Ikonen Rush zusammenhängt.
Von der Gruppe selbst gezogene Vergleiche zwischen “The Blackening” (2007) und Metallicas “Master Of Puppets” sind nicht völlig abwegig, denn beide Alben behandeln große Themen von Krieg (“Clenching The Fists Of Dissent”, “A Farewell To Arms”) über Liebe (“Now I Lay Thee Down”) bis zu Religionskritik (“Halo”) und enthalten ausladende, technisch anspruchsvolle Kompositionen, in denen ein einprägsames Riff das nächste jagt. Auch das an einen Kupferstich angelehnte Artwork unterstreicht das klassische Flair der Platte, die dann auch zahlreiche Lorbeeren wie “Album des Jahres” oder gar “Album des Jahrzehnts” erntet und in den internationalen Charts so gut abschneidet wie kein anderes der Band. Überdies werden Machine Head mit der Single “Aesthetics Of Hate” für einen Grammy in der Kategorie “Best Metal Performance” nominiert, den aber letzten Endes Slayers “Final Six” (von “Christ Illusion”, 2006) gewinnt. Im Songtext verleiht Flynn seinem Verdruss über einen Webkommentar Ausdruck, dessen Verfasser die Ermordung des ehemaligen Pantera-Gitarristen Dimebag Darrell während eines Konzerts seiner damaligen Band Damageplan im Dezember 2004 glorifiziert.
“Wir waren drei Jahre und drei Monate lang für ‘The Blackening’ auf Tour, unter anderem mit Metallica und Slipknot”, so Flynn kopfschüttelnd. “Zudem gab es eine Reihe von Festivalauftritten in hohen Positionen und einen Headliner-Slot beim Wacken Open Air 2009. Ich könnte mich jetzt hinstellen und behaupten, wir hätten das vorhergesehen, doch das haben wir nicht. Man weiß im Vorfeld nie, wie neue Musik bei den Leuten ankommt, weil sie eben sehr launisch sind. In diesem Fall standen die Sterne wohl einfach günstig – alles passte zusammen, was umso erstaunlicher ist, weil vier der acht Stücke auf dem Album neun bis zehn Minuten lang sind.” Die Komplexität der Tracks ist zu Beginn der Arbeiten an “The Blackening” nicht abzusehen. Die kompakteren Songs sind die ersten, die das Quartett fertigstellt, ehe es kein Halten mehr gibt. “Wir reden hier von 2006. Damals hatten wir keine Uhren in unserem Backstage- oder Proberaum, und da es noch keine iPhones gab, konnte man nicht ständig nachschauen, wie spät es war. Wir schrieben also munter drauflos und jammten, bis wir eines Tages feststellten: Scheiße, das ist lang! Zuerst befürchteten wir, die Fans könnten nicht bereit dafür sein, doch dann war es uns egal, weil sich die Songs einfach gut anfühlten.”
Zeiten des Umbruchs
Die kräftezehrende Tour-Odyssee hinterlässt unweigerlich ihre Spuren, weshalb das siebte Album “Unto The Locust” (2011, mit 48 Minuten ihr kürzestes) laut Robb unter erschwerten Bedingungen entsteht. “Wenn du so lange mit denselben Gesichtern in einem engen Bus haust, fängst du irgendwann an, den Verstand zu verlieren. Wir brauchten danach eigentlich eine ausgedehnte Pause, doch mich juckte es schon nach einem Monat wieder in den Fingern. Ich wollte zwar nicht mit der Band proben, aber die Ideen sind mir förmlich zugeflogen, also sammelte ich zunächst, wobei mir klar war, dass ich kein zweites ‘The Blackening’ machen wollte.” Die Gitarrenparts der neuen Songs gehören zu den anspruchsvollsten, die der Bandkopf je geschrieben hat, was live besonders offensichtlich wird, vor allem wenn Machine Head das Album später im Rahmen ihrer “Electric Happy Hour”-Online-Streams in Gänze performen.
“‘Unto The Locust’ ist ein hervorragendes Workout”, sagt Flynn und lacht. “Am wichtigsten finde ich, dass die Tracks völlig zeitlos sind – besonders ‘Darkness Within’, weil ich mich darin so weit öffne wie nie zuvor. Der Text handelt von meinem Burnout nach der vorangegangenen Tour. Ich wurde depressiv und machte mir Sorgen um meine beiden kleinen Söhne, nachdem der zweite zu Beginn des Promo-Zyklus für ‘The Blackening’ zur Welt gekommen war. Über lange Phasen hinweg von zu Hause fort zu sein, weil mein Job das einfach mit sich bringt, und nicht miterleben zu können, wie sie groß wurden, machte mich unglücklich. Diese Ballade entwickelte im Laufe der nächsten Tournee eine Eigendynamik und gehört definitiv zu den Schlüsselsongs unserer Karriere.”
Der Gedanke, die Dauer der Konzertreisen langfristig einzuschränken, kommt erstmals auf, doch eine konsequente Umsetzung liegt noch in weiter Ferne. Für die engen Vertrauten der Band ist es deshalb keine Überraschung, dass sie sich Anfang 2013 von ihrem Bassisten und Mitbegründer Adam Duce trennt, der schon lange unzufrieden gewesen sei. Sein Abschiedsrelease ist somit das 2012er Doppel-Livealbum “Machine F**king Head Live”. Was Flynn in seinem mittlerweile nicht mehr einsehbaren Onlinetagebuch “The General Journals” (“General” ist seit jeher sein Spitzname) über den Rauswurf des Bassisten schreibt, ist sehr aufschlussreich in Hinblick auf die damalige Situation und die relativ bodenständige Attitüde, mit der es Machine Head so weit gebracht haben. “Für jemanden wie Adam gibt es nur alles oder nichts, überwältigende Erfolge oder vernichtende Niederlagen, nichts dazwischen. Und obwohl das für eine Fernsehserie, ein markiges Interview-Zitat oder einen John-Wayne-Film Sinn ergibt, der nach 90 Minuten zu Ende ist, funktioniert das Leben einfach nicht so, schon gar nicht für eine Band wie Machine Head, die in der oberen Mittelklasse spielt. Wir kennen weder überwältigende Erfolge, nur Achtungserfolge, noch vernichtende Niederlagen, sondern sagen uns: ‘Beim nächsten Mal haben wir mehr Glück.’ Wir haben uns eine eigene Nische geschaffen, in der uns niemand etwas vormacht, aber es ist eben eine Nische, und er hatte es satt, nie richtig groß herauszukommen.”
Zusammen mit Duces Nachfolger Jared MacEachern, der zuvor in erster Linie bei der Underground-Band Sanctity spielte, nimmt das verbleibende Trio die LP “Bloodstone & Diamonds” in Angriff, die 2014 Machine Heads erste Veröffentlichung bei dem deutschen Branchenriesen Nuclear Blast wird. “Du musst dich von der Musik tragen lassen, wohin sie will”, bemerkt Flynn bezüglich der Zwanglosigkeit, mit der man komponiert habe, und führt The Cure als Vorbilder an, wenn es darum geht, sich mit keinem Album zu wiederholen. Tatsächlich lehnen sich die Amerikaner so weit aus dem Fenster wie lange nicht, wenn sie mit den Keyboardern Rhys Fulber (Front Line Assembly) und Jordan Fish (Bring Me The Horizon) zusammenarbeiten, die auch Streicher-Arrangements für mehrere Stücke schreiben. Politische und gesellschaftskritische Texte dominieren die nunmehr vertraute Mischung aus Longtracks und kürzeren Songs, die der Band ihren zu Hause bis heute höchsten Chart-Einstieg (Platz 21 in den Billboard 200) bescheren. Flynn: “Es ist ein sehr dringliches Album und wirklich heavy mit einer düster bedrohlichen Stimmung, aber auch eher rockigen Momenten. Dass es manchmal reduzierter klingt, gefällt mir besonders. Die Demos strahlten eine Unmittelbarkeit aus, die sich auf die finalen Aufnahmen übertragen hat, wobei wir zügig und spontan vorgegangen sind.”
Neue Leichtigkeit?
Ohne außerordentliche Auftritte mitzurechnen, dauert allein die nächste Headliner-Tour vier Monate, unterbrochen lediglich von einer sechswöchigen Pause über Neujahr 2014/15. Letzten Endes liegen fast vier Jahre zwischen “Bloodstone & Diamonds” und dem nächsten Werk “Catharsis”, das Anfang 2018 erscheint. Der Wille, niemandem mehr etwas zu beweisen und unberechenbar zu bleiben, lässt Flynn alte Fäden aufgreifen, was bedeutet, dass er sich wieder in die gefürchtete Nu-Metal-Grauzone begibt. Zwar werden alle Bandmitglieder in den Songwriting-Credits aufgeführt, doch als Ende des Jahres sowohl Demmel als auch McClain aussteigen, heißt es von ihrer Seite aus, es handle sich im Grunde um ein Soloalbum des Frontmanns, der “Catharsis” im Nachhinein naturgemäß verteidigt: “15 Songs und 75 Minuten Spielzeit waren viel zu verdauen. Ich weiß noch, wie ich im Oktober 2017 auf Pressetour in Europa gemeint habe, ein so langes Album herauszubringen sei eine fürchterliche Idee, weil die Menschen heute eine kurze Aufmerksamkeitsspanne haben. Wir standen aber zu unserer Entscheidung. Die Platte enthält einige fantastische Tracks, die übersehen wurden, und dass gewisse Personen – darunter auch ehemalige Mitglieder – versucht haben, sie schlechtzureden, ist kein Geheimnis. Mit dem Titelstück und ‘Beyond The Pale’ enthält sie auch zwei echte Live-Kracher.”
Das Album spaltet die Gemüter bis heute, wenn auch nicht im gleichen Maße wie “Supercharger”, und um die Zeit bis zur Neujustierung des Bandgefüges zu überbrücken, kommt das 25-jährige Jubiläum von “Burn My Eyes” sehr gelegen: Die verbliebenen Musiker nehmen das Debüt zu diesem Anlass noch einmal mit den damaligen Mitgliedern Logan Mader und Chris Kontos live in den Sharkbite Studios Oakland auf und veröffentlichen die Session digital beziehungsweise als auf 2.500 Exemplare limitiertes Doppel-Vinyl.
Diese Reunion, die bis zu Beginn der Pandemie auch mit einer Tour gefeiert wird, ist jedoch zu keiner Zeit als dauerhaft vorgesehen, denn schon im Herbst 2019 stellen Machine Head den Polen Wacław “Vogg” Kiełtyka (Decapitated) und den Briten Matt Alston (Devilment) als neuen Gitarristen und Schlagzeuger vor. Die nun zu einem internationalen Projekt gewordene Band bringt zum Totschlagen des Leerlaufs während der Lockdown-Phasen mehrere Digitalsingles über ihr eigenes Nuclear-Blast-Sublabel Imperium Recordings heraus, dessen Name fortan alle Veröffentlichungen der Band zieren soll. Als Schlagzeuger helfen Carlos Cruz (Warbringer) und Navene Koperweiss (ex-Animals As Leaders) aus. Ebenfalls der notgedrungenen Tatenlosigkeit geschuldet ist das Streaming-Format “Acoustic Happy Hour”, das nach anfänglichen Solo-Performances von Flynn abendfüllende Bandkonzerte mit außergewöhnlichen Setlists (etwa ganze Alben am Stück) bietet.
Die Single “My Hands Are Empty” und die EP “Arrows In Words From The Sky” fungieren als Vorgeschmack auf das zehnte Album “Øf Kingdøm And Crøwn” (2022), an dessen Aufnahmen Kiełtyka und Alston aufgrund der andauernden Reisebeschränkungen nicht teilnehmen können, weshalb Flynn alle Gitarrenspuren selbst einspielt und Koperweiss erneut am Schlagzeug aushilft. Die Songs sind zwar bis auf den zehnminütigen Opener “Slaughter The Martyr” durchschnittlich lang, aber an ein von der Anime-Serie “Attack On Titan” inspiriertes Science-Fiction-Narrativ gebunden und demnach keine leichte Geburt. Den überwiegend begeisterten Kritiken folgt eine beispiellose Tour, beginnend im August 2022 mit dem Bloodstock Open Air in England. Fünf Shows in Schottland dienen anschließend zum Warmlaufen für Europakonzerte als Co-Headliner neben Amon Amarth und 39 “Electric Happy Hour”-Auftritte in den USA, wobei Kiełtyka von Reece Scruggs (Havok) vertreten wird.
18 weitere angekündigte US-Shows werden Anfang 2023 aufgrund von Komplikationen mit den Arbeitsvisa der europäischen Bandmitglieder ersatzlos gestrichen. Nach einem relativ entspannten Sommer mit wenigen Festivals und ein paar Südamerikakonzerten startet im Januar die “Slaughter The Martour”, in deren Verlauf Kiełtyka seinen Ausstieg bekanntgibt, um sich auf Decapitated zu konzentrieren. Reece Scruggs steigt zum offiziellen Mitglied auf. Während der Arbeit an ihrer nächsten LP kündigen Machine Head für Frühling 2025 eine gemeinsame Nordamerikatour mit In Flames, Lacuna Coil und Unearth an, zu deren Anlass der Song “These Scars Won’t Define Us” mit Gesangsbeiträgen von allen drei Support-Acts veröffentlicht wird.
Der Track ist auch auf dem neuen Album “Unatøned”, für dessen Produktion abermals Flynn verantwortlich ist, während Colin Richardson wieder als Mixer fungiert. Die Band existiert längst in ihrem eigenen Kosmos und ist einschließlich ihres eigenen Shotgun Blast Whiskeys zu einer Metal-Marke geworden. Als solche ist sie zwar noch nicht in die allgemeine Popkultur eingegangen wie Metallica oder Motörhead, doch ihr Anführer hätte gute Gründe, den Rockstar zu mimen, und tut es trotzdem nicht, obwohl er den Wert seines Lebenswerks kennt. “Dass es uns immer noch gibt, hat sicher mit meiner Hartnäckigkeit zu tun, aber auch mit viel Glück. Es ist eine Mischung aus beidem. Und wenn ich höre, dass wir jüngere Acts beeinflussen, müssen wir auch irgendetwas richtig gemacht haben, denn immer wieder kommt jemand auf uns zu und gibt Dinge wie ‘Mensch, wenn es diese Platte nicht gäbe, gäbe es uns nicht’ von sich, etwa die Jungs von Gojira. Das ist super, auch wenn ich es mir nicht zu Kopf steigen lassen will. Generell möchte ich mir nicht zu viele Gedanken über die Band machen und würde auch gar nicht so ausführlich über sie reden, wenn ich keine Interviews geben müsste. Ich halte das alles nicht für selbstverständlich, sondern weiß es wirklich zu schätzen.”

»Ich muss einen persönlichen Zugang zu den Texten haben, doch es muss darin nicht zwangsläufig um mich gehen.«
Robb Flynn