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Etwas fehlt! - VISIONS-Reportage zu Publikumsmangel bei Konzerten und Festivals

Etwas fehlt! – VISIONS-Reportage zu Publikumsmangel bei Konzerten und Festivals
Endlich wieder Konzerte! Nach zwei Jahren Zwangspause blüht das Live-Geschäft in den vergangenen Monaten langsam wieder auf, macht sich auf den Weg zurück zur Normalität von Anfang 2020. Zu Erleichterung und Freude gesellt sich aber vielerorts schnell Ratlosigkeit: Die Bands stehen bereit, das Publikum (noch) nicht. Was sind die Gründe für den derzeit immer wieder zu beobachtenden Publikumsmangel bei Konzerten und Festivals? Autor Stephan Kreher hat für unsere Ausgabe VISIONS 353 mit Veranstaltern, Psychologen und Fans gesprochen. Eine Reportage über Geld, Gesundheit, Gewohnheiten – und darüber, wie es mit der gebeutelten Veranstaltungsbranche weitergehen könnte.
Getty Images

Da ist sie jetzt also wieder, die von vielen so sehnlich herbeigewünschte Konzert-Normalität. Die Rückkehr von Live-Veranstaltungen wie vor Corona erreicht am Pfingstwochenende den ersten Höhepunkt: Rock am Ring stellt mit 90.000 Gästen am Nürburgring einen persönlichen Rekord auf. Rammstein spielen zwei ausverkaufte Shows im Berliner Olympiastadion, Die Ärzte vor großem Publikum in Köln und Hannover. Und das zeitgleich stattfindende Orange Blossom Special (OBS), das sonst immer innerhalb von Stunden ausverkauft war? Sendet kurz vor dem Wochenende einen Hilferuf an die Fans und bietet zum ersten Mal Tickets an der Abendkasse an.

Das Festival im nordrhein-westfälischen Beverungen steht exemplarisch für die Erfahrungen, die viele Veranstalter:innen in ganz Deutschland und über Genregrenzen hinweg derzeit machen. „Nach zwei Jahren, in denen viele Menschen auf Live-Musik verzichten mussten und sie ihnen offensichtlich sehr gefehlt hat, ist nun, da es wieder Veranstaltungen ohne große pandemische Einschränkungen gibt, die Zurückhaltung groß“ sagt Rembert Stiewe, der Veranstalter des OBS. Zwar sei das erste Festival seit 2019 für ihn und die Fans eine emotionale Erfahrung gewesen. Dennoch: „Bei 80 Prozent verkauften Tickets haben wir zwar kein Geld verloren, aber nach über zwei Jahren Pause wäre es auch schön, mal wieder etwas zu verdienen.“

rembert stiewe
„Wir haben zwar kein Geld verloren, aber nach über zwei Jahren Pause wäre es schön, mal wieder etwas zu verdienen“ Rembert Stiewe, OBS.
(Credit: Lucja Romanowska)

Der gesamte Live-Sektor in Deutschland hat trotz des Wegfallens aller Corona-Maßnahmen mit großen Problemen zu kämpfen. Die Pandemie hat einen großen Mangel an Fachkräften hinterlassen, von spezialisierten Licht- und Tontechniker:innen über Caterer und Stagehands bis zu Tourbusfahrer:innen – viele von ihnen haben die Branche nach zwei Jahren ohne klare Job-Perspektive verlassen. Falls für eine geplante Tour doch pünktlich ein Fahrer bereitsteht, fallen nun deutlich höhere Kosten an, insbesondere aufgrund der stark gestiegenen Spritpreise. Anfang Mai sagte die US-Metalcore-Band August Burns Red ihre für Juni geplante Europatour ab – aus „finanziellen Gründen, einschließlich gestiegener Transportkosten“. Auch der kanadische Progrocker Devin Townsend streicht Shows wegen „Unsicherheit in der Welt, fehlenden Personals, steigender Produktionskosten von Diesel bis Transport und Visa“. Und Primus canceln ihre Europatour wegen „unvermeidbarer logistischer Herausforderungen“.

Wer trotz solcher Widrigkeiten auf Tour geht, steht nicht selten in spärlich gefüllten Hallen. Die Schweden Ghost, inzwischen zum Festival-Headliner gewachsen, spielen in Köln und München vor halbvollen Arenen. Die Show in Leipzig sagen sie gleich ganz ab – „aufgrund von Umständen außerhalb ihrer Kontrolle“. Auch macht Venues in Stuttgart und Münster nur halbvoll, sein Kollege Frank Turner muss ebenfalls einige Shows absagen, spielt andernorts aber wieder vor ausverkauftem Haus. Dabei sollten die vollen Hallen auch gestiegene Kosten auffangen. Doch das Publikum macht sich auffallend oft rar – obwohl es doch so lange auf die gewohnte Live-Erfahrung verzichten musste. In einer Umfrage unter VISIONS-Leser:innen (siehe unten) geben über 30 Prozent der Befragten an, weniger Konzerte zu besuchen als vor der Pandemie. „Publikumsschwund“ ist vielleicht das entscheidende Problem der Branche. Und ein ziemlich komplexes.

Umfrage 6

Angebot und Nachfrage

Dass das Publikum nun teilweise wegbleibt, fällt auch deshalb so auf, weil das Live-Geschäft in den Jahren vor der Pandemie einen Boom erlebte, vor allem bei den Festivals. Der war gewissermaßen nötig: In Zeiten, in denen Musiker:innen vor allem live ihren Lebensunterhalt verdienen, sind Festivals mit ihren festen Gagen eine willkommene Gelegenheit, etwas Geld in die Taschen zu spülen. Doch auch diese Gagen sinken bereits seit ein paar Jahren, schon vor 2020 verlor der sich 20 Jahre im Aufwind befindliche internationale Festivalmarkt etwas an Fahrt. Laut Stefan Reichmann vom nordrhein-westfälischen Haldern Pop Festival habe die Pandemie diese Entwicklung nun lediglich beschleunigt und offensichtlich gemacht. Auch bei seinem eigenen Festival, das erstmals seit 2002 nicht ausverkauft ist. „Nun müssen wir wieder plakatieren, werben und balzen.“

Umfrage 2

Die Gründe für das zurückgegangene Interesse an Festivals und Konzerten sind vielschichtig. „Es ist eine Gemengelage aus Überangebot, Inflation und Angst“, sagt Rainer G. Ott, der mit der Hamburger Indie-Institution Grand Hotel van Cleef sowohl Platten veröffentlicht als auch Konzerte veranstaltet. „Außerdem wurde den Leuten zwei Jahre lang gesagt, dass sie nicht auf Konzerte gehen sollen, weil da die Ansteckungsgefahr mit am größten ist. Das muss erst mal wieder neu gelernt werden.“ Wie Rembert Stiewe hatte auch Ott hat den Zuschauerschwund bei Veranstaltungen offen in einer Pressemitteilung angesprochen und eine Ticket-Lotterie ausgelobt, die die Kartenverkäufe seiner Bands ankurbeln sollte. Dass das aktuell offenbar nötig ist, hat laut Stiewe auch mit einer gewissen „Corona-Trägheit“ zu tun: „Man hat sich daran gewöhnt, zu Hause zu bleiben.“ Und wer nicht zu Hause bleibt, hat im Zweifel noch einen Stapel Tickets aus den Pandemie-Jahren übrig, den sie oder er erst mal „abarbeiten“ muss.

Umfrage 1

Nicht nur die mehrtägigen Festivals haben mit geringerem Absatz zu kämpfen, sondern auch die Konzerte. Insbesondere bei teils mehrfach verschobenen Shows ist die Nachfrage stark gesunken, in manchen Fällen gar fast zum Erliegen gekommen. Der Konzertagent und Autor Berthold Seliger sieht das Problem besonders im Independent-Bereich: „Kleinere Bands und alles, was sich in Clubs im Bereich 100 bis 300 Tickets abspielt, ist gerade katastrophal schwer. Da merkt man, dass es ein dramatisches Überangebot gibt.“ Besagtes Überangebot, entstanden vor allem durch die Masse verschobener und nun nachzuholender Shows, führt zu einem Phänomen, das die Betriebswirtschaftslehre das „Auswahlparadox“ nennt: Wer die Wahl hat, hat die Qual; zu viele Möglichkeiten behindern die Entscheidungsfindung. Hat man als Fan an einem Abend die Wahl zwischen zwei Konzerten, wählt man üblicherweise eines davon. Stehen aber, wie etwa in Berlin, Hamburg oder Köln oft der Fall, gleich fünf passende Konzerte zur Auswahl, entscheiden sich viele Menschen am Ende für keines.

Festivalstickets am Kühlschrank - Anna Merten
Verdammt viel zu tun: Über die Pandemie haben sich bei Fans die Tickets angestaut.(Credit: Anna Merten)

Konzerte, die nach wie vor gut verkaufen, sind meist Stadionshows von etablierten Stars, die auf eine lange Karriere zurückblicken, oder Künstler:innen mit einem akuten Hype, die vor allem die jüngere Zielgruppe ansprechen. Einfach zu durchschauen ist der Zuschauermangel für die Veranstalter:innen damit allerdings nicht. Zu viele Faktoren beeinflussen, ob Leute kommen oder wegbleiben: Genre, regionale Besonderheiten, die Demografie der Zielgruppe – von „Kaffeesatzlesen“ sprechen selbst Veranstaltungsprofis, wenn sie sich derzeit mit dem Problem befassen. Zumal das je nach Blickwinkel anders zu bewerten ist, wie auch Seliger sagt: „Es gibt nicht die eine Branche. Wenn CTS Eventim und Live Nation die Superstars auf Tour schicken, hat das mit dem, was in der Clubszene passiert, wenig zu tun. Aber dort findet ja die kulturelle Vielfalt statt.“ Und nicht nur das: Die „Kleinen“, die nicht auf komfortable Finanzpolster, Majorlabels und Backkataloge zählen können, sind auch besonders auf Live-Einnahmen angewiesen.

Die Sache mit dem Geld

Während zahlreiche Angehörige der Musikbranche das Geld der Fans gut brauchen könnten, haben die tendenziell selbst weniger davon zur Verfügung: Nach zwei Jahren der Pandemie und Folgen wie Kurzarbeit, Jobverlust oder auch nur der Angst davor sind Konzerte ein entbehrlicher Luxus – insbesondere, wenn die Tickets wegen steigender Produktionskosten teurer werden, während die Inflationsrate bei fast 8 Prozent liegt. Laut dem Eventpsychologen Steffen Ronft spielt in einer solchen Situation die „mentale Buchführung“ der Fans eine große Rolle beim Entschluss, ob sie Tickets kaufen oder eher davon absehen: Gedanklich gestehen sich Menschen ein bestimmtes Budget für Bereiche wie Verkehr, Lebensmittel und Freizeit zu. Ist dieses für die Woche oder den Monat erschöpft, zögern sie, im entsprechenden Bereich noch Geld auszugeben. Steigen die Kosten für das Lebensnotwendige, seien „Kultur- und Freizeitkonten leider die ersten, die gekappt werden“, so Ronft.

Umfrage 3

Hinzu kommt, dass während der Pandemie gekaufte Tickets gedanklich trotzdem wie frische Ausgaben auf dem Freizeitkonto „verbucht“ werden – auch wenn die Fans das Geld schon vor ein oder zwei Jahren bezahlt haben. „Wenn du zum Beispiel diesen Monat auf drei Konzerten warst – selbst wenn das bereits bezahlte Tickets von vor zwei Jahren waren –, wirst du diesen Monat für kein Konzert mehr Geld ausgeben“, schätzt Ronft. „Denn egal, woher die Tickets ursprünglich kamen, man denkt sich: ‚Diesen Monat habe ich schon genügend Konzerte, da nehme ich nicht noch mehr Geld aus dem mentalen Topf heraus.‘ Man will ja kein schlechtes Gewissen haben, dass man unverhältnismäßig agiert und Geld ausgibt, das nicht vorgesehen war.“ Wer den eigenen Kopf austricksen will, könne mit Kontrasten zu anderen Aktivitäten arbeiten, um sich selbst gegenüber weitere Ausgaben für Konzerte zu rechtfertigen. „Man kann ja sagen: ‚Andere Leute gehen mit dem Geld einmal ins Sterne-Restaurant essen, ich bekomme dafür ein ganzes Wochenende Festival! Gute Live-Musik, Zeltplatz und Dosenbier mit Freunden bringt mir doch mehr Freude als ein Abend bei Rotwein und Hummer.‘ Vor dem Hintergrund ist ein Festivalticket dann ja doch nicht mehr so teuer und die Ausgabe für mich auch psychologisch okay.“

Umfrage 5

Leidenschaftliche Fans wie VISIONS-Leserin Mira Langer setzen ihre Prioritäten ohnehin entsprechend. „Der Preis spielt für mich an sich keine große Rolle“, erzählt die 24-Jährige. „Ich bin zwar erwerbstätige Studentin, aber für Konzerte gebe ich gerne Geld aus, da sie mir persönlich sehr viel geben und an sich mein größtes Hobby sind.“ Dafür gibt man gerne sein Geld aus. Allerdings verblasst die Anzahl derer, die das tun, gegenüber der enormen Größe des Live-Sektors. Gestiegene Spritpreise spielen nicht nur für die Bands auf Tour eine Rolle, sondern auch fürs Publikum. Gerade in Gegenden mit eher schwachem Kon- zertaufkommen, wie etwa dem Süden Baden-Württembergs: „Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann ich leider keine Konzerte besuchen, da ich sonst nicht mehr nach Hause kommen würde“, sagt der 28-jährige Daniel Hör, der auf dem Land wohnt. Er sei zwar sogar häufiger als vor der Pandemie auf Shows, aber nur in einem bestimmten Umgebungsradius, um die Benzinkosten vertretbar zu halten. „Deshalb schaue ich schon, dass die Konzerte, auf die ich gehen will, maximal zwei Stunden entfernt sind.“

berthold seliger
„Kleinere Bands und alles, was sich in Clubs im Bereich 100 bis 300 Tickets abspielt, ist gerade katastrophal schwer.“ Berthold Seliger, Konzertagent (Credit: Matthias Reichelt)

Long Covid

Aber nicht nur finanzielle Fragen beeinflussen das Ticketkauf-Verhalten, auch die Pandemie wirft weiterhin einen langen Schatten. Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus ist auch Mitte 2022 noch ein legitimer Grund, auf Konzerte zu verzichten. Selbst Open Airs bieten keinen automatischen Schutz, diverse Großveranstaltungen entpuppten sich zuletzt als Hotspot. Die Veranstalter:innen können es in diesem Punkt nicht allen recht machen. Für die einen ist das Wegfallen aller Maßnahmen ein wichtiger Schritt zurück zur Normalität bei Konzerten. Andere würden sich wohler fühlen, wenn G-Regeln oder Tests weiterhin fester Bestandteil wären. Was also können Veranstalter:innen tun, damit das Publikum trotz der Pandemie den Weg vor die Bühnen findet? Für Transparenz sorgen. „Die Leute sollten direkt beim Buchen der Tickets die Antworten auf die Frage finden, wie Sicherheit gewährleistet wird“, sagt Psychologe Steffen Ronft. „Bei einer Indoor-Veranstaltung können das Belüftungs- und Filtersysteme sein. Die Leute müssen wissen: Die Veranstalter:innen haben das auf dem Schirm und kümmern sich darum und nehmen die Sicherheitsbedürfnisse der Besucher:innen ernst.“

Rembert Stiewe vom Orange Blossom Special sieht das ähnlich: „Ein Zurückholen der Leute geht nur über Qualität und Service, Service, Service. Man muss es so angenehm machen wie möglich.“ Also etwa den Ticketverkauf möglichst übersichtlich gestalten und die Frage von Rückerstattungen bei Verschiebung oder Absage am besten schon im Vorfeld klären, wie Ronft sagt: „Zu wissen, was passiert, wenn etwas passiert, wird jetzt über alle Maßen wertgeschätzt. Das finden die Leute klasse, dann bekommst du auch mehr Tickets verkauft.“ Denn die Unsicherheit der vergangenen zwei Jahre hemmt die Kauflust der Fans und stärkt den Wunsch nach Garantien. Dennoch wird das Publikum sich vermutlich daran gewöhnen müssen, ein gewisses Restrisiko zu akzeptieren. VISIONS-Leser Hör gelingt das bereits, er betrachte die Corona-Gefahr mittlerweile als „kalkulierbar“, das Erlebnis wiege die Risiken auf: „Ich bin einfach nur froh, dass wieder Konzerte stattfinden können.“

Festivals mit Maskenpflicht - Getty
Volles Haus trotz Pandemie? Sicherheit und Komfort lassen sich nicht so einfach vereinbaren.(Credit: Getty Images / John McDougall)

Dass noch nicht alle Fans wieder zum unbeschwerten Umgang mit Konzerten zurückgefunden haben, liegt auch an ihren unterschiedlichen Erfahrungen: Während Rückgabe und Erstattung von Tickets für die einen problemlos liefen, zogen Veranstalter den anderen Gebühren ab oder erstatteten Geld erst lange im Nachhinein. Da überlegt man sich dann zweimal, ob man wieder Tickets weit im Vorfeld kauft oder nicht doch lieber wartet, bis man sicher ist, dass ein Konzert auch wirklich stattfindet – wer an der Abendkasse kauft, bekommt die Show mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wie geplant zu sehen. „Gleichzeitig weicht die Vorfreude mitunter einer Verlustangst“, erklärt Ronft die im Hintergrund ablaufenden psychischen Prozesse. „Die bestand früher höchstens aus der Sorge, dass man gerade am Konzerttag krank sein könnte, aber dass die Konzerte stattfinden, war einfach gesetzt. Statt der aufgestauten Vorfreude spürt man auf dem Weg zum Konzert oder Festival jetzt eher Erleichterung, dass es wie geplant stattfindet. Denn beim Menschen ist Verlustangst generell stärker ausgeprägt als Vorfreude, das nennt sich ‚Verlustaversion‘. Hier hat die Pandemie zumindest kurzfristig schon ihre Spuren in den Köpfen hinterlassen.“

Also blicken Fans auf die Inzidenzen und warten mit der Entscheidung bis kurz vor dem Konzert – wer möchte sich schon unnötig Gefühlen von Angst und Stress aussetzen? Was aus Perspektive der Fans sinnig erscheint, ist für Veranstalter:innen schwierig bis katastrophal. Einerseits ist spontanes Ausgehen auch ein Verhaltensmuster, das viele Menschen nach zweieinhalb Jahren wieder neu lernen müssen. Vor allem aber fehlt ohne einen ausreichend großen Vorverkauf schlicht das Geld, um die Veranstaltung auf die Beine zu stellen. Venues und Technik müssen gebucht, Transport organisiert und Visa beantragt werden. Und zwar bevor an der Abendkasse das letzte Ticket verkauft wird. Die vage Hoffnung auf Hunderte verkaufte Karten am Veranstaltungstag nützt nichts, wenn im Vorverkauf nur ein Dutzend Tickets über den virtuellen Ladentisch gehen und das unternehmerische Risiko unkalkulierbar wird.

Gute Ticketverkäufe führen hingegen zu einem Anblick, der in den vergangenen zweieinhalb Jahren ungewohnt war: Menschenmassen. Denen gegenüber habe es laut Ronft auch vorher schon eine unterschwellige Grundangst gegeben; die Menschen hätten jedoch gelernt, dass ihnen meist nichts passiere und tragische Ereignisse wie bei der Love Parade 2010 seltene Ausnahmen bleiben. „Und auf einmal hieß es: ‚Geh auf keinen Fall in Menschenmengen, da passiert dir 100 Prozent was!'“ Es werde dauern, bis sich diese Botschaft wieder verflüchtigt und der Umgang mit Menschenansammlungen normalisiert. Oder überhaupt erst gelernt wird: Ein gewisser Teil der jungen Fan-Generation kennt Konzerte und Festivals nur im Pandemie-Modus. „Da wird es spannend sein zu sehen, was bei der Konfrontation mit der neuen alten Konzert- und Festivalwelt im Kopf passiert“, so Ronft. „Aber ich denke, wenn Corona & Co. uns verschonen, entspannt sich der Umgang mit Großveranstaltungen wieder.“ Auch VISIONS-Leser Daniel Hör musste sich erst wieder neu an Menschenmengen gewöhnen: „Beim ersten größeren Konzert dieses Jahr war es schon ein sehr mulmiges Gefühl, wieder so dicht zu stehen und so vielen Menschen nahe zu sein. Aber nach einer gewissen Zeit geht es wieder, und man kann das Konzert genießen.“

Der Nachwuchs

Auch sonst hat die Pandemie das Publikum von gewissen Grundelementen der Konzert- und Festivalerfahrung entwöhnt. Die Veranstaltungen empfinden manche nun als zu laut, stickig, schwitzig, mit langen Schlangen am Einlass, am Getränkestand und für die Klos, die oft nicht in ausreichender Menge und Sauberkeit existieren. Dann brät man in der Sonne oder friert im Regen, atmet Staub, der Campingplatz liegt direkt an der Autobahn, und etwas Vernünftiges zu essen gibt es auch nicht. Der Festivalgänger links von einem hat seit drei Tagen nicht geduscht, während der rechts nur halberfolgreich versucht, in eine Plastikflasche zu pinkeln, während einen ein geworfener Becher am Hinterkopf trifft – wer mit Konzerten und Festivals sozialisiert ist, kennt diese Szenen. Während sie für viele ein normaler oder sogar geschätzter Teil der Weltflucht Livemusik sind und weitere sie als Notwendigkeit akzeptieren, kamen andere in der Pandemie ins Grübeln: Will ich sowas überhaupt noch? Oder mache ich mit dem Geld lieber einen entspannten Urlaub? Solche Gedanken macht sich in erster Linie das ältere Publikum, das zunehmenden Wert auf Bequemlichkeit, Sitzplätze und eine gute Infrastruktur legt.

„Über unzureichende Toiletten, langsame Theken und überfüllte Venues habe ich mich auch schon vor der Pandemie geärgert“, sagt der 40-jährige VISIONS-Leser Michael Neunherz, die Pandemie habe das allenfalls ver- stärkt. Dass Menschen aus Musikfestivals herauswachsen, ist nichts Neues – dass die Veranstalter:innen sich aber schwertun, den Nachwuchs fürs alternde Publikum zu finden, dagegen schon. „Ich glaube, dass wir zwei Jahrgänge jüngerer Leute erst wieder aktivieren müssen“, sagt Stefan Reichmann vom Haldern Pop. Diese junge Generation stellt bei Großveranstaltungen wie Festivals inzwischen andere Ansprüche. Die reichen von einem großen vegetarischen, wenn nicht veganen Essensangebot bis zu diversen Line-ups und ökologischen Konzepten. „Das Thema Nachhaltigkeit sollte eine der wichtigsten Rollen in der Planung eines Festivals spielen“, sagt Leserin Mira Langer. Auch Vielfalt in Bezug auf Geschlecht und Ethnien sei wichtig. „Wir tragen Verantwortung für unsere Umwelt und Gesellschaft – wenn wir auch in Zukunft weiter auf Festivals und Konzerten feiern wollen, müssen wir da alle drauf achten.“

Rock am Ring - Thomas Rabsch
Oft können aktuell nur die Großen „ausverkauft“ vermelden. Hier zu sehen: Rock Am Ring.(Credit: DreamHaus GmbH / Thomas Rabsch)

„Festivals wurden immer stärker von wirtschaftlichen Drittinteressen, fremden Geldern und einer stark verwertenden Industrie unterwandert“, so Reichmann. „Vieles muss neu überdacht werden.“ Nur dann könne man auch die Jugend abholen, die bisher auf Festival-Erfahrungen verzichten musste, findet auch Rembert Stiewe vom OBS. „Man merkt Veranstaltungen an, ob sie liebevoll gemacht sind. Es schreiben sich zwar alle Nachhaltigkeit auf die Fahnen, aber Awareness, ökologische Nachhaltigkeit und Inklusion hat man eher auf kleinen Festivals. Von Gendergerechtigkeit will ich gar nicht anfangen.“ Und selbst ein Detail wie die Verpflegung präge die Kultur einer Veranstaltung: „Wenn du nur Bratwurst anbietest, kriegst du auch nur Bratwurst-Publikum.“ Wer seine Kundschaft mit mehr als nur der Kernkompetenz „Musik“ anlockt, nutzt zudem die Vorteile der zuvor bereits erwähnten „mentalen Konten“: Wer gutes Essen, Erholung, Umweltschutz und gemeinnützige Projekte geboten kommt, kann guten Gewissens mehrere „mentale Geldtöpfe“ anzapfen, also etwa gleichzeitig die für „Kultur“, „Ausgehen“, „Spenden“ und „Urlaub“ – und kauft sich eher ein Ticket. Dass selbst Festivals wie das OBS oder Hal- dern Pop, die sich dabei bereits hervortun, aktuell nicht ausverkauft sind, zeigt ein weiteres Mal, wie vielschichtig das Problem schwächelnder Ticketverkäufe ist.

Zurück zum Idealismus

„Ich unterstütze die Künstler:innen und die Veranstaltungsbranche gerne, vor allem in Anbetracht der Auswirkungen der Pandemie“, erzählt Leserin Mira Langer. So oder so ähnlich sehen es auch andere Teilnehmer:innen unserer Umfrage: Knapp 15 Prozent der Befragten haben zuletzt irgendwann bei Konzertkarten auf eine Rückerstattung verzichtet, um die Bands zu unterstützen. Idealismus aus Liebe zur Musik ist also beim Publikum immer noch vorhanden. Dort könnten Festivalmacher:innen ansetzen: sich auf die Idee vom Erlebnis einer Gemeinschaft zurückbesinnen. „Darum ging es immer, so fängt das doch an“, sinniert Reichmann. „Vielleicht entmaterialisieren wir unsere Festivals, vertrauen mehr den Orten, Künstlern und einem neuen jungen und alten Publikum. Wir sollten wieder zum Erzählen und Zuhören zurückfinden, Begegnung wieder in den Vordergrund stellen.“

Auch aus unternehmerischer Sicht dürfte es sich lohnen, sich als Veranstalter:in von den Standards abzugrenzen und deutlich zu machen, was das eigene Event von der Masse abhebt. Diese Besinnung aufs Besondere dürfte der Grund sein, weshalb etwa das OBS dieses Jahr zwar hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, aber dennoch erfolgreich durchgeführt werden konnte – so wie es bei den meisten großen Events der Fall ist. Massenveranstaltungen haben in der Vergangenheit auch den Aufbau neuer Acts querfinanziert. In einer Situation, wo mehr Events auf weniger Besucher*innen treffen, werden sie nun zur Konkurrenz für kleinere Veranstalter:innen, nehmen ihnen teils die Butter vom Brot. Nicht nur, weil ein Teil des Publikums Konzerte generell meidet und fehlt, sondern auch wegen dessen Zusammensetzung: Am Ende sind es nicht die Hardcore-Fans, Musikfanatiker:innen und VISIONS-Leser:innen, die die Clubs oder Hallen voll machen – dafür sind wir einfach zu wenige. Es ist das breite Massenpublikum, das neben Stadionkonzerten auch mal Konzerte in 300er-Clubs besucht. Setzen diese Leute aus finanziellen oder anderen Gründen ihre Prioritäten bei Mainstream- Veranstaltungen, bleibt es auch bei den Konzerten im Alternative- und Indie-Bereich spürbar leerer.

Problem Infrastruktur

Umfrage 4

Und wie geht es in der nahen Zukunft nun weiter mit dem Live-Betrieb? Stefan Thanscheidt, CEO des Konzertriesen FKP Scorpio, äußert sich im Juni optimistisch: „Vor acht Wochen lag die Zahl der Menschen, die
trotz Ticket nicht gekommen sind, zwischen 20 und 50 Prozent, mittlerweile ist ihr Anteil auf 10 Prozent gesunken. Daraus schließen wir, dass das Vertrauen schnell und stetig wieder steigt.“ Nur: Reicht das? Einige Aspekte, wie etwa die Angst vor dem Coronavirus, werden in Zukunft wieder weiter in den Hintergrund rücken. Doch selbst, wenn sich die Nachfrage des Publikums wieder auf dem Niveau vor der Pandemie einpendelt, steht der gesamte Live-Sektor nach wie vor großen Problemen gegenüber. Auch wenn Konzerte und Festivals zukünftig wieder seltener aufgrund von schwachem Vorverkauf abgesagt werden müssen – Absagen wegen Personal- und Technikmangel wird es weiterhin geben. Tourmanager, Tontechniker, Lichttechniker, Mitmusiker, Busfahrer und Co. seien mittlerweile immer schwerer zu bekommen, erzählt Roman Pitone von der Karsten Jahnke Konzertdirektion in Hamburg. Die Nachfrage nach diesen Fachkräften sei einfach viel höher als das Angebot. „Also steigen die Preise. Hinzu kommt, dass Trucks, Busse und Technik in bestimmten Zeiträumen einfach nicht mehr verfügbar sind. Da ist es egal, ob man die lokale Punkband aus Coesfeld ist oder AC/DC.“

„Wir haben ein gigantisches Problem mit der Infrastruktur“, sagt auch Berthold Seliger. „Es gibt in jeder Stadt nur ein begrenztes Angebot an PA- und Lichtsystemen. Das führt schon zu einer gigantischen Kostenerhöhung. Im Durchschnitt sind PAs 30 Prozent teurer geworden, Tourbusse ebenfalls zwischen 20 und 30 Prozent – ohne Spritkosten. Wenn ich ein Konzert mit 1.000 Leuten organisiere, brauche ich 60 Leute, die das organisieren. Viele davon fallen jetzt weg, weil sie als Solo-Selbstständige nicht abgesichert waren. Und die kommen auch nicht zurück. Diese Leute sind aber essenziell für das Überleben der Branche und müssen besser bezahlt und versichert werden. In dieser Branche brauchen wir nicht nur ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch soziale Nachhaltigkeit.“

Wie die zu erreichen ist, muss sich zeigen. Fest steht, dass es bis zur „Konzertnormalität“ noch ein längerer Weg ist, den Publikum, Veranstalter:innen, Künstler:innen und sämtliche Kräfte im Hintergrund nur gemeinsam bestreiten können. Die Leidtragenden sind sonst jüngere Bands am Anfang ihrer Karrieren und kleinere Veranstalter:innen. „Alles wie 2019“ funktioniert nicht mehr. Aber diese Zäsur durch die Pandemie kann für den Live-Sektor auch zu einer Chance werden, die richtigen Weichen für die Konzert- und Festival- Erfahrung der Zukunft zu stellen.

Umfrage 7

Alle Ergebnisse unserer nicht repräsentative Umfrage findet ihr nochmal auf einen Blick unter diesem Link. Sie wurde unter anderem auch schon in einem Bericht des MDR-Formats Recap aufgegriffen. Das Video seht ihr unten:

Video: Recap – „Deshalb müssen Bands ihre Konzerte absagen“