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Chris Cornell: Unser Nachruf zum ersten Todestag

Chris Cornell: Unser Nachruf zum ersten Todestag
Der Schock ist abgeklungen, aber die Trauer bleibt: Genau vor einem Jahr mussten wir den viel zu frühen Tod von Soundgarden-Frontmann und Grunge-Ikone Chris Cornell melden. Anlässlich seines ersten Todestages veröffentlichen wir hier nun noch einmal den Nachruf, der Ende Mai 2017 in VISIONS 291 erschienen war.

Trügerischer Friede

Interviews mit Chris Cornell waren nicht immer leicht, das stellte unser Autor Sascha Krüger über die Jahre mehr als ein halbes Dutzend Mal fest. Doch das Selbstbewusstsein und die Überzeugungskraft, mit der Cornell seine sehr unterschiedlichen Lebensphasen bestritt, ließen letztlich nur einen Schluss zu: Der Mann ist echt und meint es erst. Am 18. Mai 2017 ist Chris Cornell mit 52 Jahren gestorben. Offenbar starb er durch Suizid, zwei Stunden nach einem Konzert mit Soundgarden in Detroit. Ein Nachruf auf einen begnadeten Musiker und engagierten Gesprächspartner, der in manchen Momenten wirklich gewillt schien, die Maske des Rockstars zu lüften.

Es ist aus heutiger Sicht eine Schande, aber die erste Soundgarden-Show vollzog sich nur am Rande meiner Wahrnehmung. Es ist Pfingsten 1992, und ich bin das erste Mal auf dem Pinkpop Festival in den Niederlanden. Meine Lieblingsmusiker Buffalo Tom und PJ Harvey spielen früh, und weil es den ganzen Tag immer wieder heftig schüttet, dient der Nachmittag der Regeneration. Von Soundgarden, die vor den vier Headlinern an der Reihe sind, bekomme ich nur die letzten Songs aus der Entfernung mit. Was mich damals nicht sonderlich ärgert. Natürlich sind sie gute Musiker, haben einen fetten Sound, und ihr Frontmann strahlt mit brachialer Stimme eine Präsenz bis in die letzten Reihen aus. Trotzdem: Im Ganzen wie im Detail – die langen Haare, die Marshall-Amps, die Posen und eben auch dieses Organ, das sich so gekonnt wie schrill in höchste Höhen schraubt – sind Soundgarden für den damals dezent bornierten Indie-Heimer doch zu stark im breitkreuzigen Metal zu Hause. Woran es indessen keinen Zweifel gibt: dass sich Soundgarden und allen voran Cornell mit Wut und großer Hingabe durch ihr Set prügeln, bis der Funke auf wirklich jeden Fan überspringt. Dagegen wirken die eigentlich fiebrig erwarteten Pearl Jam, die dank des kürzlichen Erfolgs von „Alive“ die entscheidende Stufe über Soundgarden im Festival-Billing, fast schon wie ein paar ambitionierte Studentenmusiker, die auf starke Männer machen. Es bleibt der Eindruck von Soundgarden: krasse, intensive Band!

Einige Jahre später werde ich Teil der VISIONS-Redaktion und arbeite von nun an hauptberuflich im Epizentrum der deutschen Grunge-Berichterstattung. An Soundgarden gibt es kein Vorbei mehr. Wir sehen den Film „Singles“ und fühlen uns in dem Wunsch verstanden, anders und unangepasst zu sein. Als im Frühjahr 1994 Soundgardens neues Album „Superunknown“ erscheint, packt mich die Band auch auf Platte. Ihr Konzert im Kölner E-Werk drei Wochen darauf wird zum Pflichttermin. Nach zwei Stunden Show verlasse ich nassgeschwitzt, erschöpft und ziemlich sprachlos das Venue: okay, wow, alles klar. Darum also sprechen so viele davon, dass Soundgarden zu den gegenwärtig besten Rockbands gehören. Selbst meine eigentliche Grunge-Herzband Alice In Chains, die am selben Ort ein paar Monate zuvor im Klangmatsch ersoffen sind, haben sie an die Wand gespielt. Soundgarden: eine Band wie ein Uhrwerk mit einem Blickfang von Frontmann. Chris Cornell, der Brad Pitt unter den Karohemdenträgern. Mit ihrem nächsten Album „Down On The Upside“ geht meine Begeisterung wieder etwas verloren, und als danach Schluss ist mit Soundgarden, nehme ich es relativ unberührt zur Kenntnis. Denn das, was Cornell mir mit Soundgarden (und Temple Of The Dog) an Alben hinterlassen hat, genügt mir damals. Die wirkliche Verehrung für den Sänger und die Person Chris Cornell folgt erst viel später.

Und schon gar nicht, als er mir 2002 zum ersten Mal gegenübersitzt. Anlass ist das erste Album von Audioslave. Cornell befindet sich damals im Dauerclinch mit vielem, was sich schlucken, schniefen oder sonst wie konsumieren lässt. Im Interview erweist er sich als zwar charismatischer, aber auch etwas selbstverliebter Dandy, der sich und seine neue Supergroup offensichtlich für den Nabel der Alternative-Welt hält. Analog dazu fallen die zwei Shows aus, die ich sehe. Ob im schwülwarmen Club in Los Angeles oder auf der Hauptbühne von Rock am Ring: Irgendwie wünsche ich mir Rage Against The Machine zurück – und Cornell für die Zukunft ein glücklicheres Händchen im Umgang mit den Rauschsubstanzen, die etwa am Ring dazu führen, dass er kaum einen Ton trifft und seine Augen glasig wirken.

Die radikale Kehrtwende erfolgt ausgerechnet beim wohl verzichtbarsten Album seiner verzweigten Karriere: Das dritte Audioslave-Album „Revelations“ wirkt im Grunde schon vor dem Erscheinen im Herbst 2006 wie eine überflüssige Nachspielzeit und entpuppt sich tatsächlich als Präludium zum offiziell verkündeten Band-Aus einige Monate später. Die Chance auf ein weiteres Gespräch mit Cornell nehme ich trotzdem gerne wahr – es gibt immerhin wenige so spannende Interviewpartner wie ihn im Rockgeschäft. Und er macht in dieser Zeit einen guten Eindruck: Cornell, der schon als Teenager mit Angstzuständen und seinem Hang zu Rauschmitteln zu kämpfen hatte, erweist sich als clean und wiedererstarkt. Als ich ihm gestehe, dass ich zur neuen Audioslave kaum Fragen habe, beginnt er, offen über seinen Entzug zu reden, über Expeditionen in den eigenen Psycho-Morast und seine komplizierte Ehe mit Soundgardens Ex-Managerin Susan Silver, von der er sich zwei Jahre zuvor hatte scheiden lassen.

Es macht geradezu Spaß, diesem neuen, umgekrempelten Cornell gegenüberzusitzen, der nüchtern und aufgeräumt in seine Rolle als liebender Familienvorstand findet, nachdem er seiner Scheidung von Silver zügig die Heirat mit Vicky Karayiannis folgen lässt und noch im selben Jahr erneut Vater wird. Das alles, so überlegt er im Interview, ging womöglich zu Lasten von Audioslave – Cornell hatte bei der Arbeit an „Revelations“ im positiven Sinne andere Sorgen. Später wird er sagen: „Diese dritte Platte hätte es nicht gebraucht, sie taugte nur als Cash Cow für die Plattenfirma. Aber wer über 30 Jahre hinweg Platten aufnimmt, darf sich einen Ausrutscher erlauben.“

Ich verlasse das Gespräch jedenfalls mit dem überraschenden Eindruck, dass Cornell hinter seiner „Jesus Christ Pose“ und jenseits der „Black Hole Sun“ seines Herzens einer dieser guten Typen ist, die man sich zum Kumpel wünscht, um mit ihm alles zwischen Akkorden und Ambitionen, Prägungen und Psychowunden, Sehnsüchten und Stigmatisierung, Familienurlaub und Frankreichs Edelrestaurants zu erörtern. Um diese acht Themen wird es danach immer wieder gehen. Ob – Abteilung Akkorde und Ambitionen – rund um die Veröffentlichung seines anfangs eigenartig anmutenden Soloalbums „Scream“, das Cornell auf seinem Selbstfindungstrip für eine streitbare Expedition in den Pop nutzt, unterstützt von HipHop-Schwergewicht Timbaland. Vor dem Gespräch zur Platte stellt er mir stolz seine Familie samt Nanny vor. Oder wie er 2012 – Abteilung Familienurlaub und Stigmatisierung – immer wieder vom eigentlichen Gesprächsanlass abkommt, nämlich Soundgardens überzeugendem Comeback-Album „King Animal“. Und auch das Interview zu seinem letzten, ungewohnt traditionell ausgefallenen Soloalbum „Higher Truth“ von 2015 vermittelt mir glaubhaft – Abteilung Prägungen und Sehnsüchte –, dass Cornell inzwischen einen soliden inneren Frieden mit sich, seiner Rolle in der Musikwelt und seinen inneren Dämonen gemacht hat. Zumindest glaube ich das.

Nur Wochen nach diesem Treffen dann der letzte Kontakt: ein Interview – Abteilung Sehnsüchte und Edelrestaurants, von denen sich Cornell selbst eines in seiner Wahlheimat Paris zulegt hat – am Telefon für unser Schwestermagazin GALORE. Eine eigentlich undankbare Art für ein gehaltvolles Gespräch, doch nicht so mit Cornell: Auch hier gibt er offene Einblicke, spricht über die Freude am Altern („im Prinzip finde ich es angenehm, älter zu werden – es macht gelassener, aufgeräumter und zielgerichteter“) oder die Angst vor der Stille: „Es ist nicht schwierig, die volle Inbrunst und Energie rauszulassen, wenn um dich herum eine irrsinnig gute Rockband tobt. Doch was ist, wenn all das wegbricht? Dann stehst du da und hast nichts als deine Stimme, ein paar Akkorde und einen Song.“

Ob diese bewusste Konfrontation mit musikalischem Minimalismus auch eine Form von Therapie für ihn war, werden wir nie mehr erfahren. Zumal wir solche Themen im Interview kaum gestreift haben, den Zustand seiner Seele oder die Standfestigkeit bei der Abstinenz von Wirkstoffen, die das Leben kurzfristig erträglicher machen. Es schien obsolet, erledigt, abgefrühstückt. Vom gesunden Teint seiner Wangen über das offene Lachen und seiner einnehmenden Freundlichkeit bis hin zur euphorischen Begeisterung für die Projekte seiner Chris & Vicky Cornell Foundation, die sich um obdachlose oder vernachlässigte Kinder kümmert – zu vermuten, dass Cornell noch einmal Opfer von Konsum oder gar Missbrauch einer Substanz werden könnte, schien in diesem Augenblick absurd.

Blickt man nun auf die Tragödie seines Suizids, dass er zum Beispiel seinen Bodyguard bat, ihm zwei Ativan-Pillen zu beschaffen, bei deren Überdosierung auch ein plötzliches Verlangen nach Selbsttötung auftreten kann, und dass er diese Tabletten seiner Frau zufolge wohl auch eingenommen hat, weil er beim letzten Telefonat mit ihr nach dem Konzert in Detroit „seine Worte nur noch gelallt hat, er war ganz anders“ – dann bringt dies drei Erkenntnisse. Erstens, dass die in den USA weitverbreitete Neigung, schwerwiegende Drogen- oder Psycho-Probleme mit der ungezügelten Einnahme von ebenso wirkungsvollen Opiaten, Benzodiazepinen und anderen Pillen zu bekämpfen, der Musikwelt einen ihrer begnadetsten Sänger geraubt hat. Zweitens, dass selbst regelmäßige Begegnungen und unter die Haut gehende Gespräche mit einem Rockstar immer nur so wahrhaftig sind, wie er es erlaubt oder selbst aushält. Und drittens, dass der äußere Eindruck, ein so gutaussehender, reicher, talentierter und nach all den Jahren der falschen Abzweigungen scheinbar wirklich geläuterter Mensch wie Cornell müsse einfach glücklich sein, am Ende absolut gar nichts zählt.

„So nackt habe ich mich noch nie gemacht“, sagte er mir bei unserer letzten Begegnung über sein Album „Higher Truth“. Im Titelsong der Platte heißt es: „You can set the world on fire/ Yeah if you want/ It isn’t hard/ I won’t be there looking on/ To see the trail of lies/ As you fall/ But I’ll take the truth/ The higher truth.“ Wir können nur hoffen, dass Chris Cornell seine höhere Wahrheit gefunden hat. Sascha Krüger | krueger@visions.de

Zur Erinnerung hier auch nochmal 12 unserer Ansicht nach essentielle Songs von Chris Cornell, mit denen man sich an ihn erinnern sollte. Mehr über die einzelnen Tracks erfahrt ihr auch in unserem zugehörigen Artikel. Zum Tode des großen Grunge-Musikers hattet ihr uns damals auch eure Erinnerungen an Chris Cornell geschickt.

Youtube-Playlist: 12 essentielle Songs von Chris Cornell