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Kommentar: "Wer die BDS-Kampagne unterstützt, macht sich mit Antisemiten gemein"

Kommentar: „Wer die BDS-Kampagne unterstützt, macht sich mit Antisemiten gemein“
Immer wieder fordern Musiker wie Roger Waters Kollegen auf, die BDS-Kampagne – „Boycott, Divestment and Sactions“ – zu unterstützen und keine Konzerte in Israel zu spielen, um den Staat kulturell und wirtschaftlich zu isolieren – weil Israel im besetzten Palästina Menschen unterdrücke. Kritiker bezeichnen BDS jedoch als antisemitisch. Zu Recht, kommentiert VISIONS-Redakteur Dennis Drögemüller.

Es gibt für Musiker kaum ein undankbareres Thema als die BDS-Kampagne und den ihr zugrundeliegenden Israel-Palästina-Konflikt. Weil sie gefühlt zunächst nur zwei Optionen haben: Entweder befürworten sie Konzerte in Israel – und heißen damit laut Kritikern automatisch ein repressives Regime Israels gegenüber den Palästinensern gut, das durch Auftritte internationaler Künstler legitimiert werde. Oder sie stellen sich an die Seite der BDS-Bewegung, die solche Auftritte unterbinden und Israel wegen seiner Palästinenser-Politik mit einem kulturellen und wirtschaftlichen Boykott isolieren will – und sind damit in den Augen mancher ein Israel-Feind und Antisemit. Wer differenziert, gilt beiden Seiten schnell als naiv oder ignorant.

Dabei wäre es dringend nötig, mit kühlem Kopf die Fakten zu betrachten: Tatsächlich kritisieren selbst die Vereinten Nationen die israelische Besatzung Palästinas, Übergriffe israelischer Soldaten, Polizisten und Sicherheitskräfte in den seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzten Gebieten Westjordanland und Gaza-Streifen sind etwa von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch gut dokumentiert, und auch der israelische Siedlungsbau in den Besatzungsgebieten wird von zahlreichen Regierungen und NGOs als illegal und den Frieden in der Region erschwerend gegeißelt. Diese Dinge kann man, muss man kritisieren – schon deshalb, weil es auch unter den jüdischen wie arabischen Israelis eine Opposition (beispielsweise die Organisation Peace Now) gibt, die sie anprangert. Aber: Wer das im Rahmen der BDS-Kampagne tut, macht sich mit Antisemiten gemein.

Ziel von BDS ist – neben der Räumung der besetzten Gebiete und Gleichberechtigung der Palästinenser – ein Rückkehrrecht für die seit 1948 aus Israel geflüchteten oder ausgewiesenen Palästinenser und deren Nachfahren. Die Rückkehr dieser circa fünf Millionen Menschen würde die Israelis zu einer Minderheit im Land machen und das Ende des Staates Israels zugunsten eines einheitlichen Palästina bedeuten. Das sprechen BDS-Aktivisten auch relativ offen aus: BDS-Mitgründer Omar Barghouti etwa sagte, er „unterstütze Sterbehilfe“ für den Staat Israel, BDS-Aktivist As’ad Abu Khalil schrieb, „Gerechtigkeit und Freiheit für die Palästinenser sind unvereinbar mit der Existenz des Staates Israel.“ Vor diesem Hintergrund steht BDS in der antisemitischen Tradition des „Kauft nicht bei Juden“ der Nazis, vor allem aber des Juden- und Israel-Boykotts der Arabischen Liga ab 1945. In die antisemitischen Diffamierungen reiht sich auch die BDS-Behauptung vom „Apartheidsstaat Israel“ ein: Während das autoritäre Regime in Südafrika die schwarze Bevölkerung während der Apartheid systematisch per Gesetz rassistisch diskriminierte, ist Israel ein demokratischer Staat mit Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung – was nicht heißt, dass arabische Israelis nicht auch Rassismus erleben und Palästinenser unter der israelischen Besatzung diskriminierenden Einschränkungen hinsichtlich Reise- und Bewegungsfreiheit, Bürgerrechten und Zugang zu Wasser und medizinischer Versorgung ausgesetzt sind.

Zumindest antisemitisches Potenzial hat, dass manche Musiker anscheinend mit zweierlei Maß messen: Wer in Israel wegen der Behandlung der Palästinenser nicht auftritt, müsste konsequenterweise zum Beispiel auch die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen Russlands oder den fragwürdigen Drohnenkrieg der USA zum Anlass nehmen, dort keine Konzerte zu geben – nur Israel herauszugreifen, lässt sich schwer anders verstehen als antisemitisch. Und: Im Koordinierungskomitee von BDS sitzen auch die „National and Islamic Forces in Palestine“, zu denen wiederum die von der Europäischen Union als Terrororganisation eingestufte Hamas gehört, die den Holocaust leugnet, im von ihr kontrollierten Gaza-Streifen Gegner ohne Prozess hinrichtet und Raketen auf israelische Zivilisten abfeuert.

Das alles heißt im Umkehrschluss wiederum nicht, dass jeder, der je einen offenen Brief von BDS oder nahestehenden Organisationen wie „Artists For Palestine UK“ unterzeichnet oder ein Israel-Konzert abgesagt hat, automatisch ein glühender Antisemit ist – sondern zunächst nur, dass auch gestandene und kluge Musiker-Persönlichkeiten mit teils jüdischen Wurzeln oder jüdischer Familie wie Chuck D, Thurston Moore, Tom Morello, Kathleen Hanna oder Kate Tempest der Selbstdarstellung von BDS als humanitärer Bewegung auf den Leim gehen können oder die notwendige Aufmerksamkeit für den Konflikt über die Gefahr des Antisemitismus stellen. Wer tatsächlich feste antisemitische Überzeugungen hegt, sollten Fans kritisch im Einzelfall bewerten. Roger Waters hatte schon vor einigen Jahren den Vorwurf empört von sich gewiesen, neben seinem intensiven BDS-Engagement aber auch bei Konzerten wiederholt zusammen mit anderen religiösen Symbolen und Firmenlogos einen Davidstern auf ein aufblasbares Schwein projiziert – und damit mindestens billigend in Kauf genommen, das alte antisemitische Stereotyp von der „Judensau“ zu reproduzieren.

Wie man mit dem polarisierenden Thema BDS als Musiker souverän umgehen kann, zeigt Dead-Kennedys-Legende Jello Biafra: Der setzte 2011 ein Konzert in Tel-Aviv an, sagte es nach Kritik von BDS und Beschäftigung mit dem Thema wieder ab – und distanzierte sich danach deutlich von allen Konfliktparteien, er werde „kein Schoßhund von [der israelischen Regierungsorganisation] Hasbara, Peace Now, BDS oder irgendjemandem sonst“ sein. Biafra reiste dann ohne Konzert nach Israel und Palästina, erkundete die Situation vor Ort und berichtete später – unter dem treffenden Titel „Caught In The Crossfire“ – kritisch und differenziert seine Eindrücke und Schlussfolgerungen. Oder man geht den Weg von Useless ID, einer israelische Melodycore-Band, die sich gegen einen Boykott ausspricht, schon Benefizshows für Familien in Gaza und dem Westjordanland gespielt hat und dennoch mit Propagandhi tourt, die BDS in der Vergangenheit unterstützten, aber auch kritisch diskutierten und generell schon lange ihre Venues und Kooperationspartner weltweit kritisch auswählen.

Musiker sollten BDS meiden, wenn es ihnen um Frieden und Versöhnung im komplexen Konflikt von Israel und Palästina geht. Das ist es schließlich, was Musik immer schon leisten konnte: Sie bringt Menschen zusammen – im Konzert-Halbdunkel von Nick Cave oder Radiohead, die beide trotz BDS-Kritik in Israel auftraten, sind Israelis und Palästinenser gleichermaßen einfach nur Fans.