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Berlin Festival - Herbergsväter des HipHop

Berlin Festival – Herbergsväter des HipHop
Seit der Berliner Stadtflughafen Tempelhof geschlossen wurde, finden dort vornehmlich Autoshows und Musikfestivals statt. Wir waren am Wochenende vor Ort (bei einem Musikfestival, nicht bei einer Autoshow) und haben sechs bemerkenswerte Konzerte für euch herausgesucht.

Health (Freitag, 18.30 Uhr)

Health-Bassist Josh Famiglietti sieht aus wie Pocahontas beim Headbangen, sein Instrument klingt wie ein Presslufthammer, und der Rest seiner Band macht Geräusche, die einen an 50er-Jahre-Zahnärzte und offen liegende Wurzeln erinnern. Super! Schöneren Krach wird an diesem Wochenende niemand machen; Health beweisen in der zweiten Hälfte ihrer Dreiviertelstunde aber auch, dass sie einem poppig kommen können, System in ihrem Wahnsinn steckt und sich nichts besser anfühlt, als wenn der kaputte Zahn erst mal gezogen ist. Wir verleihen ihnen die Festival-Bronzemedaille für allgemeine Leistungen (Silber für Tune-Yards, Gold für Public Enemy, aber dazu später mehr) und einmal Extra-Gold dafür, dass sie beim Tanzen noch lustiger aussehen als die Leute in der Silent Disco gleich um die Ecke.

Clap Your Hands Say Yeah (Freitag, 20 Uhr)

Seit sie Ende 2005 ihr Debütalbum auf eigene Faust veröffentlicht haben, werden Clap Your Hands Say Yeah Soundprobleme angehängt. Erst war der grandios nölige Nebelkrähengesang von Alec Ounsworth den Leuten zu nölig nebelkrähig, dann kam das zweite Album ‚Some Loud Thunder‘ mit einer Produktion, für die sich die meisten Hobby-Homerecorder geschämt hätten. Der dickköpfige, genüsslich schwierige Indierock auf der Platte wurde deshalb unterschätzt, und Clap Your Hands Say Yeah rudern mit ihrem neuen, am Tag ihres Auftritts veröffentlichten Album ‚Hysterical‘ ein paar Bootslängen zurück. Die Platte klingt vergleichsweise sauber, der Gesang weniger extravagant, die Songs sind wieder stark, und man hat den Eindruck, als solle man es ihnen zum ersten
Mal wirklich anmerken können.

Clap Your Hands treten also unter diesen Voraussetzungen auf, und dann haben sie – Soundprobleme. Der Gesang ist zu leise, die Instrumente verschwimmen ineinander, es will sich kein richtiger Zug entwickeln. Ein generelles Problem des weitläufigen Festivalgeländes, aber auch eins von Ounsworth, der nicht seinen engagiertesten Tag hat. Die meisten Extravaganzen seiner Stimme bringt er halbherzig oder lässt sie gleich ganz weg, die Ansagen muss meistens sein Zweitgitarrist machen, seine Band bleibt eine, deren Soundprobleme man sich lieber auf Platte anhört.

Primal Scream (Freitag, 21 Uhr)

Nichts ist so dünn wie Bobby Gillespie, der 49-jährige und mittlerweile leicht zombiehafte Frontmann von Primal Scream, die es nächstes Jahr seit 30 Jahren geben wird und deren derzeitige Einkassierer-Tour rund um ihre Früh-90er-Rave-Orgie ‚Screamadelica‘ er (also Gillespie) mit gerade dem richtigen Maß an Desinteresse erträgt. Nichts ist außerdem schöner als der Anblick von 10.000 Festivalbesuchern, die im Laufe des Sets (‚Screamadelica‘ wird von vorne bis hinten gespielt) eine dieser zwei Sachen merken: a) Alter, die Platte ist aber nicht gut gealtert. Oder b) Alter, was hab ich mir denn damals alles reingepfiffen, um das so total geil zu finden?

Weder eine besonders einsatzfreudiger Ein-Frau-Gospelchor, noch Gitarrist Andrew Innes, der sich angezogen hat, als wollte er nach der Show noch in die Schwulenkneipe aus ‚Police Academy‘ gehen, können diesen Eindruck gerade rücken; der basslastig zerwummerte Sound hilft auch nicht. Was aber hilft, ist ein toller Zugabenblock, der exakt aus den drei Liedern besteht (‚Rocks‘, ‚Country Girl‘, ‚Jailbird‘), die sich Jan Schwarzkamp als Zugabenblock gewünscht hatte. Gebt euch mal diesen Zufall.

Tune-Yards (Samstag, 16 Uhr)

Schon Health lassen sich nur schwierig politisch korrekt beschreiben, aber was soll man erst mit Tune-Yards machen? Merrill Garbus singt wie die Medizinfrau eines entlegenen afrikanischen Ureinwohner-Stammes, der jeden Kontakt mit der sog. Zivilisation meidet, und geht man nach ihrem ulkig angemalten Gesicht und ihrer in Neon gekleideten Band (ein Bassist, zwei Saxofonisten), ist sie wohl auch für den eigentlich gar nicht so tollen Trend mitverantwortlich, dass immer mehr Leute verkleidet zu Festivals kommen.

Egal, denn wenig an diesem Wochenende ist besser als die Musik von Tune-Yards, ihr eigenwilliger Pop mit Einflüssen von allen Kontinenten (außer Antarktis vielleicht), der live noch zusätzlichen Charme gewinnt, weil all die Loops aus Drums, Ukulele und Garbus' unvergleichlichem Gesang in Echtzeit hergestellt werden. Und schöner quietschende Saxofonsoli werden sowieso nirgends in der Stadt gespielt.

Beginner (Samstag, 22.30 Uhr)

Ein bisschen war das Berlin Festival dieses Jahr wie ‚Wetten dass‘: All die internationale Prominenz war da, aber am Ende freuen sich die Leute doch am meisten über die Stars von Zuhause. Zum ersten Mal seit sieben Jahren treten die Beginner live auf, die Show ist angenehm bullshitfrei (zwei MCs, ein DJ, bei Bedarf eine Sängerin), und die 90er-Jahre-Hits der Band sind erstaunlicherweise besser gealtert als die 90er-Jahre-Hits von Primal Scream. Das Konzept Live-HipHop wird dabei nicht neu erfunden und bleibt ein recht stumpfes Mittelding aus Verbrüderung und Daueranimation, aber wir gönnen Jan Delay den neuen Südflügel für sein Haus.

Public Enemy (Sonntag, 1 Uhr)

Die Verhältnisse werden trotzdem schnell wieder gerade gerückt, denn nicht mal eine Beginner-Reunion kann einen auf das vorbereiten, was eine Public-Enemy-Show im Jahr 2011 bedeutet. Sie sind es wirklich, der echte Chuck D und der echte Flavor Flav, und das Schönste daran ist, dass sie einen von Anfang an denken lassen, was für geile Nerds das eigentlich sind.

Flav promotet seine mitgebrachte Autobiografie mit der Schamlosigkeit eines Zeugen Jehovas; er verschenkt zehn Exemplare (und am Ende seine Turnschuhe), erinnert aber alle zwei Songs daran, dass man den Schinken auch kaufen und sich später sogar signieren lassen kann. Ebenso eisern weisen er und Chuck auf ihre Twitter-Accounts hin, und nachdem DJ Lord (Original-DJ Terminator X züchtet längst lieber Sträuße) Nirvanas ‚Smells Like Teen Spirit‘ eine Wahnsinns-DJ-Abreibung mit allerlei Plattendrehen und Reglerverschieben verpasst hat, gibt Chuck seine (also Lords) E-Mail-Adresse durch, damit eventuelle Mitfilmer ihr Beweismaterial einsenden können (lord@djlord.co, falls ihm (also Lord) jemand etwas mitzuteilen hat. Und ja, es heißt .co, nicht .com, wie Chuck D zunächst glaubt).

Bei Public Enemy ist aber nicht mal die unfreiwillige Komik jemals unwürdig, und auch die mitgebrachte Quasi-Body Count-Coverband ist in ihrer gnadenlosen 90er-Jahre-Haftigkeit schon wieder niedlich. Chuck D und Flavor Flav rappen dazu wie die Herbergsväter des HipHop, die sie nun mal sind, selbstbewusst, imposant, donnernd und am Ende großzügig: Das angedachte 45-Minuten-Set wird fast auf die doppelte Spielzeit verlängert – vielleicht auch, weil niemand die Eier hatte, Public Enemy von der Bühne zu winken. Wo kämen wir schließlich damit hin.


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