Arthur Brown
Alkohol rettet selten Leben, aber im Fall von Arthur Brown womöglich schon. Im Sommer 1967 tritt der Brite auf einem Festival in Windsor auf. Per Kran lässt er sich auf die Bühne hieven und stimmt mit einer Feuerfontäne auf dem Kopf seine Psych-Rock-Hymne “Fire” an. Dann gerät die Sache außer Kontrolle. Die Flammen greifen vom provisorisch präparierten Helm auf Browns Gesicht über, und es ist nur einem biertrinkenden Zuschauer zu verdanken, dass der Sänger fast unverletzt davonkommt: Geistesgegenwärtig kippt er sein Getränk über Brown aus und löscht den Brand. Konzert und Karriere gehen weiter, Jahre später wird der Paradiesvogel zum Vorbild für Maskenrocker wie Kiss und Alice Cooper. Brown selbst hatte seine Ausbildung am Theater zur feurigen Verkleidung inspiriert. Gegen die heutige Pyro-Gigantomanie, mit der etwa Rammstein ihrem Millionenpublikum buchstäblich einheizen, wirken die frühen Auftritte Browns reichlich unbedarft. Trotzdem waren sie vor allem eins: Pioniertaten in Sachen Rock-Maskerade.
Dennis Plauk
Peter Gabriel
Auf der Suche nach Ausdrucksmitteln jenseits seines Gesangs betritt Peter Gabriel erstmals 1972 auf der Tour zum Album “Foxtrot” seiner Band Genesis die Bühne mit einer Verkleidung. Dafür zwängt er sich in ein rotes Kleid aus dem Schrank seiner Frau und verhüllt den Kopf mit einer Fuchsmaske. Die Art, in der sich Presse und Öffentlichkeit von nun an für Genesis interessieren, bestärkt Gabriel, zukünftig zu fast jedem Song der Band in neue Kostüme zu schlüpfen. “Wir waren die Sorte von Band, für die ‘Spinal Tap’ geschrieben wurde”, sagt Phil Collins, sein Nachfolger als Genesis-Sänger, in der Rückschau über Gabriels Extravaganzen, die er meistens ohne Kenntnis oder Zustimmung der Band auf die Bühne bringt. Gabriel trägt Fledermausflügel, wird zum alten Mann und für die “The Lamb Lies Down On Broadway”-Shows zu einem “Slipperman”, dessen Beulen aus gefüllten Kondomen bestehen. Nachteil mancher Masken ist ihr negativer Einfluss auf Gabriels Gesang. Außerdem tritt die Musik hinter dem Spektakel zunehmend in den Hintergrund, sodass Keyboarder Tony Banks Gabriels Ausstieg 1975 “eine Art Befreiung” nennt.
Carsten Sandkämper
Kiss
Ihre ersten Shows spielen Kiss Anfang 1973 noch wenig geschminkt, im Frühjahr schließlich greifen sie tiefer in die Farbtöpfe, legen Rouge und Glitter auf, Schwarz und Weiß kommen zum Einsatz. Glam Rock ist der Sound der Stunde, in England sind es Bands wie The Sweet und Slade, Künstler wie Marc Bolan, die Sternchen im Gesicht tragen und Make-up benutzen. In den USA nehmen die New York Dolls mit einem Mix aus Rock’n’Roll und Androgynität eine Vorreiterrolle ein. Auch Kiss lassen sich von ihnen inspirieren, tragen das Konzept allerdings ein ganzes Stück weiter und entwickeln Fantasiecharaktere, deren Typus sich in der fortwährend gleichen Maske widerspiegelt: Gene Simmons gibt den “Demon”, Paul Stanley das “Starchild”, Peter Criss den “Catman” und Ace Frehley den “Spaceman” (später ist unter anderem noch Eric Carr als “The Fox” dabei). Ihre Demaskierung 1983 wird zu einem ebensolchen Spektakel (oder Debakel) wie die Rückkehr zu den legendären Masken Mitte der 90er. Der Metal, zuvorderst King Diamond, spinnt den Faden weiter.
Ingo Scheel
David Bowie
Bowie legt seinen Ziggy-Stardust-Charakter mit der Einführung von Aladdin Sane nicht ab, er entwickelt ihn weiter. Die Figur Aladdin Sane – auch der Titel seines 1973er Albums – stehe symbolisch für “Ziggy goes to America”, sagt Bowie, ein Land, das in der Lage sei, selbst einen Alien-Rockstar weiter in den Wahnsinn zu treiben. Namensgebend für die Figur ist der Ausdruck “a lad insane”. Der künstlerische Hintergrund: Bowie hat viele Songs der Platte im Laufe der Ziggy-Tour durch die USA geschrieben, der Einfluss ist offensichtlich. Das Album zählt musikalisch nicht zu den größten Klassikern, das Artwork aber bezeichnet die britische Tageszeitung The Guardian später als “‘Mona Lisa’ der Albumcover”. Es zeigt Bowie, traurig, mit geschlossenen Augen, der ikonische Blitz teilt sein Gesicht in zwei Hälfen – ein Symbol für Schizophrenie. Das ist einerseits ein Verweis auf Ziggys Amerika-Trip, andererseits ein Hinweis auf Bowies Bruder Terry, bei dem die Ärzte kurz zuvor Schizophrenie diagnostiziert haben.
André Boße
Alice Cooper
Mit dem Eigenleben, das Alice Cooper angeblich führt, hat der als Vincent Furnier geborene Schockrocker viel Spaß. Schon 1971 suggeriert er in “Be My Lover”: Wer die Frage nach dem Frauennamen stellen müsse, würde die Antwort nicht verstehen. Die Legenden, die sich um die dämonische Bühnenfigur ranken – die ersten sechs Jahre ihrer Karriere war Alice Cooper der Name der Band – sind deswegen größtenteils selbst erfunden. Ein Stück Showmanship aus der Geisterbahn. Selbiges gilt für das Make-up, das Cooper in seiner Autobiografie “Golf Monster” so beschreibt: “Ich nehme erst Foundation, dann Theaterschminke, und dann male ich Alices Waschbärenaugen mit einem Pinsel auf. Anschließend wähle ich, ob ich lieber die spitzen Linien ziehen möchte, die zwei Clownslinien (wenn ich mich böse fühle) oder die Spinnenaugen à la Bette Davis. Das variiert je nach Tageslaune. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was letztlich den Ausschlag gibt; es wird einfach das, was meine Hand am jeweiligen Abend will.”
Markus Hockenbrink
Misfits
Benannt nach dem Hollywood-Klassiker mit Marilyn Monroe, sind die Misfits aus New Jersey zur Zeit ihrer Gründung 1977 eine klassische Punkband, geeint in der Vorliebe für Horror-B-Movies aus den 50ern und 60ern. Es dauert eine Zeit, dann findet die Aura dieser Gruselschinken auch Einzug in ihren Sound und den Look. Melodischen Punk unterfüttern sie mit psychotischen Riffs, in Sachen Outfit bedienen sie sich bei Lugosi, Lee & Co. Glenn Danzig spielt im Skelett-Anzug, Jerry Only schminkt sich das Gesicht bleich, die Augenhöhlen tiefschwarz und dreht sich ein überlanges Horn aus Haaren an die Stirn. Danzig und Onlys Bruder Doyle ziehen schließlich nach. Die Frisur geht als “Devilock” in die Geschichte ein, laut Only ein Zitat an die Tidal-Wave-Frisur der ersten Skateboarder, für Danzig eine Fortführung der Optik des kleinen Eddie aus der Serie The Munsters. Zeitlosen Ruhm erringt jedenfalls der Totenkopf, der das Cover der 1979er Single “Horror Business” ziert und zu einem der beliebtesten Bandshirt-Motive überhaupt wird.
Ingo Scheel
The Residents
Die ersten Tonaufnahmen des berühmtesten anonymen Avantgarde-Kollektivs finden bereits 1965 statt, doch erst 1974 treten The Residents mit dem Album M”eet The Residents” an die Öffentlichkeit. Die Band tritt ausschließlich mit Masken auf, gibt bis auf wenige Mitmusiker wie Gitarrist Snakefinger keinerlei Namen oder Funktionen preis und verteidigt so konsequent ihren Anspruch, als Personen komplett hinter dem Werk zurückzutreten. Mit der Zeit ranken sich verrückteste Gerüchte um ihre Identität, allen voran jenes, bei der Band handele es sich um die Beatles in Verkleidung. Dubios erscheint vor allem, dass die Residents ab 1976 von einem vierköpfigen Team aus Label-Mitarbeitern der “Cryptic Corporation” vertreten werden. In ihrer berühmtesten Verkleidung, den Eyeball Helmets in Kombination mit Zylinder, Frack und angeklebtem Schwanz erscheinen die Residents dann 1979 zum Album “Eskimo”. 2017, ein Jahr vor seinem Tod, gibt sich der Cryptic-Corp-Mitarbeiter Hardy Fox als einer der beiden Bandgründer zu erkennen – als bis heute einziger.
Carsten Sandkämper
King Diamond
Ein einziges Mal ist King Diamond bislang ohne sein markantes Make-up aufgetreten: 2015 hatten ihm Ärzte vor einer Show in Milwaukee die Schminke verboten, weil er unter einer akuten Augeninfektion litt. Ansonsten verändert er schon bei seinem ersten Konzert mit seiner ersten Band Brainstorm wie sein Idol Alice Cooper sein Aussehen mit Gesichtsfarbe. Im Gegensatz zu Cooper sieht sich King Diamond aber nie als reine Bühnenpersönlichkeit, dafür ist ihm das okkulte Element seiner Musik viel zu ernst. Nicht umsonst ist die Form seiner schwarz-weißen Gesichtsmaske an Fledermausflügel angelehnt; eine frühe Variante enthält zusätzlich sogar ein Petruskreuz auf der Stirn. Mit seiner Band Mercyful Fate prägt er nicht nur Metallica, sondern den gesamten heutigen Black Metal, der sich für sein Corpse Paint auch auf King Diamond beruft. Allerdings praktiziert dieser stets einen positiven, toleranten Satanismus: 1987 nimmt King Diamond für seine gerade richtig in Schwung kommende Solokarriere die christlichen Metaller Trouble mit auf Tour.
Toby Schaper
Immortal
Wer will, kann die Wurzeln des Corpse Paint bis zu Künstlern wie Arthur Brown, Alice Cooper, Kiss und den Misfits zurückverfolgen, und King Diamond verwendete die schwarz-weiße Gesichtsbemalung schon in den späten 70ern. Aber erst mit den norwegischen Bands der zweiten Black-Metal-Welle gelangt die Leichenblässe als Stilmittel zu ihrer vollen visuellen Wucht, weil die in ihrem Todeswahn das Ganze mit ernsthafter Bedrohlichkeit füllen. Mayhem und besonders ihr todesverrückter Sänger Dead gelten als Vorreiter. Dead will angeblich wirklich eine Leiche verkörpern und vergräbt ergänzend auch schon mal seine Kleidung tagelang im Wald. Zu den Mayhem-Epigonen, die Corpse Paint an die Grenze der Coolness – oder, je nach Standpunkt, auch weit darüber hinaus – geführt haben, gehören Immortal: Bei ihnen wächst sich das Make-up mit der typischen Ausrüstung des klassischen Fantasy-Metal zur untoten Kriegsbemalung aus. Gerade im Black Metal geht seitdem nicht viel ohne Corpse Paint.
Dennis Drögemüller
Gwar
Die martialischen Kostüme und Masken von Gwar sind sowohl Bühnenoutfit als auch integraler Teil der Band-Mythologie, einer SciFi-Dystopie, laut der die Musiker als interplanetarische Krieger umherziehen. Hergestellt aus Latex, Schaumstoff und Weichgummi, entsteht optisch ein Mix aus “Mad Max”, Gladiatorenkampf und satanistischer “Muppet Show”. Die Köpfe dahinter – ihr Sound ist ein simplifizierter Mix aus Hardrock, Punk und Metal – nennen sich Flattus Maximus, Nippleus Erectus oder Beefcake The Mighty. Während das Publikum bei ihren Shows aus Kanonen mit Kunstblut und riesigen Plastikpenissen mit Fake-Sperma beschossen und durchnässt wird, geht es auch Pappfiguren von Politikern – etwa George Bush – an den Kragen. Immer wieder gibt es Kontroversen um die expliziten Gewalt- und Sex-Darstellungen der US-Band. Die finnischen Lordi zeigen, wieviel kommerzielles Potential in diesem Konzept steckt, und siegen in von Gwar inspirierten Kostümen beim Eurovision Song Contest 2006.
Ingo Scheel
MF Doom
23. April 1993: Daniel Dumile steht kurz vor der Fertigstellung des zweiten Albums seiner Rap-Band KMD, zu der auch sein Bruder DJ Subroc gehört. Doch der stirbt in derselben Nacht beim Versuch, den Long Island Expressway zu überqueren. Ein Tiefschlag, auf den der nächste folgt: KMDs Label lehnt die Platte wegen ihres vermeintlich rassistischen Covers ab und setzt die Band vor die Tür. Dumile ist orientierungslos und verbittert, verkriecht sich in Atlanta, ehe er 1997 bei Open-Mic-Sessions auf die Bühne zurückkehrt. Dabei vermummt er sich mit einem Damenstrumpf, den er kurz darauf gegen eine silberne Darth-Maul-Maske tauscht. Der befreundete Graffiti-Künstler Keo findet schließlich jenen Gladiator-Helm, den er bis heute trägt. Dahinter versteckt, wird aus ihm MF Doom, der Superschurke des Rap, der wie sein Comic-Vorbild Dr. Doom auf Rache aus ist – an der Musikindustrie, die ihn “so schwer deformiert” hat. MF Dooms Protest geht soweit, dass er sich bei Konzerten oft von Statisten vertreten lässt.
Florian Schneider
Buckethead
Kinobesuch mit Folgen: Mit 19 sieht der Gitarrist Brian Carroll den Horrorfilm Halloween 4 und steuert danach den nächstbesten Comicladen an, um sich eine Maske nach Vorbild der mörderischen Hauptfigur Michael Myers zu kaufen. Als er am Abend mit einem Eimer Chicken Wings zuhause auf der Couch sitzt, kommt ihm eine Idee. „Ich setzte die Maske und den Eimer auf“, erinnert er sich, „ging zum Spiegel und sagte: ,Buckethead. Das ist Buckethead.‘ Seitdem wollte ich immer dieses Ding sein.“ Bis heute ist der Virtuose seinem Psycho-Look treu, entgegen aller Widerstände: Nach einem Fast-Engagement bei den Red Hot Chili Peppers und einem vorübergehenden Job als Slash-Ersatz bei Guns N’ Roses wäre er beinahe in Ozzy Osbournes Band gelandet, doch auch der konnte sich nicht mit der Maskerade arrangieren. Dass die mehr verbirgt, als man vielleicht ahnt, deutet Carroll 2017 in einem Interview an, in dem er über den traumatisierenden Tod seiner Eltern, Angstzustände und seine chronische Herzkrankheit spricht.
Dennis Plauk
Marilyn Manson
Mit seiner Inszenierung zwischen Schmuddel-Gothic und Prothesen-Horror und den passend gegen die gesellschaftlichen Eliten schießenden Industrial-Metal+Songs hat sich Brian Hugh Warner als Marilyn Manson Mitte der 90er zu Amerikas Nemesis emporgeketzt. Der nach Schönheitsikone Marilyn Monroe und Sekten-Widerling Charles Manson benannte Musiker verkörpert die hässliche, schmierige, erbarmungslose Rückseite des Amerikanischen Traums. Diese Hülle lässt er 1998 mit seinem dritten Album “Mechanical Animals” zurück – und ersteht aus ihr als eine Art Glam-Rock-Phoenix seiner selbst wieder auf. Auf dem Albumcover gibt sich Manson als puppenhaft androgyner Wiedergänger von Bowies Aladdin Sane; in seinem kokainweißen Make-up, den synthetisch roten Haaren und dem aufgeschminkten Blau der digitalen Leere spiegelt sich eine kapitalistische Überflussgesellschaft, in der oberflächlicher Konsum regiert. Seitdem stagniert Mansons Maskerade zwischen Vampir, SS-Mütze und Horror-Mickey-Mouse größtenteils.
Dennis Drögemüller
Rob Zombie
Als kleiner Junge, sagt Rob Zombie, hätte er immer Alice Cooper, Steven Spielberg, Bela Lugosi und Stan Lee in einem sein wollen. Inzwischen ist der als Robert Bartleh Cummings geborene Sänger dem Ziel ein großes Stück nähergekommen. Seit 1996 lautet sein Nachname ganz offiziell Zombie, bis heute hat er rund 15 Millionen Platten verkauft, Dutzende Comics veröffentlicht und acht teils sehr groteske Horrorfilme gedreht. Der neunte heißt “3 From Hell”, steht für Ende des Jahres an und ist eine weitere Fortsetzung von “Haus der 1.000 Leichen”, einem echten cineastischen Ekelpaket. Das Make-up des mörderischen Horrorclowns Captain Spalding konnte man damals ganz offiziell käuflich erwerben, was Zombies eigene filmreife Gesichtsbemalung angeht, assistieren auf Youtube mittlerweile etliche Tutorials. Die Liebe zwischen dem Metal-Sänger und der Horrorgemeinde ist wechselseitig: Während sich Rob Zombie an Halloween gerne als Dracula verkleidet, verkleiden sich seine Fans gerne als Rob Zombie.
Markus Hockenbrink
Daft Punk
Anonymität ist im Techno und House konzeptionell tief verwurzelt. Das geht zurück bis Kraftwerk, und es führt Anfang der 90er dazu, dass Künstler unter zahlreichen Aliasen veröffentlichen. Thomas Bangalter und Guy-Manuel de Homem-Christo machen aus ihren Namen kein Geheimnis, wohl aber aus ihren Gesichtern. Zunächst verstecken sie die hinter Halloween-Masken, worauf auch das Video zu “Da Funk” anspielt. Erst zum zweiten Album “Discovery” (2001) werden Daft Punk zu Robotern. Die passende Legende liefern sie gleich mit: “Es gab einen Unfall im Studio. Wir arbeiteten an unserem Sampler, als der exakt um 9:09 Uhr am 9. September 1999 explodierte”, so Bangalter. “Als wir wieder das Bewusstsein erlangten, waren wir Roboter.” Hergestellt wird ihre Maskerade von der Special-Effects-Firma Ironhead Studios (“Thor”, “Planet der Affen”). Zu jedem neuen Album lassen Daft Punk ihre Masken leicht modifizieren, während ihre Musik gleichzeitig “menschlicher” wird. Vorläufiger Höhepunkt ist 2013 das von einer Band eingespielte “Random Access Memories”.
Florian Schneider
Turbonegro
In “Turbonegro – The Movie” gibt es ein Interview, in dem die Band gefragt wird, warum sie ausgerechnet den Denim-Homo-Stil forciert. Die Jugendlichen von heute würden sich nicht mehr provozieren lassen, antwortet die Band; das Einzige, wovor Rocker wirklich Angst hätten, seien homosexuelle Männer, die laute Musik spielen. So kam es, dass sich fünf Punks aus Oslo in dunkles Denim warfen, tuntiges Make-up auflegten und allerhand Matrosen- bis Stricherjungen-Klischees erfüllten. Quasi die Village People Of Death. Beliebte Accessoires sind Handstock, Armbrust, Sonnenbrille, Schäferhund, Stahlhelm und hier und da ein wenig Leder. Die Augenverzierung hat sich Sänger Hank van Helvete natürlich von Alice Cooper abgeguckt – und Euroboy und Happy Tom hätten auch 1973 Teil der New York Dolls sein können. So verstörend wie befreiend ermöglichte dieser Stil dem Fankult um die Band, dass Turbojugendliche auch mal aus ihrer Rolle als heteronorme Langweiler fallen konnten, ohne sich deshalb gleich Sprüche anhören zu müssen.
Jan Schwarzkamp
The Locust
Wer sich als Band nach einer biblischen Plage benennt und dabei klingt wie ein alles zerfressender Heuschreckenschwarm darf konsequenterweise auch so aussehen. Hinter The Locust verbirgt sich das 1994 gegründete Grindcore-Projekt von Sänger und Bassist Justin Pearson, heute auch Mitglied bei Dead Cross und Head Wound City. Angefangen haben The Locust als kompromisslose Power-Violence-Band in der Hardcore-Szene von San Diego. Die anfangs dunkelgrün-schwarze Jeansshirt-Sturmmasken-Kombo, die mit den großen, von Netzen überspannten Aussparungen im Gesicht an die Facettenaugen der Wanderheuschrecke erinnern soll, tragen sie aber erst nach Veröffentlichung des Debüts 1998 als Trotzreaktion auf Musikjournalisten, die sich unnötig an den Äußerlichkeiten des Quartetts abarbeiten. So erklärt es Pearson in Interviews. The Locusts übertrieben exzentrisches Auftreten passt aber auch hervorragend zum experimentelleren Sound der Weirdo-Band, die New-Wave-Klangflächen mit Grindcore kreuzt und Synthesizern verstörendsten Lärm entlockt.
Gerrit Köppl
Wes Borland
Im Kindesalter sieht Wesley Louden Borland im Fernsehen ein Special zu Kiss. Zum Fan der Musik macht ihn das nicht, seinen Stil beeinflussen eher Prong, Mr. Bungle und The Jesus Lizard. Trotzdem hält er die kostümierte und geschminkte Hardrock-Band damals für “Gitarre spielende Superhelden”. Als Limp Bizkit Ende der 90er erste Erfolge feiern und eine Crew ihnen die körperliche Arbeit auf Tour abnimmt, hat der Gitarrist mit der ADHS-Diagnose plötzlich viel Freizeit und entsprechend Langeweile: “Ich sagte zu mir: ‘Du bist ein bildender Künstler. Du weißt, wie man modelliert, du kannst nähen und malen. Nutze das.’ Mein Schaffensdrang war so enorm, mein Körper wurde zum Medium, mit dem ich arbeitete.” Borland, der auch fast alle Cover-Artworks seiner Bands kreiert, experimentiert mit Make-up, Perücken, Kostümen, Körperfarbe und schwarzen Kontaktlinsen. Fortan begleitet ihn auf Konzertreisen ein zum Theaterfundus umfunktioniertes Riesen-Roadcase, dessen Inhalt er jede Nacht anders kombiniert.
Martin Burger
Slipknot
Individualität in Uniformität: Slipknot setzen mit ihrem rasend-brutalen Nu Metal 1999 nicht nur akustisch ein Zeichen gegen die erdrückende Gleichförmigkeit der ländlichen USA. Sie unterstreichen ihre Aussage auch optisch: Alle neun Persönlichkeiten verschwinden hinter Masken, Overalls und Nummern, die im kapitalistischen Strichcode als Stangenware Mensch zusammenfinden. Zugleich inszenieren sie ihr Aufbegehren gegen solche Entmenschlichung, indem jeder mit seiner Maske einen eigenen Gruselcharakter zur Schau trägt, für den die Band die komplette Palette der Horrorkunst plündert, von Freitag, der 13. über “Eraserhead” und “A Nightmare On Elm Street” bis zu Stephen Kings “Es”. Wer die philosophische Dimension nicht sieht, bekommt zumindest zirkusreifes Metal-Varieté geboten; heute ist die Vorstellung der Masken-Redesigns wesentlicher Programmpunkt rund um jedes neue Album – während andere Horrormaskierte des Nu Metal, darunter etwa Mushroomhead und Mudvayne, in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sind.
Dennis Drögemüller
Pussy Riot
Im Februar 2012 rennt eine Gruppe junger Frauen in bunten Leggings, Kleidern und Sturmhauben in die orthodoxe Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Sie haben E-Gitarren und Mikros dabei, tanzen Pogo und machen religiöse Gesten, während Geistliche und Sicherheitspersonal versuchen, sie rauszuschmeißen. Die Bilder gehen um die Welt: Das russische Punkrock-Kollektiv Pussy Riot besteht aus einem Dutzend zunächst anonymer Frauen, die mit Performancekunst und Musikvideos für Feminismus und gegen Autoritäten – allen voran Präsident Wladimir Putin – agieren. Die Riot-Outfits werden ihr Markenzeichen, doch als kurz darauf drei der Frauen verhaftet und verurteilt werden, bekommt die Gruppe Gesichter. Seit ihrer Freilassung 2013 veröffentlichen sie regelmäßig bissige Songs mit provokanten Videos, als Band treten sie selten auf. Statt auf Punkrock setzen sie mittlerweile auf einen massentauglichen Sound – und das klappt: Clips wie “Make America Great Again” haben inzwischen mehrere Millionen Klicks erhalten.
Gerrit Köppl
Gorillaz
Schuld ist MTV. “Wenn du das zu lange schaust, ist es die Hölle”, sagt Jamie Hewlett. “Es gibt dort nichts Substanzielles zu sehen. Daraus ist die Idee einer virtuellen Band entstanden.” Weiter sagt er: “Wenn man sich schon die Mühe macht, jemand zu sein, der man nicht ist – und nichts anderes macht ein Rockstar –, warum sollte man sich nicht gleich jemanden ausdenken, der die ganze Arbeit für einen erledigt?” Der TV-Sender der Postmoderne ist also für eine Band verantwortlich, die sein Konzept auf die Spitze treibt. Die Gorillaz verleiben sich alles ein, von HipHop über 60s-Horror, Pop und Animes bis Electronica. Neben den bislang sechs Alben entwickeln eine Biografie, eine Doku, eine Oper sowie zig Spuren im Netz die Optik und Charaktere von Noodle, 2-D, Murdoc und Russel Hobbs weiter. Das Versteckspiel, das Hewlett und Damon Albarn, die Köpfe hinter den Gorillaz, anfänglich treiben und deshalb ihre ersten Konzerte hinter einer Leinwand absolvieren, geben sie schnell auf – die Figuren ihrer virtuellen Band sind längst wirkmächtiger.
Florian Schneider
The Sound Of Animals Fighting
Nachtigall, Luchs, Walross, Stinktier – das Kernquartett hinter dem kooperationsfreudigen Prog-Post-Hardcore von The Sound Of Animals Fighting besteht bei Öffentlichkeitsarbeit weiterhin auf Aliassen, auch wenn die bürgerlichen Namen längst bekannt sind. Eine Stimme wie die von Anthony Green (Circa Survive, Saosin) ist eben unverkennbar, zeitweise meinen er und seine Freunde von der Ska-Band Rx Bandits es aber ernst, wenn sie sagen, dass man ihre Personen unbedingt von der Musik trennen muss: Chefkoordinator Rich “Nachtigall” Balling, ein Englischlehrer, benutzt die Maskerade des ehemaligen Studioprojekts auch, damit ihn seine Schüler nicht erkennen. Erst als The Sound Of Animals Fighting 2013 ihre erste richtige US-Tour ankündigen, fühlt er sich wohl genug mit seinen kreativen Leistungen, um seine Identität preiszugeben. Bei ihren seltenen Auftritten verzichtet die Band ohnehin auf Vermummung. Dann übernehmen Tanztheater und Leinwandprojektionen die visuelle Hauptrolle.
Martin Burger
Jonathan Hultén
Für seine Hauptband Tribulation greift Jonathan Hultén zwar auch tief in den Schminktopf, eine vollständige Verwandlung seines Äußeren vollzieht er aber erst solo. Hultén studierte Japanisch und führt Kunst, Folklore und kulturelle Phänomene des Inselstaats in Fernost als große Inspiration ins Feld. 2018 tourt er im Vorprogramm von Crippled Black Phoenix durch Europa, wobei er jeden Abend sein Haar nach hinten kämmt und per Kopfschmuck fixiert. Gesichtsbemalung und eine weite Robe geben ihm zusätzlich das Aussehen eines japanischen Bühnencharakters, während im Hintergrund tatsächlich Kabuki-Masken hängen, deren unterschiedliche Bemalungen auf Helden, Götter und Dämonen schließen lassen. Den Singer/Songwriter-Folk auf seiner EP “The Dark Night Of The Soul” will der Schwede dann auch als “transformativ” verstanden wissen. Maskierung und Kostümierung sieht er als “körperliche Erforschung meines inneren Selbst. Das Interessante daran ist die Veränderung; die Möglichkeit, etwas anderes zu werden.”
Martin Burger
Goat
Wenn man es genau nimmt, ist das kulturelle Aneignung: Sieben vermutlich weiße Schweden reißen sich traditionelle Muster, Masken und Kopfschmuck unter den Nagel, der teilweise offensichtlich afrikanischer Herkunft ist. So wie die mal psychedelische, mal krautrockige, mal soulige, mal polyphone Weltmusik von Goat, die ein Pastiche aus südamerikanischen, nahöstlichen und eben vor allem afrikanischen Einflüssen ist. Aber: Die Maskierung von Goat sei der Band nachgesehen. Denn als sie 2012 auf die Bildfläche tritt, tut sie das mit einer Background-Fabel, die sie als Voodoo-Kommune aus Korpilombolo ausgibt – mit diversen Inkarnationen über die vergangenen 30, 40 Jahre. So wenig das alles stimmt, so sehr hat die Band ihren Masken ihren Mystizismus zu verdanken. Bisher scheint nicht mal das Internet zu wissen, wer genau hinter dem Kollektiv steckt. Anonymität in Zeiten von allgegenwärtigen Handykameras grenzt an Zauberei. Aber damit sollen sich Voodoo-Praktiker ja auskennen.
Jan Schwarzkamp
Ghost
Was sich genau hinter seiner Maske abspielt, ist für Tobias Forge ein Showgeheimnis. “Ich wollte, dass es für die Menschen die gleiche Erfahrung ist, wie die, als ich damals mit meiner Mutter nach London gefahren bin, um Musicals wie ‘Cats’ oder ‘Das Phantom der Oper’ zu sehen”, sagt er. Die Anonymität lernt der Sänger bereits Ende der 90er als Mitglied der Band Onkel Kånkel schätzen und kombiniert sie dann für sein Projekt Ghost erfolgreich mit dem Metal-typischen Mummenschanz. Die Kunstfigur des Papa Emeritus lässt sich dreimal als diabolischer Anti-Papst im King-Diamond-Look reinkarnieren, flankiert von “Nameless Ghouls” hinter venezianisch anmutenden Masken. Als die Namenlosen wegen angeblich ausstehender Tantiemenzahlungen gegen Forge vor Gericht ziehen, zeigt der Sänger sein wahres Gesicht öffentlich – um es gleich wieder zu verbergen: Seit 2017 ist der lustbetonte Cardinal Copia neuer Frontmann bei Ghost und trägt seine Musical-Ambitionen bis ins Vorprogramm von Metallica und Iron Maiden.
Markus Hockenbrink